Lkw mit Oberleitung Drahtseilakt mit Oberleitung

Elektroantrieb beim Fern-Lkw scheitert an zu schweren Batterien. Siemens wagt den Drahtseilakt mit Oberleitung.

Gleich um die Ecke strich einst Erich Honecker durch den dunklen Tann der Uckermark – auf der Pirsch. Hier wiederum wartet ein ehemaliger Militärflughafen, der größte zur Zeit des Warschauer Pakts außerhalb der UdSSR, in Groß Dölln bei Berlin auf eine neue Verwendung. Ganz am Rande hat sich Siemens schon mal eine Strecke gesichert: 1,5 Kilometer Betonpiste mit elektrischen Oberleitungen.

Geht es nach den Vorstellungen des Elektrokonzerns, findet hier Zukunft statt. Jörg Grützner fährt mit seinem Actros MP3 in die Startposition am Anfang der Teststrecke. Ein Druck auf ein umgebautes Smartphone. Mit leisem Surren fährt der Stromabnehmer aus. Klick, klack, dann ist er dran. Kaum hat der Bügel Kontakt zur Oberleitung, schweigt der Diesel. Jetzt geht’s mit Strom von oben weiter. Der 40-Tonnen-Zug nimmt Fahrt auf.

Jörg, 54, einer von zwei Testfahrern: „Der geht besser ab als ein Diesel.“ Es herrscht Ruhe in der Kabine. Wie in der Straßenbahn. Nur Wind- und Abrollgeräusche dringen nach innen. Die Reifen holpern hingebungsvoll über jede Querfuge der Betonpiste wie früher auf der Fahrt durch die DDR nach Berlin. Dazu brummt der Kompressor der Bremsanlage unüberhörbar. Er ist ein Provisorium, denn Siemens möchte mit den handgestrickten Prototypen nur die grundsätzliche Machbarkeit der Technik beweisen.

Die genaue Ausgestaltung ist dann Sache eines Lkw-Partners, der aber noch gefunden werden muss. Der Stern auf dem Lkw ist reiner Zufall, weil sich der Umbauer aus Passau, Paul Nutzfahrzeuge, für diese Aggregateträger entschieden hatte. Jörg stammt aus der Gegend. Er ist 30 Jahre erst beim Militär, dann im Fernverkehr gefahren, unter anderem auch bei der Spedition Ullrich. Auf der Suche nach einer Alternative ging er zur Agentur für Arbeit und las die Ausschreibung „Messfahrer gesucht“. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, auf jeden Fall keine Routine.

Das Fahrzeug beherrscht in gewissen Grenzen auch das Ausweichen vor einem Hindernis

„Den ersten Lkw haben wir noch mitten in der Nacht überführt. Es war ja ein streng geheimes Projekt.“ Später fuhr er auch tagsüber. „Wenn ich dann mal an einer Raststätte Pause machte, haben die Kollegen ganz schön gestaunt.“ Der Oberleitungs-Lkw fährt grundsätzlich mit Strom, entweder direkt vom „Draht“, wie die Ingenieure die fingerdicke Litze aus Massivkupfer lässig nennen, oder der Diesel treibt einen Elektro-Generator an.

Als Jörg das Ende der Teststrecke erreicht und „abbügelt“, springt auch sofort der Ölbrenner an und die Fahrt geht nahtlos weiter. „Anfangs gab’s beim Übergang ein Ruckeln in der Lenkung. Aber das haben wir dem Actros mit der Zeit schon abgewöhnt.“ Das Fahrzeug beherrscht in gewissen Grenzen auch das Ausweichen vor einem Hindernis. Wird etwa ein Fahrradfahrer überholt, sorgt Elektronik dafür, dass der Bügel an der Oberleitung bleibt. Das passiert auch, wenn Jörg stark abbremst und die Kabine eintaucht. Grundsätzlich ist er vom Siemens-Prototyp begeistert.

„Der fährt sich eigentlich wie ein ganz normaler Lastwagen beziehungsweise 40-Tonnen-Zug.“ Siemens würde sich auch die Alltagstauglichkeit wünschen, wobei aber eine wirtschaftliche Umsetzung noch nicht angedacht ist. Cheftechniker Roland Eder: „Eine mögliche Anwendung ist uns quasi zufällig vor die Flinte gelaufen.“ Gemeint ist ein Projekt in Los Angeles. Den Hafen passieren 40 Prozent der USA-Importe. Das nächste Logistikzentrum ist allerdings 30 Kilometer entfernt – quer durch die dicht besiedelte Megacity. Den Job machen 35.000 Lkw im Shuttlebetrieb.

Deshalb strebt die Stadt eine CO2- freie Alternative an und Siemens rechnet sich Chancen für den Zuschlag aus. Das Projekt kostete die Münchener bisher 5,5 Millionen Euro inklusive einer Förderung durch das Bundesumweltministerium von 2,16 Millionen Euro. Ganz aktuell postuliert das Umweltgutachten 2012 des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU) unter Vorsitz von Prof. Dr. Martin Faulstich zwar, dass „die drastische Reduzierung unseres Rohstoff- und Energieeinsatzes sowie dessen Umweltfolgen (...) zu einer entscheidenden Systemfrage des 21. Jahrhunderts“ werden, sieht aber auch noch erhebliche Potenziale einer weitreichenden Umweltentlastung.

Der Oberleitungs-Lastwagen würde doppelt so viel kosten wie ein Modell von der Stange

Als Beispiel nennt das Gutachten explizit „oberleitungsgeführte Lkw (Trolley- Trucks), die bereits in ersten Pilotprojekten technisch getestet wurden“ und rät zur ernsthafter Weiterentwicklung. Es melden sich jedoch auch kritische Stimmen, die vor einem Einsatz im großen Stil warnen. So zitiert das Magazin „Der Spiegel“ eine Einschätzung von Professor Faulstich, dass die Bundesrepublik für die Ausstattung der Magistralen des Autobahnnetzes (A 1 bis A 9) knapp 15 Milliarden Euro aufbringen müsste.

Auch die Lkw-Technik ist nicht billig: Der Oberleitungs-Lastwagen würde geschätzt doppelt so viel kosten wie ein Modell von der Stange. Und Elektrizität ist per se noch lange nicht CO2-frei. Das Bundesumweltamt stellt auf Grund des deutschen Drittelmix fest: „Jede verbrauchte Kilowattstunde Strom setzte im Jahr 2010 nach der bisherigen Berechnung durchschnittlich 544 Gramm Kohlendioxid frei.“

Der Oberleitungs-Lkw, der von einem 200- bis 250-Kilowatt-Motor angetrieben wird, emittiert so auf 100 Kilometer Strecke zwischen rund 136 und 204 Kilogramm Kohlendioxid. Zum Vergleich: Ein moderner 40-Tonnen-Zug verbraucht 33 Liter Diesel auf 100 Kilometer, macht 86,50 Kilogramm Kohlendioxid. So gesehen würden Oberleitungs-Lkw im großen Stil unter Treibhauseffekt-Gesichtspunkten erst Sinn machen, wenn die Stromversorgung wenigstens zum großen Teil auf regenerative Quellen zurückgreifen könnte.

Außerdem produziert der in den Prototypen eingebaute Diesel natürlich auch CO2-Emissionen. Jörg Grützner schätzt den Mehrverbrauch gegenüber einem Standard-Lkw auf zwei Liter. Allerdings sei auch erwähnt, dass Cheftechniker Roland Eder sich andere Antriebe vorstellen kann, etwa Wasserstoffmotoren.

Die Frage nach der Wirtschaftlichkeit ließe sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht seriös beantworten. Siemens wird das Projekt auf jeden Fall fortführen. Neue Teststrecken sind geplant mit Schilderbrücken oder um Kurvenfahrten auszuprobieren. Jörg ist mit dieser Entwicklung hoch zufrieden, denn im Gegensatz zu früher ist er jetzt jeden Abend zu Hause.

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