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Schulung für Feuerwehrleute Verunglückte Lkw-Fahrer richtig retten

Rettungsuebung Foto: Johannes Roller 10 Bilder

Nur wenigen Feuerwehren stehen geeignete Übungsobjekte für die Rettung verunglückter Lkw-Fahrer zur Verfügung. Die engagierten Nutzfahrzeug-Unfallforscher von Daimler haben daher im Werk Wörth eine ganztägige Schulung für Feuerwehrleute durchgeführt.

Optisch unversehrt stehen die vier Actros-Lkw in der Entwicklungswerkstatt des Daimler-Werks Wörth. Es sind Rückläufer aus der Erprobung. Am Ende dieses Samstags werden sie nur noch Schrottwert haben – und das für einen guten Zweck. Sie dienen dem Unfallanalyse-Team um Diplomingenieur Kay Morschheuser als "Lehrmaterial" für Feuerwehrleute. Im Gegensatz zu schrottreifen Pkw, die landauf, landab im Zentrum jeder Schauübung stehen, sind Lkw als Übungsobjekte für Schere und Spreizer nämlich Mangelware. Zu hoch der Restwert, zu gering die Aussicht, ein modernes Exemplar vors Feuerwehrhaus zu bekommen. Die daraus resultierenden Erfahrungsmängel will Morschheuser beheben helfen.

Seit den 90er-Jahren befassen sich die Nfz-Unfallforscher – fast alle von ihnen sind passionierte freiwillige Feuerwehrleute – mit dem Thema Rettung aus Lkw. "Ein Daimler-Kollege ist bei der Freiwilligen Feuerwehr Degerloch und sagte eines Tages: 'Mensch, wir würden die Lkw-Rettung gerne üben, können wir das nicht am Wochenende bei euch machen?'", erzählt Morschheuser. Die Idee, von Herstellerseite aus Schulungen für Rettungskräfte anzubieten, war geboren. "Nach einem lastauto omnibus-Bericht über die Nfz-Unfallforschung hat sich ein Notarzt der BG-Klinik Ludwigshafen bei mir gemeldet", so Morsch­heuser weiter. "Gemeinsam mit der Berufsfeuerwehr Ludwigshafen haben wir dann ein Konzept zur Rettung verunfallter Personen aus Lkw entwickelt, patientengerecht und schonend."

Rettungsschulungen mit vielen Profitipps

Es folgten die ersten Einsatzübungen, eine davon sogar beim Truck-Grand-Prix am Nürburgring. Nicht zuletzt wegen des großen Interesses galt es nun, das Konzept zu professionalisieren, einen Schulungsplan und einen Rettungsleitfaden zu entwickeln. Letzterer gilt übrigens für alle Lkw-Marken. "Darauf sind wir stolz", sagt Morschheuser.
Nach einer längeren Schulungspause wurde die heutige Übung von der Nfz-Unfallanalyse, vom Bereich Gemeinnützige Förderprojekte und vom Vertrieb Drehscheibe Gebrauchtfahrzeuge gemeinsam auf die Beine gestellt. Angemeldet sind die Feuerwehren Reichenschwand, Morbach, Otzenhausen, Tiefenbronn, Kirn, Rüdesheim, Berlin und Böblingen. Pünktlich rollen sie am Samstagmorgen mit ihren Einsatzfahrzeugen auf das Werksgelände. Die Übungs-Lkw stellt die Daimler-Spendenabteilung zur Verfügung, ihre Ausrüstung wie etwa Schere, Spreizer, Rettungszylinder, Rettungsplattform und Spineboard bringen die Teilnehmer selbst mit.

Bevor es ans Eingemachte geht, steht eine theoretische Einführung auf dem Programm: "Die häufigste Unfallart ist nach unserer Erfahrung das Abkommen von der Straße", referiert Morschheuser. Die meisten Verletzten im Lkw gibt es wiederum beim Auffahrunfall. Auf die Rekordhalter "Abkommen" und "Auffahren" folgen "Gegenverkehr" und "Kreuzungen" mit deutlich geringerer Häufigkeit. Von der flächendeckenden Einführung von Fahrerassistenzsystemen wie Spurverlassenswarnern und Notbremsassistenten verspricht sich Morschheuser viel, betont aber: "Unfälle werden weiterhin stattfinden, weil auch die besten Assistenzsysteme physikalische Grenzen haben. Die Verantwortung liegt immer noch beim Fahrer." Wenn es kracht, sind bei Lkw-Fahrern besonders die unteren Extremitäten betroffen. "Beim Frontlenker gibt es keine Knautschzone", erklärt Morschheuser. "Daher müssen wir die Kabine so stabil wie möglich gestalten, da sind zum Teil hochfeste Stähle verbaut." Mit Kurzvideos erläutert er den Feuerwehrleuten das Crash-Konzept von Mercedes-Benz. Deutlich ist zu sehen, wie die Kabine bei einem Auffahrunfall en bloc auf dem Fahrgestell nach hinten wandert, anstatt direkt zermalmt zu werden. "Sitz, Gurt, Lenkrad und Innenraummaterialien müssen alle aufeinander abgestimmt sein", erklärt Morschheuser und betont: "Der Gurt ist immer noch der Lebensretter Nummer eins, das haben gemeinsame Tests mit Dekra gezeigt." Daher appelliert er auch an die Feuerwehrleute: "Schnallen Sie sich an, selbst wenn's im Einsatz schnell gehen muss!"

Nachmachen ist angesagt

Stichwort Einsatz: "Einer der Gründe, warum wir diese Ausbildung anbieten, ist, dass immer noch Fahrer aus ihren Lkw gezerrt werden – denn retten kann man das nicht nennen", wird Morschheuser deutlich. "Von der Crash-Rettung, bei der jede Sekunde zählt, abgesehen, fehlen den Rettern oft erkennbar Ideen, die Fahrer aus den beschädigten Kabinen zu befreien." Daher hat sein Team Methoden entwickelt, die garantiert funktionieren. Diese Methoden gilt es jetzt zu erlernen oder zu vertiefen. Eine Gruppe macht den Anfang, mit Moderation durch die Ausbilder. Dann ist "Nachmachen" angesagt, jeweils unter den wachsamen Augen der Nfz-Unfallforscher. Doch nicht nur das: Vor der Halle gibt Diplomingenieur Lars Schneider eine Einweisung in die aktuellen Lkw-Baureihen von Mercedes-Benz. Er erklärt Sitzbedienung und Niveausteuerung und er zeigt, wie die Kabinenverkleidung am schnellsten entfernt werden kann, wo die Luft angesaugt wird (wichtig fürs behelfsmäßige Motorausstellen mit Hilfe eines CO2-Feuerlöschers) und wie man den Sicherungskasten über die Frontklappe öffnet.

"Achtet auch drauf, ob nicht noch einer auf der Matratze liegt oder ob womöglich noch die Standheizung läuft, wegen der Brandgefahr", schärft Schneider den Feuerwehrleuten ein.
In der Halle geht es direkt zur Sache: Vor dem ehemaligen Erlkönig mit seinem schwarz-weißen Tarnmuster steht schon die Rettungsplattform, mit der die Feuerwehrleute auf "Lkw-Arbeitshöhe" gelangen. Auch die Ausrüstung liegt auf einer Plane bereit. Erkundung und Schaffung eines Erstzugangs durch die Frontscheibe stehen an erster Stelle. "Achtet auf euer Glasmanagement", schärft Ausbilder Andreas Häfele den Teilnehmern ein, "nicht dass sich der Notarzt verletzt!"

Schutzausrüstung für Retter und Fahrer

Zunächst schlägt ein mit Helm, Visier und Staubmaske (wegen der feinen Glassplitter) armierter Feuerwehrmann ein kleines Loch in die Frontscheibe. Sie ist bei modernen Lkw eingeklebt, muss also herausgesägt werden. Mit dem Elektrofuchsschwanz schafft der Rüdesheimer einen Zugang, durch den der Kamerad, der den Notarzt mimt, zum eingeschlossenen Fahrer klettern kann. Eine über die Glaskante gelegte Wolldecke schützt ihn dabei vor Verletzungen. Nun bekommt der eingeklemmte Lkw-Fahrer ebenfalls Helm, Mundschutz und obendrüber eine Kunststoffplane verpasst, bevor es mit dem Scheibenentfernen weitergeht. Der Airbag im Lenkrad wird mit einer "Oktopus" genannten Kralle gesichert. Zündung und Batterie werden grundsätzlich nicht abgestellt. "Macht die Zündung nur in Abstimmung mit dem Rettungsdienst ganz aus", betont Andreas Baur, ein weiteres Mitglied des Unfallanalyse-Teams. "Bei manchen Lkw-Modellen aktiviert ihr damit die Schnellabsenkung des Fahrersitzes, was einer eingeklemmten Person womöglich nicht guttut." Der Motor hingegen muss immer ausgeschaltet werden, unter anderem wegen der Brandgefahr.

"Erklärt dem Fahrer, was ihr macht!"

Nach der Frontscheibe sind die Seitenfenster an der Reihe. Sie sind weniger stabil, werden mit Folie abgeklebt, eingeschlagen und die Scherben umgehend weggekehrt. Der eingeklemmte Fahrer ist nun im Idealfall von drei Seiten zugänglich. Seine Befreiung beginnt aber jetzt erst richtig: Zuerst gilt es die Federbewegungen der Kabine auszuschalten – was mit einem großen, übers Fahrerhaus verlegten und an den Felgen eingehakten Spanngurt gelingt. Dann legen die Feuerwehrleute die Türscharniere auf der Fahrerseite frei, indem sie den Windabweiser abreißen. "Erklärt dem Fahrer, was ihr macht!", schärft Baur den Männern ein. Und er hat noch einen wertvollen Tipp auf Lager: Bevor sie die Türscharniere mit dem Spreizer komplett aufbrechen, sollen sie die Tür erst ganz leicht aufdrücken. So entsteht eine kleine Öffnung oben zwischen Rahmen und Tür und die Feuerwehrleute können eine Leine um den Türrahmen binden. Diese Leine, über das Kabinendach geführt und von zwei Kameraden auf der Beifahrerseite gehalten, sorgt dafür, dass die Fahrertür nicht herunterkracht, wenn die Scharniere aufbrechen. Und noch ein Tipp: "Falls der Türöffner innen noch funktioniert, einen Holzkeil reinstecken, damit die Verriegelung offen ist und die Tür direkt rausfliegt. Falls nicht, muss die Verriegelung extra aufgespreizt werden." Gesagt, getan – schon fliegt der zweite Scharnierbolzen durch die Gegend, die Fahrertür baumelt am Seil und die Feuerwehrleute sind einmal mehr froh über ihre Schutzausrüstung.

Jetzt wird der Spreizer gegen die ebenfalls hydraulisch angetriebene Schere eingetauscht. Zuerst, um alle Handläufe und Griffe, die die Rettung des Fahrers behindern, zu entfernen. Und anschließend, um zwei Schnitte in die A-Säule zu setzen. Damit die Rettungskräfte die Schnitte sofort an den richtigen Stellen, etwa 20 Zentimeter von unten und 15 Zentimeter von oben, ansetzen, versieht Mercedes-Benz die A-Säulen seiner Lkw inzwischen mit sogenannten Schnittmarken, schwarze Markierungen mit der Aufschrift "cut". Der obere Schnitt, diagonal von außen geführt, durchtrennt die A-Säule komplett, der untere, von innen geführt, schneidet die Säule zur Hälfte ein. So entsteht ein Scharnier, über das sich die Front, also A-Säule plus Armaturenbrett und Lenksäule, mit Hilfe von hydraulischen Rettungszylindern nach vorne drücken lässt und die unteren Extremitäten des Fahrers freigibt. Das Material wird mit dem Hydraulikzylinder bewusst überdehnt und federt nach dessen Entfernung etwas zurück, lässt aber immer noch genügend Platz für die Rettung. "Passt auf, dass ihr durch falsches An­setzen des Zylinders nicht die A-Säule vom Armaturenbrett trennt und die dann stehen bleiben", schärft Jens Kienzle den Feuerwehrleuten ein. Die machen aber gleich alles richtig und können den Fahrer nun endlich auf das Spineboard legen, mit dem er im echten Einsatz zum Rettungswagen oder Hubschrauber getragen werden würde. Auf die ausgepowerten Retter wartet jetzt ein deftiges Mittagessen mit Eintopf und Würstchen. Anschließend heißt es: nachmachen und üben, bis der Tag zu Ende und die Lkw schrottreif sind.

Weitere Infos

An einer Rettungsschulung interessierte Feuerwehren können sich wenden an:
- Anke Ruml, Gemeinnützige Förderprojekte
Kontakt: 07 11-17 25 317, E-Mail
- Bernd Werner, Europäische Drehscheibe Gebrauchtfahrzeuge 
Kontakt: 07 11-17 33 797, E-Mail

Der von Daimler entwickelte Rettungsleitfaden steht hier gratis zum Download zur Verfügung. Kontakt zur Nutzfahrzeug-Unfallforschung: 07 11-17 33 333, E-Mail

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
Lao 07 2016 Titel
lastauto omnibus 07 / 2016
13. Juni 2016
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13. Juni 2016
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