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Fahrer vor Gericht Reifen dient als Beweismittel

Foto: Autobahnkanzlei

Zur Gerichtsverhandlung kommt es im aktuellen Fall auf ein ganz besonderes Beweismittel an – einen kompletten Lkw-Reifen.

Mein Mitarbeiter Ralf Grunert und ich treffen uns mit Mandant Jürgen* am Autohof Hermsdorf-Ost. Jürgen will uns dort den Reifen geben, den die Polizei bemängelt hatte. Leider kann er nicht selbst am Gerichtstermin teilnehmen. Ich habe deswegen frühzeitig einen Antrag auf Befreiung von der Anwesenheitspflicht gestellt. Die Richterin beim Amtsgericht Dessau hat dem Antrag entsprochen, Jürgen muss nicht selbst zum Gerichtstermin kommen. Die Verteidigung habe ich übernommen. Bei Durchsicht der Akte fiel mir einiges auf, was nicht so recht zusammenpasste. Für die Verteidigung wollte ich unbedingt den Reifen dabeihaben, um ihn notfalls der Richterin im Gerichtssaal selbst präsentieren zu können.

Als Jürgen dann aber am Treffpunkt die Schiebetür vom Transporter öffnet, sehen wir das Unglück und Ralf Grunert trifft fast der Schlag: der Reifen mitsamt der Felge. Ich weiß nicht, was das Ding wiegt. Auf jeden Fall ist es ziemlich schwer.

Ein Brett als Brücke

Jürgen kommt dann auf die Idee, unseren Bus und seinen Transporter Heck an Heck zu stellen. Ein Brett hat er dabei, als Brücke zwischen den zwei Fahrzeugen. Er bekommt das Rad hochgestemmt, wir können es leicht rüber rollen und anschließend sichern. Spannend ist für mich natürlich die Profiltiefe. Jürgen wird vorgeworfen, dass die Profil- beziehungsweise Einschnitttiefe nicht den gesetzlichen Vorschriften entsprach. So zumindest steht es im Bußgeldbescheid. Aus der Akte ergibt sich etwas ganz anderes. Neben Rissen quer im Reifen soll außerdem ein Stück Gummi herausgebrochen sein. Davon steht im Bußgeldbescheid allerdings gar nichts. Der Bußgeldbescheid ist trotzdem meterlang. Er beinhaltet nämlich noch einige Verstöße nach Fahrpersonalrecht. Insgesamt soll ein Bußgeld von 150 Euro rauskommen.

Viel Geld, aber nicht das Drama. Was Jürgen belastet, ist der Punkt für den defekten Reifen. Wir sind reichlich früh beim Amtsgericht Dessau. Jetzt wird es spannend. Die Richterin ruft Jürgens Angelegenheit auf. Sie wundert sich, dass ich noch unsere neue Rechtsanwaltsfachangestellte Jennifer Weber aus Schwegenheim und Ralf Grunert mitgebracht habe. Ich erkläre der Richterin, dass ich jede Hand brauche, um das Beweismittel zur Gerichtsakte zu reichen. Sie lächelt etwas verschämt und erklärt, die Geschäftsstelle oben würde ohnehin aus allen Nähten platzen. Sie würde ahnen, worauf ich hinauswolle. Den Reifen müsste ich aber dann aus dem Gerichtssaal hoch schaffen. Ich stehe auf und gehe zu meinen zwei Mitarbeitern.

Polizeibeamten haben offensichtlichen Fehler gemacht

Die Richterin sagt: "Ganz langsam Herr Möller, lassen Sie uns erst einmal verhandeln, bevor Sie mit dem Riesending hier reinkommen!" Bingo – der Aufwand zeigt Wirkung. Die Richterin muss etwas lachen. Ich führe aus, dass die Profiltiefe des Reifens an den schlechtesten Stellen doppelt so groß ist wie die vom Gesetz vorgeschriebene Mindestprofiltiefe. Hier gebe es gar nichts zu bemängeln. "Doch", behauptet die Richterin, "ein herausgebrochenes Stück des Reifens und außerdem Risse." Nein, sage ich, das sei nicht Gegenstand des Bußgeldbescheides und über den würden wir schließlich hier verhandeln. Außerdem, sie möge doch bitte mal nachweisen, dass diese Mängel am Reifen waren, als Jürgen losgefahren ist. Das sei schlechterdings nicht möglich.

Wenn ich den Reifen reinholen würde, könnte sie sehen, dass es sich um ein frisches Aufbruchstück handelt. Außerdem seien auch die Risse frisch. Im Zweifel müsse eben ein Sachverständiger den Reifen analysieren. Aber hier liege sowieso Verjährung vor. Der Bußgeldbescheid könne nämlich die Verjährung lediglich für den Tatvorwurf unterbrechen, der im Bußgeldbescheid stehe. "Hier haben die Polizeibeamten offensichtlich einen Fehler gemacht", führe ich weiter aus. "Sie haben einfach nur die Bußgeldkatalognummer 212 wiederholt und in den Bußgeldbescheid gesetzt. Diese Nummer passt aber gar nicht. Sie beinhaltet nämlich nur die Profil- und Einschnitttiefe." Den an sich defekten Reifen würde dieser Bußgeldbescheid nicht vorwerfen. Der diesbezügliche Tatvorwurf sei mittlerweile verjährt.

Fehlende Dokumente waren nicht Jürgens Schuld

Die Richterin sagt, das müsse sie sorgfältig nachprüfen. Aber der zweite Vorwurf, der mit den fehlenden Dokumenten bezüglich der berücksichtigungsfreien Tage, der würde doch durchgreifen. Mitnichten, erkläre ich. Hier geht es darum, die Kontrolltätigkeit der Behörden dadurch zu schützen, dass die Benutzung der Fahrerkarte lückenlos darlegbar sei. Deswegen brauche man die Dokumente der berücksichtigungsfreien Tage. Zugegeben, diese Dokumente habe Jürgen nicht bei sich gehabt. Das sei aber nicht Jürgens Schuld gewesen. Der Unternehmer habe diese Dokumente nämlich in ein anderes Fahrzeug gelegt. Die Disponent und der Unternehmer hätten hier nicht richtig miteinander gesprochen, deswegen seien die Dokumente nicht im Fahrzeug gewesen. Das habe Jürgen auch gleich gerügt.

Der Disponent habe ihn jedoch gebeten loszufahren, weil Zeitdruck bestünde. Ich schaue die Richterin an und frage: Wollen Sie wirklich vom Fahrer erwarten, dass er sich der Weisung des Disponenten entgegengesetzt? Zudem hat der Disponent gesagt, wenn du die Unterlagen brauchst, dann faxen wir sie dir eben zu. Damit war Jürgen einverstanden. Die Polizeibeamten aber keinesfalls, sie wollten das nicht akzeptieren. Jürgen hat geredet und geredet, aber sie waren nicht bereit, die Dokumente als Fax entgegenzunehmen. Ich erkläre der Richterin, dass in beiden Tatvorwürfen, nämlich dem bezüglich der fehlenden Unterlagen und demjenigen bezüglich der gar nicht bestehenden fehlenden Profiltiefe, keine Ahndung angemessen sei. Hier solle eine Entscheidung ohne Bußgeld und vor allem ohne Punkte ergehen.

Verfahren wird eingestellt

Ich rege noch einmal an, den Reifen in den Gerichtssaal zu rollen, damit die Richterin sich ein Bild davon machen kann, dass der Tatvorwurf aus dem Bußgeldbescheid völlig gegenstandslos ist. Die Richterin schaut die Gerichtsschreiberin an und Ralf Grunert ist auf dem Sprung aufzustehen, um den Reifen zu holen. Die Richterin streckt die Hand aus und wiegelt ab: Nein, meint sie, die Argumentation hat schon was für sich. "Bevor wir in diesem Verfahren noch ein Sachverständigengutachten einholen und uns mit der Auslegung des Fahrpersonalrechts intensiv beschäftigen, stelle ich das Verfahren ein."

Hierbei spielt insbesondere die Punktefreiheit des Mandanten eine bedeutende Rolle. Dieser Fall, der am Ende punkte- und bußgeldfrei ausgeht, zeigt einmal wieder, wie wichtig es ist, den Null-Punkte-Status zu erhalten. Deswegen kann ich nur jeden auffordern, insbesondere gegen den ersten Punkt mit aller Kraft zu kämpfen!

Kleine Fälle

Verbotsirrtum reduziert das Maß der Vorwerfbarkeit

Hardi* ist sich ganz sicher, er hat das so in der Fahrschule gelernt. In seiner Firma wissen alle, dass er recht hat und sein Chef weiß es am allerbesten. In jede Richtung zwei Spuren plus Mittelleitplanke bedeutet 80 km/h zulässige Geschwindigkeit. Hardi bringt das total selbstbewusst rüber. Der Richter krault sich am Kopf, putzt seine Brille, holt Luft und legt los. Als Lkw-Fahrer, sagt er, sei Hardi ein Fachmann. Da müsse er auch wissen, wie schnell er wo fahren darf. Auf der Bundesstraße jedenfalls ohne Kraftfahrtstraßenschild immer nur 60 km/h! Hardi will das irgendwie nicht einsehen. Das wiederum kann Rechtsanwalt Peter Möller verstehen. Denn Hardi hat schon einige Punkte und da wird jeder weitere richtig gefährlich. Möller weist den Richter auf die weite Verbreitung dieses rechtlichen Irrtums hin. Der Verbotsirrtum reduziert das Maß der Vorwerfbarkeit. Das heißt, die Regelgeldbuße kommt hier nicht in Betracht. Sie muss reduziert werden, führt Möller weiter aus, und zwar dringend in den punktefreien Bereich. Das regte den Richter direkt mal zum Nachdenken an. Nach ein paar Minuten erklärt er, er habe sich entschieden, und verhängt ein punktefreies Verwarngeld – nicht ohne deutlich zu machen, dass er nicht wisse, wo das denn hinführen solle, aber in diesem Einzelfall sei das vertretbar.

AG Sömmerda Az.: 633 Js 201036/16 1 OWi

Sieben Prozent zu viel Gewicht

Waren es 170 oder 180 Schweine? Darum drehte sich ein Verfahren beim Amtsgericht Magdeburg. Jost* hatte beim Bauern Schweine aufgeladen. Er ist schon oft von der Polizei zur Waage begleitet worden und es gab noch nie ein Problem. Geladen hat er immer so rund 175 Schweine. Er meint, 180 dürfe er maximal. Der Polizist wiederum ist überzeugt, dass 180 zu viel sind. Bei 170 Schweinen verlaufe die Grenze. Ist ja auch egal, meint der Richter. Vielleicht waren sie dieses eine Mal einfach etwas fetter. Rechtsanwalt Möller greift das Thema gerne auf und erklärt, dass es dem Fahrer schlechterdings nicht zugemutet werden kann, jedes einzelne Schwein auf die Waage zu stellen. Eine Waage gibt es nur auf dem Bauernhof. Wenn jemand das Gewicht seiner Schweine kennen muss, dann der Bauer. Auf den war bis jetzt immer Verlass. Deswegen durfte sich Jost auch dieses Mal auf ihn verlassen. Dass es dann sieben Prozent zu viel Gewicht waren, ärgert ihn selber. Aber was hätte er tun sollen, führt Jost aus. Der Richter verkündet ein punktefreies Urteil. Die Urteilsverkündung endet mit den Worten "Da haben Sie noch einmal Schwein gehabt."

AG Magdeburg Az.: 30 OWi 737 Js 32895/16 (840/16)

Bußgeldsachen nach zwei Jahren verjährt

Korrespondenzanwalt Silvio Lange will es zuerst nicht glauben, als ihm Rechtsanwalt Möller von dem Fall erzählt, der in Perleberg verhandelt wird. Das Verfahren ist über zwei Jahre alt, unterliegt damit todsicher der Verjährung. Eine Ahndung kommt unter keinen Umständen mehr in Betracht. Verjährung ist ein Verfahrenshindernis. Das Verfahren ist durch Urteil oder Beschluss einzustellen. Eigentlich ist das sonnenklar. Nicht so für den Richter. Es bedarf einiger Überzeugungsarbeit und des Vorlesens des eindeutigen Gesetzestextes, um nach einer halben Stunde endlich die Einstellung wegen Vorliegens eines Verfahrenshindernisses aus dem Richtermund zu vernehmen. Nach zwei Jahren sind Bußgeldsachen eben grundsätzlich verjährt – ganz unabhängig von den kürzeren 3- und 6-Monats-Fristen, die natürlich auch zu beachten sind.

AG Perleberg Az.: 24 OWi 3106 Js-OWi 10949/15 (94/15)

Fernfahrertelefon

Rechtsanwältin Heike Herzog sitzt am Fernfahrertelefon und steht euch mit Rat und Tat zur Seite. Hier ein Auszug von individuellen Fragen der Lkw-Fahrer – und die Antworten der Juristin.

Frank*: Wieso muss ich den Nachweis über berücksichtigungsfreie Tage überhaupt haben und mitführen?

Heike Herzog: "Sinn und Zweck der Vorschrift des Paragrafen 20 der Fahrpersonalverordnung ist es, den Kontrollbehörden eine lückenlose Kontrolle für den aktuellen und die vorausgegangenen 28 Tage überhaupt erst zu ermöglichen. Fehlen die Nachweise oder manuellen Nachträge, wären Tür und Tor geöffnet für Spekulationen wie: Was hat der Fahrer gemacht, während seine Fahrerkarte nicht steckte? Genau das soll vermieden werden."

Frank: Reicht denn ein Fax des Arbeitgebers?

Heike Herzog: "Gemäß Paragraf 20 Absatz 2 Fahrpersonalverordnung darf die Bescheinigung nach Absatz 1 auch als Telefax oder digitalisierte Kopie zur Verfügung gestellt werden. In Deutschland besteht (abweichend vom Ausland) die Möglichkeit, den Fahrer auf elektronischem Wege entweder mit einer eingescannten oder per Fax übermittelten Bescheinigung, die vom Unternehmer unterzeichnet wurde, zu versorgen. Damit sie gültig ist, muss sie der Fahrer aber ausdrucken und auch noch unterschreiben. In rein elektronischer Form wird sie wohl nicht akzeptiert werden. In den Fällen, in denen eine solche Bescheinigung nicht ausgestellt werden konnte, hat der Unternehmer, der nicht zugleich Fahrer ist, auf Verlangen der zuständigen Kontrollbehörde nachträglich eine Bescheinigung auszustellen oder vorzulegen."

Frank: Und was passiert, wenn ich die Nachweise nicht dabeihabe?

Heike Herzog: "Pro 24-Stunden-Zeitraum kann eine Geldbuße für vorsätzliche Tatbegehung in Höhe von 250 Euro verhängt werden. Üblicherweise wird Fahrlässigkeit angenommen, was im Ergebnis die halbe Geldbuße, also 125 Euro, bedeutet. Aber wie der Fahrer vor Gericht in diesem Heft zeigt, kann man auch dagegen erfolgreich kämpfen."

*Alle Namen von der Redaktion geändert

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
FF 03 2017 Titel
FERNFAHRER 03 / 2017
6. Februar 2017
Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
FF 03 2017 Titel
FERNFAHRER 03 / 2017
6. Februar 2017
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