Sozialdumping Warnschuss

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Die EU-Kommission will Europa sozialer machen. Ein Trugschluss. Nun hat die Europäische Transportarbeiter Föderation gegen Pläne der Verkehrskommission demonstriert, die Arbeitsbedingungen der Fahrer wohl zu verschlechtern.

Die EU-Kommission sitzt in einem beherrschenden, stilvoll geschwungenen dreieckigen Gebäude auf dem Gelände eines ehemaligen Frauenklosters im Osten Brüssels. Dort, am Place Schumann, verkündet die Kommission auf einer der Schmalseiten regelmäßig ihre neuesten Visionen von einer besseren Welt. Seit Ende April ist es die europäische Säule sozialer Rechte. In der Pressemeldung dazu heißt es: "Mit der Säule werden 20 zentrale Grundsätze und Rechte zur Unterstützung gut funktionierender und fairer Arbeitsmärkte und Sozialsysteme festgelegt."


Ein vorsichtiger Kurs von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, nennt es die FAZ.  Zum einen habe die EU in der Sozialpolitik nur sehr beschränkte Kompetenzen. Zum anderen gäbe es unter den Mitgliedstaaten, allen voran Deutschland, nur begrenzte Begeisterung für eine stärkere soziale Ausrichtung der Europäischen Union.


Reale Befürchtungen der Gewerkschaften


Einen Tag, nachdem sich die EU-Kommission die soziale Säule auf die eigene Hauswand geschrieben hat, versammeln sich am 26. April mehrere Hundert europäische Lkw-Fahrer und Gewerkschafter, die in Brüssel durch die Europäische Transportarbeiter Föderation (ETF) vertreten sind, auf dem Place Schuman, darunter eine Delegation von Verdi und sogar der polnischen Solidarność. Der schwarze Kampagnen-Truck der ETF ist am Platz aufgebaut, mit nachgestellter trocknender Wäsche und der Kochstelle am Auflieger – den Symbolbildern für den Begriff des Sozialdumpings. Wie schwer sich die EU-Politik im Ausgleich zwischen den Blöcken aus Ost- und Westeuropa allerdings tut, das zeigt eine hoch aktuelle Erklärung von namhaften Unternehmern aus den vier Visegrad-Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn, die sich wiederum gegen die nationalen Initiativen des Westens wehren, die ihrer Meinung nach den freien Wettbewerb einschränken.


IKEA als Bösewicht


In der laufenden Kampagne hat die ETF den Möbelkonzern IKEA als Bösewicht für ihren Kampf auserkoren, wie dieser Filmbericht zeigt. Er spielt im europäischen Distributionszentrum von IKEA in Dortmund, wo am Wochenende bis zu 150 Fahrer vor allem aus Osteuropa im Auftrag der Logistiker warten, bis sie am Montag mit Touren in alle europäischen Destinationen aufbrechen. Vor allem die Fahrer der Frachtführer aus Rumänien und Bulgarien sind bis zu sechs Wochen oft von dort auf Tour, bevor sie zwei Wochen Heimaturlaub haben. Das nun beschlossene nationale Verbot, die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit im Lkw zu verbringen, dürfte hier bald für organisatorische Probleme sorgen – sollte es denn jemals auf dem Gelände des Möbelkonzerns kontrolliert werden.


Konkrete Befürchtungen


Andrea Kocsis, stellvertretende Bundevorsitzende von Verdi, spricht angesichts der vielen mobilisierten Gewerkschafter aus Europa von einem "Warnschuss" für die Kommission und einem Zeichen der europäischen Solidarität. Es gehe nicht gegen die Fahrer aus Osteuropa sondern für bessere Bedingungen für alle Fahrer. Die seien aber nur zu erreichen, wenn die Logistik ihre Preise anhebt, um für die Frachtführer bessere Margen zu gewährleisten. Die Grundlage für bessere Löhne. Auch in Ansprachen anderer Vertreter der Gewerkschaften wie etwa von Karl Delfs von der Gewerkschaft Vida in Österreich, wird deutlich, dass sich die Arbeitsbedingungen der Lkw-Fahrer nicht noch weiter verschlechtern dürfen als bisher.


Weltfremde Politiker


EU-Parlamentarier wie Michael Cramer unterstützen die Forderungen der ETF. Allerdings, so heißt es am Rande, tun sich die meisten EU-Politiker in Brüssel doch sehr schwer, sich den Job des Berufskraftfahrers und die wirklichen Bedingungen im Wettbewerb wirklich vorzustellen. Das mache sie anfällig für Versprechen der Wirtschaftslobbyisten oder der IRU, die ihnen einreden, ihre drei-bis vierwöchigen Rundläufe seinen sogar im Sinne der Fahrer.  Sogar der österreichische Verkehrsminister Jörg Leichtfried setzt sich vor Ort in den Lkw und hört sich die Klage der Gewerkschafter vom unlauteren Wettbewerb im europäischen Transport. Dann zieht er weiter in die Verkehrskommission, um sich, sein eigentlicher Grund für den Besuch in Brüssel, über die geplante "Ausländermaut" seines deutschen Amtskollegen zu beschweren. 


Vorschläge im sozialen Dialog

 
Die ETF, so der Tenor, habe immer wieder im Rahmen des sozialen Dialogs ihre konkreten Pläne zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Lkw- und Busfahrer in Europa angeboten. Auf einer Pressekonferenz in Brüssel hatte die ETF allerdings bereits Ende März davor gewarnt, dass sich die EU-Verkehrskommission unter  Violeta Bulc in ihrer für Ende Mai erwarteten Straßeninitiative vor allem dem Druck der Lobbyisten aus Wirtschaft und Logistik beugen würde. Das betrifft etwa die Taktung der reduzierten und regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeiten im Lkw. Die Kommission, so die ETF-Sorge, könnte sie so anspassen, dass den Forderungen etwa der deutschen Spitzenverbände wie BGL und DSLV nach drei- bis vierwöchigen Rundläufen der Fahrer vor allem aus den mittel- und osteuropäischen Ländern Rechnung getragen würde. Wie konkret diese Pläne aussehen, steht in der Ausgabe 6 des Magazins FERNFAHRER, die am 2. Mai erscheint.


Bulc betritt unerwartet die Bühne


Für den Nachmittag ist eine Konsultation einer Delegation der ETF mit Violeta Bulc und ihrem Stab in der Kommission vorgesehen. Nun steht sie zu aller Überraschung plötzlich auf der Bühne, quasi als ungeladener Gast, und spricht davon, dass die Befürchtungen der ETF "reine Gerüchte" seien. Das kommt nicht gut an. "Doch diese Gerüchte", so beschriebt es mir Cristina Tilling, die Politische Sekretärin der Sektion Straßentransport der ETF am Tag nach der Demo, konnten durch das einstündige Gespräch mit Bulc sowie Eddy Liegeois von der DG MOVE und ihrem Kabinettsmitglied Jocelyn Fajardo in keiner Weise entkräftet werden." Es habe eher den Eindruck, so schildert es Tilling bestürzt, dass Bulc über die Details der Straßeninitiative und ihre möglichen Konsequenzen selber nicht ausreichend informiert sei. So war auch der Eindruck anderer Teilnehmer der Runde. "Die einzige positive Erkenntnis", so Tilling, "ist wohl, dass es keine weitere Ausnahmeregelungen für Busfahrer geben wird, und dass die Kommission von der möglichen Splittung der 45-minütigen Fahrtunterbrechung in drei 15minütige Pausen wohl absehen will."


Auf Druck der Versicherungen


"Wir haben allerdings keine Zusage bekommen, dass die Kommission auf eine Änderung der Taktung der regelmäßigen und reduzierten Ruhezeiten im Lkw verzichten will, wie wir es befürchten", so Tilling. Es würde wohl weiter nach Lösungen zum Verbringen der Ruhezeit im Lkw gesucht. Offenbar, so interpretiert es Tilling, stehe das Transportgewerbe nach der Aussage von Bulc selber unter dem Druck der Versicherungswirtschaft bei der ungeklärten Frage, was mit Lkw und Ladung passieren wird, wenn die Fahrer im Hotel sind. "So sollen die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, weitere Sicherheitsparkplätze zu bauen, und wir als ETF sollen, wie auch immer, dabei helfen."


Nur sanfte Korrekturen


Vieles deutet tatsächlich darauf hin, dass die Kommission in ihrer für Ende Mai erwarteten Straßeninitiative doch erhebliche Eingriffe in die Sozialvorschriften plant. Auch soll es eine teilweise Aufhebung der bestehenden Entsenderichtlinie für mehrere Tage für die Lkw-Fahrer geben. "Es sieht so aus", so Tilling, "dass die Kommission überall dort, wo eigentlich strenge regulative Maßnahmen gefordert wären, eher weiche Korrekturen an den Richtlinien und Verordnungen plant. Das können wir natürlich so nicht akzeptieren. Wir werden also die EU-Kommission weiter auffordern, endlich die Maßnahmen bekannt zu geben und wir werden unseren intensiven Kontakt mit den EU-Parlamentariern weiter verstärken, um zu verhindern, dass die Kommission ihre möglichen Pläne umsetzen kann."


Alles nur ein genialer Schachzug?


Für mich persönlich bleibt ein unbefriedigender Eindruck: Nach allem, was mir diverse Gesprächspartner von Violeta Bulc sagen, scheint sich die resolute und kampfsporterprobte Slowenin an der Spitze der EU-Verkehrskommission zwar für soziale Arbeitsbedingungen auszusprechen, während ihre Mannschaft in der DG Move gerade dabei ist, die Wünsche der Logistik nach flexibleren Wochenruhezeiten umzusetzen. Doch die Pläne müssen alle von EU-Parlament und Rat im sogenannten "Trilog" verabschiedet werden. Das kann dauern – unter Umständen bis Mitte 2019, wenn es die nächsten Europawahlen gibt. Dann ist diese kommende Straßeninitiative, sollte sie nicht beschlossen sein, erstmal beendet. Was dann wahrscheinlich bleibt ist ein baldiges Urteil des Europäischen Gerichtshofs, dass es verbietet, die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit im Lkw zu verbringen. Und zwar überall in Europa.

Unsere Experten
Harry Binhammer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Harry Binhammer Fachanwalt für Arbeitsrecht
Götz Bopp, unser Experte für Sozialvorschriften im Straßenverkehr (Lenk- und Ruhezeiten) Götz Bopp Sozialvorschriften und Güterverkehr
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