Barrierefreiheit Rollstuhlfahrer im Fernbus

Foto: MeinFernbus

Einmütig preist die Branche den durchschlagenden Erfolg des liberalisierten Fernbusmarktes. Doch jetzt sorgt die für 2016 geplante Barrierefreiheit für Unmut auf breiter Front.

Selten hat eine neue Dienstleistung auf dem Mobilitätsmarkt so viel Aufsehen erregt wie die liberalisierten Fernbuslinien. Einhellig loben Verbände, Betreiber und Hersteller die im Jahr 2013 erfolgte Marktöffnung als Erfolgsgeschichte wie kürzlich der Vorsitzende des Verkehrsausschusses des Bundestages, Martin Burkert (SPD), auf dem Fernbus-Symposium während der IAA Nutzfahrzeuge.

Auch wenn die "Goldgräberstimmung" schon wieder vorbei sei, wie Burkert anmerkte, und die erwartete Marktkonsolidierung mit der Insolvenz von "city2city2 begonnen hat – Tatsache ist, dass die Reisebusse in der neuen Disziplin in jeder Hinsicht an ihre Leistungsgrenzen gebracht werden. Das tut dem Verkehrssystem Bus sehr gut. 
Einige Themen wie das "Heavy-Duty-WC", ­also ­eines mit extragroßem Tank, oder WLAN an Bord wurden in den vergangenen Jahren schlichtweg verschlafen.

Mit dem Kompromiss zur Neuregelung des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) im Jahr 2012 hielt jedoch im parlamentarischen Vermittlungsausschuss auch eine Regelung Einzug, die nun für Unmut sorgt. Ab 2016 sollen alle neuen, ab 2020 dann auch alle bereits laufenden Fernbusse barrierefrei und mit zwei Rollstuhlplätzen ausgerüstet sein. Damit geht die deutsche Regelung über die internationalen und EU-Empfehlungen hinaus, nach denen von "mindestens einem Rollstuhlplatz" die Rede ist.

Unklare Gummiparagrafen

Viele Details bleiben jedoch auch in den deutschen Regelungen offen. So spricht Ulf Schwarz vom Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter e. V. (BSK) auf dem Fernbus-Symposium von Gummiparagrafen, die gesetzgeberisch verstetigt werden müssten. Der Verband mit 25.000 Mitgliedern (davon rund 5.000 Rollstuhlfahrer) sieht sich an vorderster Front bei dem Thema und koordiniert dieses auch im "Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit", das wiederum zwölf Verbände gegründet haben.

In einer 2013 etablierten Steuerungsgruppe aus BSK, VDA, bdo, RDA, Betreibern sowie den beiden deutschen Busherstellern Evobus und MAN sollte ein Lastenheft erarbeitet werden, das die zeitgerechte Umsetzung der Regelung sicherstellt. Nach mehreren Runden war dann Mitte dieses Jahres klar, dass man auf keinen gemeinsamen Nenner kommt.
Kurz nach der IAA bekam der BSK Post von VDA, bdo, RDA und wurde auf eine erweiterte Steuergruppe unter der Führung des Verkehrsministeriums (BMVI) vertröstet. Trotz guter Fortschritte beim Lastenheft müsse dieses letztlich die "gesamte Fahrt- und
Prozesskette abbilden". Nur so gebe es eine "große und vor allem realistische Chance für die praktische Umsetzung barrierefreier Mobilität".

Neueste Wendung im politischen Meinungsbildungsprozess: Das BMVI übernimmt nicht nur die Federführung, sondern redet auch unverhohlen von einer Ver­schiebung der technischen Umsetzung über das Jahr 2016 hinaus.

Fernbus im Verbund mit barrierefreier Umgebung

Auf dem Berliner parlamentarischen Abend des thüringischen Omnibusverbands im Oktober wurde dieser deutliche Hinweis von Gastrednerin Katherina Reiche, parlamentarische Staatssekretärin im BMVI, von den Unternehmern erleichtert aufgenommen.

Grundlegend geht es um zwei Themen­felder, die in den Gremien heiß diskutiert werden: Was muss der Bus selbst können und wie ist er eingebunden in eine barrierefreie Umgebung? Schließlich bringt es keinem Fahrgast im Rollstuhl etwas, an einem Fernbushalt anzukommen, an dem ihm dann bereits der Bordstein die Weiterreise erschwert. Und in dieser Hinsicht hat die breite gesellschaftliche Diskussion noch nicht einmal ernsthaft begonnen.

Neben den verschiedenen technischen Ansätzen geht es aber noch um eine viel grundlegendere Problematik: Nur rund 20 Prozent der Rollstühle erfüllen die betreffende DIN EN 12183/84, von deren zwingender Anwendung jedoch beispielsweise der VdTÜV in einem Positionspapier des runden Tisches "Sichere Mobilität für Menschen mit Behinderung" ausgeht.

Haftungsfrage und wirtschaftliche Einbußen

Darüber hinaus sind knifflige Fragen des Betriebsablaufs und der Haftung des Fahrers oder Begleiters zu klären. Eines ist sicher, wie Robert Kappel, für die Entwicklung von Reisebussen bei Evobus verantwortlich, warnt: "Ein Unfall mit einem unzureichend gesicherten Rollstuhl-Fahrgast wäre ein Worst-Case-Szenario."

Einem ähnlich düsteren Szenario sehen sich die unter starkem Wettbewerbsdruck stehenden Fernbuslinien-Betreiber in Sachen Wirtschaftlichkeit gegenüber. Bei den bisher diskutierten baulichen Lösungen entfallen durch einen Rollstuhlplatz bis zu sechs verkaufbare Sitze. Das bedeutet im Extremfall, dass neben den hohen Kosten für die Busausstattung bis zu zwölf Plätze im Bus weniger verkauft werden können. Kein Wunder, dass mancher Unternehmer von einem "bewussten Abwürgen eines jungen Marktes" spricht. 

Trotzdem hält der BSK am modularen Konzept der Umsetzung fest und zeigt sich "skeptisch, ob es einer politischen Federführung bedarf". Er initiierte daher aktuell eine ­"Meldestelle für barrierefreie Fernlinienbusse". Deren Leiterin, Referentin Julia Walter, und ihre sogenannten Mobilitäts-Scouts haben aber derzeit keine Handhabe bei Verstößen, wie sie einräumt: "Die nächste zeitliche Stufe ist 2016, davor kann ich noch nicht so viel machen, um Barrierefreiheit durchzusetzen."

Technische Lösungen für den barrierefreien Fernbus

Zwei Fragen stellen sich grundlegend zur technischen Umsetzung: Die Wahl des Fahrzeug- und des Innenraumkonzeptes. Der Doppeldecker ist mit seinem Niederflur-Einstieg prädestiniert für Rollstuhlplätze und wird sicher eine Renaissance erleben, ebenso Unterflur-Konzepte wie der Van Hool Altano. Preiswertere Hochdecker benötigen dagegen immer einen Hublift, teilweise sogar noch einen Heckeinstieg oder eine separate Schlagtüre. Die Preise für eine solche Lösung bewegen sich dann locker ab 15.000 Euro aufwärts. Dazu kommt ein Mehrgewicht von 400 bis 500 Kilo. Der Innenraum sollte podestlos sein oder über Wechselpodeste verfügen. Wobei sich wie auch bei herausnehm­baren Sitzen die Frage nach deren Unter­bringung stellt.

Neben den Befestigungsschienen im Boden, den sogenannten Airline-Schienen, sind herausnehmbare beziehungsweise klapp- und verschiebbare ­Sitze nötig. Auf welche Lösung die Wahl fällt, ist nicht zuletzt auch eine Frage des Zeitaufwands. Bei der Lösung mit heraus­nehmbaren ­Sitzen würden nach Einschätzung von Evobus acht, bei verschiebbaren sogar zwölf reguläre Sitze wegfallen. Gregor Hintz, Sprecher von Mein-Fernbus, resümiert: "Auf der IAA konnte noch kein Hersteller prakti­kable Lösungen inklusive Lift und Kombination mit variabler Sitzgestaltung für den täglichen Einsatz zeigen. Es scheitert bereits an nach Bedarf verschiebbaren Sitzreihen."

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