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Gesundheit Von der Autobahn direkt zum Arzt

Gesundheits-Check Foto: Andreas Keudel

Mit der medizinischen Versorgung von Fahrern ist es nicht zum Besten bestellt. Ein Kongress hat Vorschläge erarbeitet, wie sich das Problem an Transitstrecken lösen lässt.

Diese Zahl ist geradezu prädestiniert, Begehrlichkeiten zu wecken.  Etwa neun Milliarden Euro zahlen die rund 1,6 Millionen sozialversicherten Fahrer der deutschen Logistik- und Transportbranche pro Jahr als Beiträge an ihre Krankenkassen. Das hat Professor Albrecht Goeschel, Experte für Gesundheitsversorgung und Sozialsicherung am Institut für Sozialforschung in Verona, 
errechnet.

Lkw-Fahrer können nicht auf die Gesundheitsleistungen zurückgreifen

Doch die meisten Lkw-Fahrer könnten beim Ausüben ihrer Tätigkeit gar nicht auf die Gesundheitsleistungen zurückgreifen, kritisiert er: "Die ärztliche Bedarfsplanung orientiert sich in Deutschland ausschließlich an der ortsansässigen Bevölkerung", sagt Goeschel. "Lkw-Fahrer, die ja die meiste Zeit unterwegs sind, werden dabei nicht berücksichtigt. Sie brauchen deshalb eine eigene Infrastruktur für die ärztliche Versorgung", fordert er.

Das Beispiel Hessen zeigt ein zentrales Problem auf: Die meisten Hausärzte haben ihre Praxen meilenweit von den Autobahnen entfernt, wie Goeschel veranschaulicht. Er fordert, dass mit dem Ausbau der Transeuropäischen Netze (TEN) in einem sozialen Europa an den wichtigsten Transitautobahnen autonome Gesundheitszentren für Kraftfahrer entstehen sollen − wie in Italien. Am Brenner planen die Regierung der autonomen Provinz Bozen, die Brennerautobahn und die Akademie und Institut für Sozialforschung Verona ein erstes Zentrum dieser Art.

Als ersten deutschen Pilotstandort haben Goeschel und der lokale Initiator des Kongresses, Verdi-Fachsekretär Manuel Sauer, den Autohof Lohfeldener Rüssel auserkoren. An der A 7 gelegen, passieren täglich bis zu 23.000 Lkw den mitten in Deutschland angesiedelten Rasthof. Dazu liegt dieser in der boomenden Logistikregion Nordhessen mit Volkswagen in Baunatal als Motor und rund 10.000 angemeldeten Lastzügen.

Fahrer arbeiten 56 Wochenstunden

Die physische und psychische Belastung der Zielgruppe Fahrer ist hoch. Dies unterstreichen diverse Referenten, so auch 
Dr. Jochen Baier, Logistikprofessor der Fachhochschule Furtwangen. Er berichtet von seiner Umfrage unter 1.100 Lkw-Fahrern. Das Ergebnis: Im Mittelwert arbeiten Fahrer 56 Wochenstunden. Die Zahl gewinnt an Brisanz durch eine Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin von 2012, wonach bei langfristiger Mehrarbeit über 40 Wochenstunden gesundheitliche Probleme wie Schlafstörungen, Herzbeschwerden, Rückenschmerzen und Magenbeschwerden zunehmen.

Bei den Ausfallzeiten liegen Fahrer in nahezu allen Kategorien der Statistiken der deutschen Krankenkassen an der Spitze, wie Lydia Siepmann,  Marktforscherin des Bundesamts für Güterverkehr (BAG), aufzeigte. Beschäftigte im Verkehrsgewerbe waren 2010 durchschnittlich an 18,9 Tagen krankgeschrieben. Die durchschnittliche Fehlzeit aller Branchen liege dagegen bei 14,8 Tagen im Jahr.

Für Frank Szadzik von der DAK-Gesundheit zeigen die klassischen, überwiegend ortsgebundenen Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung bei Lkw-Fahrern bislang wenig Erfolg. Dies liege vor allem an der schlechten Erreichbarkeit und der mangelnden Bereitschaft der Zielgruppe selbst. Und dies, obwohl der Bedarf da ist. Die Fälle von Schlafapnoe bei Männern, die zu Tagesschläfrigkeit und bei Lkw-Fahrern zur erhöhten Unfallgefahr führen kann, nehmen laut dem Krankenhausexperten Marcus Bollmann (Team-Transfer-
Institut, München) zu.

Die Berufsidentität speist sich daraus, zuverlässig, leistungsfähig und belastbar zu sein

Am Ende des Tages bringt es Dr. Michael Knoll von der TU Chemnitz auf den Punkt: Die Berufsidentität von Lkw-Fahrern speist sich daraus, zuverlässig, leistungsfähig und belastbar zu sein. Diese oft falsch verstandene Männlichkeit führe dazu, dass Fahrer lieber krank auf Tour als zum Arzt gehen. Manche Arbeitgeber aus der Logistikkette nutzten dies schlicht aus. Das führe mitunter zu gefährlicher Selbstmedikation unterwegs und ende immer öfter damit, dass Fahrer die Notrufhotline der Initiative Doc Stop anrufen.
Vertreter des Vereins waren zur Tagung nicht geladen, auf Rückfrage verrät Doc Stop, dass seit Mitte 2012 monatlich 150 bis 180 Bus- und Berufskraftfahrer über die ADAC-Hotline die angeschlossenen medizinischen Einrichtungen nutzen. Die meisten kamen wegen Zahn- oder Rückenschmerzen und Magenproblemen.

Die Idee, im Autohof
Lohfeldener Rüssel ein Gesundheitszentrum einzurichten, gestaltet sich erstaunlich konkret. Direkt nach dem Kongress hat sich unter Federführung von Prof. Goeschel der Verein Zentrum für Kraftfahrer-Gesundheit Kassel (ZKK) gegründet. Dieser soll den Aufbau der Einrichtung vorbereiten und Gespräche mit der Kassenärztlichen Vereinigung führen. Das Ziel: Wie kann das geplante Zentrum in die laufende Neuplanung der Hausarztversorgung eingebunden werden? Gründungsmitglieder sind führende Vertreter der Logistikbranche im Raum Kassel, Gesundheitsplaner,  Mediziner und Berufskraftfahrer.

Zum Betrieb eines Gesundheitszentrum an der Autobahn seien sechs Fachärzte nötig

Der Autohofbetreiber will dafür 600 Quadratmeter aktuell ungenutzte Räumlichkeiten zur Verfügung stellen, erklärt der Kasseler Spediteur Eugen Jung. Albrecht Goeschel rechnet mit Kosten von ein bis zwei Millionen Euro für den Bau und die Ausstattung inklusive eines Schlaflabors, an denen sich auch die Krankenhausbetreiber beteiligen könnten. "Der Betrieb selbst könnte über die Krankenkassen aus dem Topf der neun Milliarden Euro finanziert werden." Doch vor allem die ärztlichen Vertreter zweier Kasseler Kliniken halten das ambitionierte Vorhaben rein aus der Klientel der Lkw-Fahrer für kaum finanzierbar. Denn zum Betrieb eines lange geöffneten Gesundheitszentrums an der Autobahn seien sechs Fachärzte nötig.

Werden die Lkw-Fahrer das Angebot überhaupt nutzen? Auch die Arbeitgeber müssten mitziehen und Touren so einteilen, dass Fahrer in ihrer Lenkzeitpause zum ärztlichen Check gehen könnten.

Denkbar wäre wohl in einem ersten Schritt eine kleine Lösung mit einer Facharztpraxis, die auch die Kasseler Bürger nutzen. Spediteur Jung zeigt sich optimistisch: "Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir dies hinbekommen. Viele Ampeln stehen auf Grün." Am eigentlichen Bedarf dürfte es hingegen nicht scheitern.

Anreize setzen

Diebel aus Kassel ist eine der wenigen Speditionen in Nordhessen, die sich konsequent um die Gesundheit ihrer rund 400 Fahrer an den beiden Standorten Kassel und Damme kümmert. Im Zuge der arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung (G 25) schickt Personalleiterin Andrea Reichl jeden neuen Fahrer zur Erstuntersuchung zum Betriebsarzt. Bei der alle fünf Jahre fälligen ärztlichen Untersuchung zur Verlängerung des Lkw-Führerscheins weist sie gerade die älteren Mitarbeiter darauf hin, sich rechtzeitig um einen Termin zu kümmern. Denn falls der Betriebsarzt Anzeichen für eine Schlafapnoe entdeckt, wird eine Untersuchung im Schlaflabor vorgeschrieben. Aber auch in der Prophylaxe hat sich Diebel engagiert, etwa beim Betriebsfest 2010, das für die Fahrer zum freiwilligen Gesundheits-Check mit Ernährungsberatung, Fitnesskurs und Tipps zur Raucherentwöhnung umfunktioniert wurde.

Über Fördergelder des betrieblichen Gesundheitsmanagements der Krankenkassen konnte Reichl einen Vertrag mit einer nationalen Fitnessstudiokette abschließen. So können die Fahrer sogar in unmittelbarer Nähe der DPD-Depots − Diebel ist einer der größten Frachtführer für den DPD − kostenlos ins Sportstudio gehen. Doch nur
13 Fahrer machten davon Gebrauch. "Als Arbeitgeber haben wir Interesse daran, dass unsere Fahrer regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung gehen", sagt Reichl heute. "Aber wir wissen auch, dass wir schlicht und einfach Anreize setzen müssen, also beispielsweise für einen Check-up beim Arzt einen Tag Urlaub bereitstellen."

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