Eskalation in Calais Unwürdige Zustände

Lkw, Stau, England, Calais, Migranten Foto: Jan Bergrath

Die Flüchtlingsproblematik im Hafen von Calais eskaliert weiter. Vor allem die Briten verschärfen die Situation für die Lkw-Fahrer mit harten Strafen.

Als ich vor über 30 Jahren zum ersten Mal mit dem Lkw nach Irland fuhr, waren die Zeiten anders. Die Tour mit Sammelgut ging Dienstagabend bei Neuss los, es gab noch sogenannte T 1 - Zollformulare für die Grenzen zu den Niederlanden und Belgien. Und man durfte in jedes Land nur 200 Liter Diesel einführen. Damals gab es auch noch die Fährverbindung von Ostende nach Dover, der Hafen lag mitten im Zentrum, wenn ich dort gegen Mitternacht nach etwas über vier Stunden Fahrzeit ankam, war auch noch die eine oder andere Kneipe auf, bevor es auf die Fähre ging. Essen, Kabine, drei Stunden Schlaf, dann Dover – von dort knapp sieben Stunden bis Fishguard in Wales. Es war eine herrliche Zeit – Telematik, Smartphones, alles Fremdwörter, unvorstellbar heute im Rückblick.  Ich fand, wie viele Kollegen seinerzeit, auch den Zoll ziemlich klasse, war es doch die beste Möglichkeit, auf der Tour zur Ruhe zu kommen. Im irischen Rosslare dauerte diese Ruhepause auch schon mal anderthalb Tage, bis alles verzollt war. Direkt am Meer, eine Kneipe nur 138 Stufen über dem Strand auf einer Klippe gelegen, war mein Zufluchtsort, bis der Zollagent kam. Das ist aus und vorbei.

2007 bin ich noch einmal eine Woche mit dem Lkw der alten Spedition nach Irland gefahren. Ich wollte es einfach wissen. Die Fähren aus Belgien waren damals schon eingestellt, es ging über den französischen Hafen Calais, ein Flaschenhals über den Ärmelkanal, weit abgelegen vom Zentrum in einer Mischung aus Dünen- und Industrielandschaft. Der Unternehmer hatte mir damals schon eingebläut, beim Tanken in Belgien aufzupassen und darauf zu achten, niemanden mitzunehmen. Migranten hieß das Wort, das Sorge bereitete, Flüchtlinge, die aus den ärmsten Ländern der Welt in ein Camp bei Calais gefunden hatten, um schnell weiter nach England zu gelangen. Dort, das war damals schon so, gibt es keine Meldepflicht. Und in den großen Metropolen boomt der schwarze Arbeitsmarkt. 

Die alten Zeiten sind aus und vorbei

Ich hatte lange auf Ladung gewartet, war müde um Mitternacht, ich war auf eine Fähre um neun Uhr gebucht, hatte also noch etwas Luft. Schon damals hieß es, hinter Antwerpen, aus Neuss kommend, nicht mehr parken. Jedenfalls nicht auf der Autobahn. Ich fuhr irgendwo ab in die Walachei, okay, es war Flandern, und stellte mich in einem Dorf neben die Kirche. Ich habe dennoch kein Auge zugemacht und rettete mich nach ein paar Stunden Dösen dann ins Terminal von Calais. Ich fuhr durch die Zollkontrolle und eine Radaranlage. Und ich hatte, wenn ich es aus heutiger Sicht betrachte, wohl Glück gehabt.
 
Heute sind die Migranten bereits das Top-Thema in der Tagesschau, auf YouTube wimmelt es von Filmen, die das pure Elend zeigen. Menschen, meist schwarzer Hautfarbe, versuchen, in Auflieger zu klettern. Zum Teil während der Fahrt. Und das kurz vor dem Fährterminal. Die französische Polizei scheint den Massenexodus mehr zu koordinieren als zu verhindern. Es gibt Bilder, auf denen sie die Flüchtlinge einfach wegschicken. Und die, so scheint es, stellen sich gleich wieder hinten an, um auf ihre Chance zu warten, nach England zu kommen. Das will der Zoll der Briten um jeden Preis verhindern. Doch die Zeche zahlen auch die Spediteure und, noch schlimmer, die Fahrer. Für jeden Flüchtling, der von den britischen Behörden erwischt wird, sind 2.000 Pfund fällig. Ein britischer Trucker, so stand es in einer englischen Zeitung,hatte auf seinem Tiefbettauflieger einen mobilen Zementmischer geladen. Er bat die französische Polizei, einzugreifen. Die hat es offenbar verweigert. Nun muss der Kollege eine horrende Strafe zahlen, weil sich dort Migranten versteckt hatten. Er ging zur britischen Behörde. Und die schlugen sofort zu. Der unglaubliche Vorwurf: illegaler Menschenhandel. 

Aussichtslose Lage 

Es ist eine schier aussichtslose Lage. 3.000 Migranten sollen bereits jetzt in diesem illegalen Camp bei Calais hausen, man rechnet mit bis zu 5.000 in den nächsten Wochen. Das britische Innenministerium hat nun berichtet, dass allein im letzten Jahr 19.000 blinden Passagieren trotz aller Maßnahmen die Flucht auf die Insel gelungen ist. Man will nun nach bilateralen Verhandlungen den Zaun in Calais verstärken. Geschätzte Kosten: Sieben Millionen Pfund. Eine dauerhafte Lösung für die internationale Flüchtlingsproblematik gibt es derzeit nicht. Laut britischen Medienberichten soll allerdings das Asyslrecht geändert werden. Derzeit ist es so, dass Flüchtlinge, die einmal die Insel erreicht haben, nicht ausgewiesen werden können. Das soll nun offenbar geändert werden. Doch das dauert.

Die Fahrer müssen sich selber schützen

Also müssen sich die Fahrer vorerst selber schützen. So gut es geht. Ich bin zu KMS Transport in Bergheim bei Köln gefahren. Zwei Kollegen dort, Jörg und Bernd, fahren seit elf Jahren die Linie Ruhrgebiet-Mittelengland. Vor ihrer Reise auf die Insel haben wir uns geeinsam mit ihrem Chef, Klaus Heinen, einen der Filme angesehen. Dann haben sie mir erzählt, was sie schon vor Beginn der Fahrt alles unternehmen müssen, um sicherzustellen, dass keine blinden Passagiere an Bord gelangen. Kurz gesagt: jede Pinkelpause muss heute auf einem Dokument belegt sein, um überhaupt eine Chance zu haben, ein etwaiges Bußgeld abzuwehren. "Was auch immer passiert, es muss passieren, bevor die Fahrer den Bereich des britischen Zolls erreichen", so Heinen. Ich habe daraus eine Art Leitfaden geschrieben, wie man heute mit dem Lkw halbwegs sicher nach England kommt. Er steht im neuen FERNFAHRER, der am 10. August erscheint. An den unwürdigen Zuständen dort vor Ort wird auch er leider nichts ändern können
 
Was allerdings bei der Berichterstattung komplett untergeht ist das Chaos auf der anderen Seite des Ärmelkanals, wie mir Stefan Musik, Lkw-Fahrer von JMK Logsitik aus Schweinfurt, am Telelfon berichtet hat. Praktisch live aus dem Stau auf der M 20. "Die Lkw stauen sich dort mittlerweile auf über 20 Kilometer", so Musik, "die Fahrzeuge, die zum Tunnel wollen, werden zweispurig auf der einen Seite der A 20 aufgereiht, diejenigen, die nach Dover zu den Fähren müssen, gleich auf der Gegenspur." Eine sanitäre Versorgung besteht aus Dixi-Klos. Musik hat uns seine Fotos, die er aus dem Lkw gemacht hat, zur Verfügung gestellt. "Man muss mit 18 bis 20 Stunden Wartezeit rechnen, es ist einfach katastrophal." Er fährt seit 15 Jahren nur England und Schottland, spricht gut Englisch. "Im Radio hieß es, dass zum Teil bis zu 6.000 Lkw auf eine Überfahrt warten. Ein Grund sind die Streiks der franzöischen Seeleute, ein anderer, dass jetzt im Sommer die Touristen mit ihren Pkw bevorzugt werden. Die Pkw werden zum Teil über die M 2/N2 nach Dober umgeleitet. Für Lkw-Fahrer gibt es keine Ausweichmöglichkeit", warnt er. "Wer im Stau steht bekommt einen roten Laufzettel. Wer den später im Hafen oder im Fährterminal nicht zeigen kann, darf sich gleich wieder hinten anstellen."

Es macht keinen Spaß mehr

Alternative Fähren, wie Hull-Rotterdam, sind derzeit über Wochen ausgebucht. Musik hat das Glück, dass er über Dünkirchen fahren darf, der Hafen liegt 35 Kilometer von Calais entfernt. "Auch dort gibt es Flüchtlinge, die auf Lkw steigen wollen, aber nicht so viele. Hier sind die Kontrollen durch die Briten einerseits besser, und die Migranten nicht so aggressiv. Mittlerweile macht es einfach keinen Spaß mehr." Das liegt auch ander Gesamtsituation. "Früher hat man noch deutsche Kollegen getroffen, oder Fahrer aus Holland und Österreich. Mittlerweile kommen von 100 Lkw, die auf die Überfahrt warten, 90 aus Osteuropa. Auch sein Unternehmen scheint nun über Konsequenzen nachzudenken. "Wenn sich das nicht bald bessert, werden wir wohl gar nicht mehr nach England fahren.

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