Der große Fahrerstreik Alle Räder standen still

Der große Fahrerstreik, Beißner, Mercedes, Autobahn Foto: dpa/ Wolfgang Weih 6 Bilder

Im Herbst 1983 sind die Fronten bei den Tarifverhandlungen verhärtet. Es folgt der größte Warnstreik in der Transportgeschichte der BRD.

Nichts geht mehr: Das Foto zeigt den längsten Lkw-Stau, den es jemals durch einen gewerkschaftlich organisierten Warnstreik in Westdeutschland gegeben hat. Als gerahmtes Bild hängt es heute über dem Schreibtisch des 72-jährigen Holger Klee. Ein Dank der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV). Und eine persönliche Erinnerung an den heißen Herbst 1983. Denn Klee ist der Mann, der vor 30 Jahren den Lkw-Verkehr auf der A  2 bei Helmstedt zum Erliegen gebracht hat. Damals schien sogar die Versorgung von West-Berlin in Gefahr.

Schrotflinten und scharfe Hunde

Doch der Reihe nach: Klee, ein gelernter Einzelhandelskaufmann mit Bundeswehrführerschein, arbeitet seit 1970 als Fernfahrer bei der Spedition Sievers in Hameln im innerdeutschen Fernverkehr und macht Touren nach Frankreich. Aus heutiger Sicht eine harte Zeit. "Es ging Sonntagabend mit zwei Mann raus", so Klee. "Die Arbeitszeit belief sich auf 80 Stunden und mehr pro Woche, alle 14 Tage noch Samstagsarbeit, der Wochenlohn betrug 600 Mark." Seit 1973 ist Klee Mitglied der ÖTV, er organisiert einen Betriebsrat und handelt eine Lohnerhöhung von 500 bis 800 Mark mehr pro Monat aus. Zum 1. Juli 1980 gibt Klee den Beruf auf und wird für die ÖTV Niedersachsen hauptamtlicher Betreuungssekretär. Mit einem der zehn VW-Busse der Gewerkschaft wirbt er auf Raststätten und vor Speditionshöfen Mitglieder an. Das geht nicht ganz ohne Widerstand. Ein Spediteur hetzt die Hunde auf ihn, ein anderer schießt mit der Schrotflinte. Klee lässt sich nicht beeindrucken, seine Arbeit trägt Früchte. "In Niedersachsen hatten wir bald einen Organisationsgrad von 20 Prozent."

Tarifverhandlungen scheitern, Fahrer gehen auf die Barrikaden

Im Herbst 1983 ziehen sich die turnusmäßigen Tarifverhandlungen zwischen der ÖTV und dem Bundesverband des Deutschen Güterfernverkehrs (BDF) lange hin. Für die rund 50.000 Fernfahrer fordert die Gewerkschaft einen Nachtarbeitszuschlag von 30 Prozent, eine Verminderung der Wochenarbeitszeit von 57 auf 50 Stunden, zehn freie Tage im Monat, höhere Spesen sowie ein Be- und Entladeverbot. Die Arbeitgeber lehnen ab, nach einer vergeblichen Schlichtung mit gegenseitigen Schuldvorwürfen kündigt die ÖTV nach dem endgültigen Scheitern der Verhandlungen am 7. Oktober Warnstreiks an.

Sonntagabend fährt Klee mit seinem Bus an die innerdeutsche Grenze bei Helmstedt und überredet die ersten Fahrer aus Niedersachsen, ihre Lkw stehen zu lassen. Ein Kollege der Spedition Beißner aus Hannover ist Pole und Mitglied der dortigen Solidarnosc, einer starken Gewerkschaft, die 1980 aus einer Streikbewegung entstanden ist. Er stellt sofort seinen Hängerzug quer. "Bis 22 Uhr hatte sich ein Rückstau von acht bis zehn Kilometern gebildet", erinnert sich Klee. Ein Zufall der Geschichte. "Der Chef des Polen war der damalige Präsident des Gesamtverbands Verkehrsgewerbe Niedersachsen (GVN). Beißner hatte insgesamt acht seiner Lkw im Stau stehen und soll jedem Fahrer, der im Weg stand, 200 Mark geboten haben, damit er zur Seite fährt." Offensichtlich ohne Erfolg.

Schnittchen für die Streikenden

Anfangs ist die Situation entspannt, die "arbeitslosen" westdeutschen Zöllner verteilen sogar Fleischwurstbrötchen an die streikenden Fahrer. Eine lokale Schlachterei stellt sie auf Bitten Klees zur Verfügung. Rund 500 Fahrer sind versammelt. Die gesamte deutsche Presse widmet sich den Warnstreiks und berichtet über die miesen Arbeitsbedingungen. Die Berliner Tageszeitung (TAZ) beschreibt das Dilemma der Berufsgruppe: "Sicher spielt bei den unglaublichen Arbeitszeiten, die die Spediteure von den Fahrern verlangen, eine große Rolle, dass hinter jedem, der unerlaubte Überstunden ablehnt, einer steht, der sich willig zeigt. Dieser Druck wird für die Fahrer nur dadurch halbwegs erträglich, dass sie versuchen, diese durchgehende Tätigkeit als Ausdruck ihrer Leistungsfähigkeit zu interpretieren. Der Lkw wird zur Ersatzdroge."

Laut ÖTV beteiligen sich bundesweit rund 20.000 Fahrer an den Warnstreiks. Das sieht der BDF anders: Viele Fahrer würden unfreiwillig dazu gezwungen, weil sie im Stau stehen oder nicht vom Hof fahren können. So kommt es zu Klagen von Spediteuren gegen die Gewerkschaft. Die letzte ist erst 1992 vom Tisch. Alles in allem kostet der Streik die ÖTV eine zweistellige Millionensumme. "Auch ein Grund, warum das Thema Streik heute von Verdi vorsichtig angegangen wird", sagt Klee.

Polizei löst den Streik auf

Er hält den Posten bis Dienstag um neun Uhr aufrecht. Dann ist der politische Druck so groß, dass eine Hundertschaft der Polizei anrückt und dem Streik ein Ende bereitet. "Es hat aber noch lange gedauert, bis alle Fahrer gefunden wurden", so Klee. "Der polnische Kollege hat später gegenüber seinem Chef gesagt, er sei beim Versuch, den Stau zu umfahren, in den Graben gerutscht."

Im Januar 1984 gibt es einen neuen Manteltarifvertrag. Einige Forderungen können durchgesetzt werden, die meisten Fahrer halten sich trotzdem nicht an die Arbeitszeiten – das Problem der Einzelkämpfermentalität besteht bis heute. Klee bleibt bis 2009 bei Verdi. Zuletzt besucht er mit einem Betreuungsmobil in NRW Rastplätze und Speditionen. Nach seinem Ausscheiden wird das Auto abgeschafft. "Ein großer Fehler", findet Klee immer noch. "Die Gewerkschaft muss dorthin gehen, wo die Fahrer sind."

Dauerthema Ladetätigkeit

Im Januar 1984 schlossen die ÖTV und der BDF einen neuen Bundes-Manteltarifvertrag für den Güter- und Möbelfernverkehr (BMT-Fern) ab. Es wurden 244 Stunden Arbeit im Monat definiert, dazu Anspruch auf mindes-
tens 49 Stunden zusammenhängende Freizeit, zweimal im  Monat. Zur Arbeit gehörte die Ladetätigkeit. Im Februar 1984 versprach der BDF in einem Schreiben an die ÖTV im Wortlaut: "anlässlich der Tarifverhandlungen, aber außerhalb der tarifvertraglichen Absprache und unter Beteiligung von Vertretern der Bundesregierung, mit den Spitzenverbänden der verladenden Wirtschaft über die Herbeiführung einer generellen Vereinbarung zu verhandeln, die die Belastung des Fahrpersonals mit unzumutbarer körperlicher Arbeit beim Be- und Entladen unterbindet." Auf konkrete Ergebnisse warten die Fahrer trotz kleinerer Streikmaßnahmen bis heute – die Diskussionen zur Rampenproblematik sind lediglich im Masterplan Logistik des Bundesverkehrsministeriums aufgegangen.

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