Lkw-Ersatzverkehr für die Rheintalbahn Die letzte Reserve muss ran

Jan's Blog Schienenersatzverkehr Foto: Dreier 8 Bilder

Seit der kompletten Sperrung der Rheintalstrecke für den Güterverkehr müssen auch die Schweizer Spediteure, die sonst die Bahn nutzen, ihre Frachten auf die Straße verlagern. Jeder, der einen Lkw-Führerschein hat, hilft aus. 

Der Blick an seinem temporären Arbeitsplatz geht konzentriert geradeaus. Claus-Jürgen Gödecke ist 56 Jahre alt. Er ist gelernter Speditionskaufmann, er hat sein Studium an der Deutschen Außenhandels- und Verkehrsakademie (DAV) in Bremen als Betriebswirt abgeschlossen, er war Volontär bei einer Fachzeitung für Logistik, er war jahrelang in Marokko und Portugal als Unternehmer tätig, hat dort schon vor Ewigkeiten den Lkw-Führerschein gemacht und ist nun seit zwei Jahren Business Development Manager am Kölner Standort der Schweizer Spedition Dreier. Nun sitzt er am Steuer eines alten Actros MP3 mit fast 900.000 Kilometern Laufleistung. "Die Lenkung ist ein wenig schwammig", sagt er und bemüht sich, den Kühlzug vor allem in den Baustellen in der Spur zu halten. "Wie auf Schienen fährt der Lkw nun nicht gerade."

Unvorbereitet ins Chaos

Auf der Schiene Richtung Süden geht gerade gar nichts. Am 12. August sitzt Gödecke nichtsahnend in seinem Garten, als das Unheil seinen Lauf nimmt. Bei Tunnelarbeiten nahe Raststatt sackt das Gleisbett auf der wichtigsten Eisenbahnverbindung für den Personen- und Güterverkehr ein, die Strecke wird sofort gesperrt. Nichts geht mehr. Glück im Unglück: die acht Einheiten, die jeden Tag im Kombinierten Verkehr von der HUPAC nach Köln und gleichzeitig nach Aarau in der Schweiz befördert werden, sind da schon durch, sie stehen an den Zielbahnhöfen für den Nachlauf bereit. 

Als Gödecke am Montagmorgen, 14. August, ins Büro kommt, sind die Einheiten längst auf dem Weg zum Kunden. Nur der Fahrer eines Actros MP3 ist krank, das passiert, ein lokaler Unternehmer übernimmt den Auflieger. "Dann habe ich die E-Mail gelesen, dass Dreier dringend Mitarbeiter mit einem gültigen Führerschein sucht, um für eine Zeit lang im Schienenersatzverkehr auszuhelfen." Gödecke meldet sich freiwillig für drei Wochen, informiert seine Lebensgefährtin, fährt schnell nach Hause, packt ein, was er denkt, für so eine Wochentour in die Schweiz im Lkw zu benötigen und steigt am Dienstag um vier Uhr zusammen mit einem festen Fahrer, der ihn einweist, auf den freien Actros. "Ich habe für den Fall der Fälle immer alle Schulungen gemacht", sagt Gödecke. "Das letzte Mal habe ich allerdings vor drei Jahren einen unserer Lkw aus der Werkstatt geholt. Aber in so einem Fall war es keine Frage, dass ich aushelfen würde."

Desaster für die Schweizer Bahntransporteure

Letzten Freitag, den 25. August, war ich nun ihm Rahmen einer Reise durch die Schweiz bei Dreier am Standort Hunzenschwil, um einen deutschen Fahrer für meine Serie "Profi im Profil" im FERNFAHRER zu begleiten. 250 Lkw setzt Dreier ein, 70 davon im reinen internationalen Transport. 600 Wechselbrücken stehen für den Kombinierten Verkehr bereit. Da war schon klar, dass die Heimfahrt im ICE schwierig würde. Ich kenne Hans-Peter Dreier, der für den Schweizer Verband ASTAG für die Sektion Aargau die Fachgruppe Internationale Transporte vertritt, schon ein paar Jahre, und so machte er mir den ungewöhnlichen Vorschlag, mit dem Lkw zurück nach Köln zu fahren. 

Denn mittlerweile sind vierzehn Tage vergangen, seit Gödecke nun zwischen Deutschland und der Schweiz pendelt. Seine Lenkzeit läuft am Freitagabend aus. Und er hat ein Problem: Entweder er bleibt in der Schweiz stehen und fährt am Samstag allein nach Köln zurück, was nicht nur seine regelmäßige wöchentliche Ruhezeit komplett infrage stellt, sondern auch seine anfängliche Hilfsbereitschaft. "Ich hatte zugesagt unter der Bedingung, am Wochenende wieder daheim zu sein", sagt Gödecke. "Nach zwei Wochen auf Achse ist mir längst klar geworden, was das für die Fahrer bedeutet, die den Beruf das ganze Jahr machen." Oder er findet einen Beifahrer, der das Steuer übernimmt, sobald seine Lenkzeit abgelaufen ist. Und so sage ich zu, den tapferen Mann im Lkw nach Köln zu begleiten.

Erzwungene Rückverlagerung von der Schiene auf die Straße

Die Schweizer Frächter im internationalen Transport trifft der Ausfall der Bahnen über die Rheintalstrecke hart, die Rede ist von bis zu 200 Güterzügen, die nun entweder mühsam über Umwege geleitet werden. Oder über die Straße. Der Schweizer Kombi-Operateur Hupac hatte gerade erst im 50. Jahr des Bestehens ein sehr gutes Geschäftsergebnis präsentiert. "Mit einem Rekordvolumen von 737.000 transportierten Straßensendungen hat das Unternehmen einen maßgeblichen Beitrag zur Verlagerung des Schwerverkehrs von der Straße auf die Schiene geleistet", so Dreier. Fast täglich telefoniert Dreier mit Verwaltungsratspräsident Hans-Jörg Bertschi. Der Unternehmer nutzt selbst die Schiene für seine Tanktransporte, auch nach Köln-Eifeltor. 

In der lokalen Presse warnt Bertschi davor, dass das Vertrauen der Kunden in die Bahn dauerhaft verloren geht, wenn die getakteten just-in-time Abläufe nicht mehr so laufen wie geplant. Von bis zu 2.000 zusätzlichen Lkw pro Woche auf der Straße durch die Schweiz ist die Rede, seit an diesem Montag, dem 28. August, auch noch die Betriebsferien in Italien zu Ende gegangen sind. "Es gibt einfach keine freien Lkw-Kapazitäten mehr auf dem Markt", sagen Dreier und sein Leiter des Bereichs Internationale Transporte, Wolfgang Nienaber, dessen Hauptaufgabe es zunächst ist, mit den Kunden zu sprechen. "Aber den Kunden ist es egal, wo das Problem liegt. Sie wollen ihre Ware zu dem Zeitpunkt, den wir zugesagt haben."

Aufwind für die Straße auf der Rennstrecke der Bahn

Der Vorteil des Kombinierten Verkehrs liegt auf der Hand. Der Actros MP3 etwa macht pro Tag im Raum Köln drei Touren im Vor- und Nachlauf. So holt er etwa Rohschokolade aus einem Terminal in Amsterdam, die Bahn bringt den Auflieger über Nacht nach Aarau, dort holt ihn eine Schweizer Zugmaschine von Dreier wieder ab und lädt fertige Schokolade für den deutschen Markt wieder vor. "Das macht jetzt der Lkw über die Straße im Rundlauf und ist bis zu drei Tage unterwegs", so Nienaber. "Das ist nicht mehr aufzuholen." Und Dreier verzweifelt an der Deutschen Bahn oder wahlweise an der deutschen Ingenieurskunst. "So etwas darf in der heutigen Zeit nach dem Desaster mit der U-Bahn in Köln und dem Desaster mit dem Berliner Flughafen nicht mehr passieren", hadert er mit der Sperrung bis mindestens dem 7. Oktober. "Es gibt einen großen Vertrauensverlust in die Bahn, sie ist unflexibel, schwerfällig und die Kosten werden einfach überwälzt auf die Geschädigten. Nämlich die Auftraggeber. Wo gibt es denn so was? Die Bahn beweist gerade selbst, wie unflexibel sie im Störungsfall ist und gibt der Straße Aufwind auf Ihrer Rennstrecke." Dass die Bahnen im Notfall ein länderübergreifendes Krisenmanagement betreiben können, beweisen sie jetzt aber. 

Unterwegs auf der Rennstrecke

Um 17.30 Uhr begibt sich auch Claus-Jürgen Gödecke zurück auf die Rennstrecke. Gegen Mittag hat er die Rohware ausgeladen, jetzt ist der Kühlzug mit 18 Tonnen Schokolade für die Rücktour bereit. "In den letzten zwei Wochen habe ich mir fast alles selber beigebracht, was ich brauche: die Zollformalitäten, den Umgang mit dem digitalen Tacho, die Einteilung der Fahrten nach den Sozialvorschriften." Als er losfährt, hat er noch gut viereinhalb Stunden Lenkzeit, er will bis Gau-Bickelheim an der A61 kommen. Er nimmt die Grenze bei Rheinfelden, das geht schnell. Doch der Zeitplan scheitert bereits auf der A5. Zwei Staus, bei Raststatt und vor Karlsruhe, kosten wertvolle Zeit. 

Der Actros ist auf 84 Stundenkilometer begrenzt, am Berg schlägt er sich mit seinen 480 PS wacker, im Minutentakt ziehen die Wechselbrückenzüge der großen Paketlogistiker vorbei, ein Elefantenrennen gibt es erst gar nicht, so schnell sind die Fahrer unterwegs. Entlang der gesamten Strecke der A5 gibt es keinen einzigen freien Parkplatz mehr, in Bruchsal ist alles derart dicht, wie ich es in meinem "Thema des Monats" im FERNFAHRER 10/2017 beschreibe. Dort übernehme ich den Actros und fahre ihn nach Hürth. In der Tat, die Lenkung ist etwas schwammig – das hält wenigstens wach. Um zwei Uhr sind wir am Ziel. Das Wochenende für Claus-Jürgen Gödecke ist gerettet, die Schokolade kommt am Montag pünktlich ans Ziel. Noch eine Woche, noch ein oder zwei Mal in die Schweiz, dann wird er sich wieder seiner eigentlichen Aufgabe, dem Vertrieb, widmen. "Es ist für mich eine hoch interessante Erfahrung", ist sein erstes Resümee. "Seither habe ich einen riesigen Respekt davor, was die wirklichen Berufskraftfahrer Tag für Tag auf unseren vollen Autobahnen leisten."

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