Arbeitszeit auf dem Prüfstand Gesundheitsfalle

Arbeitszeit auf dem Prüfstand, Gesundheitsfalle Foto: Jan Bergrath

Gerade Lkw-Fahrer im Fernverkehr arbeiten deutlich zu lange. Damit sind sie laut Studien besonders anfällig für gesundheitliche Probleme.

Das vergangene Jahr stand ganz im Zeichen des Fahrermangels. Die Transportbranche sorgte sich um die demografische Falle, also die statistisch belegbare Überalterung der Lkw-Fahrer in Deutschland. Nach der jüngsten Marktforschung des Bundesamtes für Güterverkehr, BAG, sind aktuell 39,1 Prozent der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Kraftfahrer 50 Jahre und älter. Die Tatsache, dass deshalb rund 315.000 Fahrer in den nächsten 15 Jahren aus dem Beruf ausscheiden werden, wurde bereits gründlich diskutiert. Ebenso, dass sie nicht in der erforderlichen Größenordnung ersetzt werden können. Alle Fachleute sind sich einig: Wenn es in ausreichendem Maße motivierten Nachwuchs geben soll, um die vorhersehbare Lücke zu schließen, müssen sich vor allem die über Jahrzehnte eingeschliffenen Arbeitsbedingungen ändern. Die Zeitbombe tickt, aber bei der Vielzahl der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme wird die soziale und ökonomische Sprengkraft dieses Themas entweder nicht wahrgenommen oder schlicht verleugnet.

Im Mittelwert liegt die wöchentliche Arbeitszeit bei 56,7 Stunden

Ein Grund, warum die Attraktivität des Fahrerberufs bei der dringend gesuchten Jugend so gering ist und mehr Auszubildende die dreijährige Lehre wieder abbrechen als in allen anderen Branchen, ist die nach wie vor hohe zeitliche Belastung. Die 2012 erschienene "ZF-Zukunftsstudie Fernfahrer" hat diese Tatsache nach Gesprächen mit rund 500 Lkw-Fahrern noch einmal belegt: Im Mittelwert der Jobs im Nah- und Fernverkehr liegt die wöchentliche Arbeitszeit bei 56,7 Stunden. Zwar weisen die Autoren darauf hin, dass unklar sei, in welchem Ausmaß die Fahrer Wartezeiten an der Rampe und Bereitschaftszeiten hinzugerechnet haben. Doch besonders im Fernverkehr wird der Arbeitsrhythmus nur geprägt von den dreimal neun und zweimal elf Stunden tägliche Ruhezeit, die der Gesetzgeber vorgibt. In den Zeitfenstern dazwischen, der „Schichtzeit“ von 13 bis 15 Stunden, spielt sich der Arbeitsalltag der Fahrer ab. Gebilligt wird dies auch durch   Paragraf 21a des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG). Er erlaubt für Fahrer eine Arbeitszeit von 60 Stunden pro Woche – wenn regelmäßig ein Zeitausgleich erfolgt. So sollen im Schnitt von vier Monaten 48 Stunden pro Woche nicht überschritten werden. Das Gesetz gilt seit April 2007. Die Zahlen zeigen jedoch, dass der Freizeitausgleich bei der Mehrzahl der Betriebe eher ein theoretischer Begriff als eine gelebte Notwendigkeit ist. Und nur ganz langsam befassen sich die in den 16 Bundesländern unterschiedlich organisierten Arbeitsschutzbehörden mit der Frage, ob die Transportunternehmer den Paragrafen 21a ArbZG im Betrieb auch anwenden. Sanktionen sind bislang eher die Ausnahme als die Regel.

Männerdominierten Welt der Logistik

Über physische und psychische Belastungen des Berufs wird in der männerdominierten Welt der Logistik aber so gut wie nie gesprochen. Die Betroffenen selbst ignorieren konsequent das Thema Gesundheit – es passt schlicht nicht ins Weltbild des harten Kerls, der mit 500 PS die Welt erobert. Dabei liegen Fahrer in nahezu allen Kategorien der Statistiken der Krankenkassen bei den Ausfallzeiten an der Spitze. Auch das BAG stellte dazu längst fest, dass Beschäftigte im Verkehrsgewerbe im Jahr 2010 durchschnittlich an 18,9 Tagen arbeitsunfähig waren. Das durchschnittliche Fehlzeitenniveau aller Branchen liegt dagegen im Schnitt bei lediglich 14,8 Tagen.

Schuld daran ist auch die ständige Mehrarbeit, wie die Studie "Lange Arbeitszeit und Gesundheit" der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) 2009 ergeben hat. Sie basiert auf vier verschiedenen, in der EU und in Deutschland durchgeführten Umfragen. Das Ergebnis: "Bei langfristiger Mehrarbeit über 40 Wochenstunden hinaus nehmen gesundheitliche Probleme wie Schlafstörungen, Herzbeschwerden, Rückenschmerzen und Magenbeschwerden zu", wie Arbeitszeitexperte Frank Brenscheidt, 49, von der BAuA berichtet. Sein Schwerpunkt ist der Wandel der Arbeit, insbesondere die Auswirkungen von Nacht- und Schichtarbeit. "Hier sind Lkw-Fahrer in nächtlichen Linienverkehren besonders gefährdet, gegen die Chronobiologie, also die innere Uhr, zu verstoßen. Denn die Sonne, also das Tageslicht, ist nach wie vor der Haupttaktgeber des Menschen. Die größte Gefahr dabei ist Gewöhnung."

Gesellschaftliche Isolation durch Nachtarbeit

Die Folgen kommen schleichend – nicht nur für die Gesundheit. Regelmäßige Nachtschichtarbeit führt auch zu größeren sozialen Problemen. Die Scheidungsquote ist deutlich höher. Väter verlieren den Einfluss auf die Familie, die schulischen Leistungen der Kinder lassen merklich nach, der TV-Konsum nimmt dafür zu. Im Grunde führt die dauerhafte Nachtarbeit in die gesellschaftliche Isolation. "Nach unseren arbeitsmedizinischen Erkenntnissen empfehlen wir", so Brenscheidt, "einen Rhythmuswechsel, basierend auf der Sechs-Tage-Woche. Also zwei Frühschichten, zwei Spätschichten und zwei Nachtschichten."

Großbetriebe mit stationären Mitarbeitern, allen voran die Automobilindustrie, können diese Vorgaben leichter umsetzen. In der Logistik sind sie unter den gegebenen Bedingungen kaum durchsetzbar. Auch weil sich nur wenige Fahrer für Begegnungsverkehre begeistern können und nur wenige gut organisierte mittelständische Transportunternehmen überhaupt in der Lage sind, variable Arbeitszeitmodelle anzubieten. Das Konzept der Teilladungskooperation Elvis ist so ein Ansatz, bei dem einige Fahrer immerhin schon einmal zwischen Tag- und Nachtschicht wechseln.

Die Kosten für den Warentransport explodieren

Laut der BAuA-Studie beginnen die langfristigen gesundheitlichen Probleme ab 40 Stunden wöchentlicher Arbeitszeit. Durchschnittlich 48 Stunden pro Woche sind vom Arbeitszeitgesetz für Fahrer bereits als Maximum festgelegt. "Der Freizeitausgleich, der den Fahrern ja gesetzlich zusteht, sollte auch eingehalten werden, um gesundheitliche Schäden zu vermeiden", rät Brenscheidt. Das klingt in der Theorie gut und heißt in der praktischen Umsetzung leider: mehr Kontrollen. In der Praxis würde es aber bedeuteten, dass der Fahrermangel bei guter Konjunktur schlagartig zunimmt und die Kosten für den Warentransport explodieren. Das allerdings wäre für die Exportnation Deutschland – nun ja, ungesund. 

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