Frachtpreise im Wandel Preisverfall

Frachtpreise im Wandel, Straßenkontrolle, MAN 15.192 F BDF, Spedition Westmünsterland Foto: © BAG 7 Bilder

Die 80er, 90er und das Schlechte von heute: In 30 Jahren vom deutschen Tarifparadies zur europäischen Dumpinghölle.

Eine Meldung aus Griechenland überraschte im Sommer 2010, also mitten in der Eurokrise, die deutschen Leser: Die Tankwagenfahrer streikten, weil sie um ihre Privilegien fürchteten. Genau genommen um die 33.000 Lizenzen, die es ihnen erlauben, in einem abgeschotteten Transportmarkt ihr Auskommen zu erzielen. Diese Privilegien waren den Vertretern der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds (IWF) ein Dorn im Auge: Wenn die marode Wirtschaft mit Krediten aus dem reichen Norden unterstützt würde, so hieß es, sollten die verkrusteten Strukturen, die mit zur mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft beigetragen haben, komplett aufgebrochen werden. Preissenkungen um bis zu 30 Prozent erhofften sich die Kreditgeber durch die Öffnung des Transportwesens.

Auf dem Weg vom Tarifparadies zur Dumpinghölle

Die totale Liberalisierung der Märkte ist das umstrittene "Erfolgsmodell" aus Brüssel. Wer die letzten 30 Jahre der Frachtpreisentwicklung in Deutschland betrachtet, hat Verständnis für die Sorgen der griechischen Lkw-Fahrer. Denn was ihnen noch bevorsteht, der Wertverlust ihrer limitierten, oft vererbten Transportlizenzen und der reine Wettbewerb über den Frachtpreis, hat das deutsche Gewerbe bereits hinter sich: auf dem langen Weg vom Tarifparadies zur Dumpinghölle. Wolfgang Severing, Abteilungsleiter Verkehrsentwicklung beim Bundesamt für Güterverkehr (BAG) in Köln, hat diese Phase miterlebt. Als junger Mann trat er 1983 seinen Dienst als sogenannter Frachtenprüfer bei der damaligen Bundesanstalt für den Güterfernverkehr an. Auch die deutschen Transportunternehmer kannten in den 80er-Jahren nur einen regulierten, streng abgeschotteten Markt: Seit 1952 galt der Güterfernverkehrstarif (GFT), der wiederum auf dem Reichskraftwagentarif (RKT) aus dem Jahr 1935 basierte. Das Gesetz enthielt alle Frachtsätze, Gebührensätze und die Beförderungsbedingungen. Sie waren mit der Deutschen Reichsbahn abgestimmt, um das Aufkommen der weitaus flexibleren Lkw einzubremsen. "Die Lkw-Frachten richteten sich nach einem Entfernungswerk der Eisenbahn", so Severing. "Die Güter waren in Klassen eingeteilt. So gab es für einen Transport mit hochwertigen AB-Gütern auf der Strecke von München nach Hannover genau 2.500 Mark."

1983 kostete ein Lkw zwischen 90.000 und 100.000 Mark

Statistisch waren im Westen des damals noch geteilten Landes 10.100 Unternehmen mit 41.800 roten Fernverkehrskonzessionen erfasst, im Nahverkehr 42.000 Unternehmen mit 124.000 Konzessionen in den Farbpaletten von Rosa bis Blau für den Bereich bis 150 Kilometer rund um den Standort. 1983 kostete ein Lkw (38-Tonner) zwischen 90.000 und 100.000 Mark, der Preis für den Diesel lag bei 70 bis 90 Pfennig pro Liter.

Die Speditionen waren spezialisiert: zum Beispiel wie Schröder aus Ebernhahn mit 18 Fahrzeugen, elf roten Konzessionen und 20 Kraftfahrern auf Fliesentransporte. "Unsere Fahrer bekamen rund 2.700 Mark im Monat", erzählt Joachim Altmann, der heutige Geschäftsführer. Dieser Lohn war durchaus branchenüblich, allerdings weitgehend ohne Berücksichtigung der heute gesetzlich festgeschriebenen Arbeitszeit von 48 Stunden pro Woche (im Schnitt von vier Monaten). Die maximale Lenkzeit pro Woche lag zwar wie heute bei 56 Stunden (90 in der Doppelwoche), aber es kamen wohl oft bis zu 80 Arbeitsstunden zusammen. Die ÖTV beklagte 1983, der Job sei durch frühkapitalistische Willkür der Arbeitgeber geprägt. Die Firmen rekrutierten die Fahrer meist von der Bundeswehr. Sie verdienten im Transportgewerbe deutlich mehr als in ihrem gelernten Beruf (siehe auch Dialog auf Seite 40). "Die Unternehmen mit den roten Konzessionen mussten sich beispielsweise um Rückladung keine Gedanken machen", sagt Severing. "Die Touren waren auch so auskömmlich genug." Firmen im grenznahen Bereich konzentrierten sich auf internationale Transporte zu weit geringeren Preisen. Und die rund 1.700 Mitarbeiter der damaligen Bundesanstalt kontrollierten akribisch, ob die Fahrer das Fahrtenbuch, den Frachtbrief und die Standortbescheinigung mit sich führten – sonst gab es ein Bußgeld. "Vor allem kleinere Unternehmer waren fest in das System großer Spediteure eingebunden. Sie kannten so gut wie keine Kostenrechnung, denn das feste Geld für die Touren kam ja schon irgendwie rein."

Margen bis maximal 8,5 Prozent gewährt

Doch dann begann das System zu bröckeln: Die deutschen Häfen waren bei den Nachläufen ins Hinterland teurer als die niederländischen und forderten Ausnahmen. Den Kunden wurden Margen bis maximal 8,5 Prozent gewährt. Und wer sich als Fahrer heute fragt, warum er den Lkw im Zentrallager ausladen muss, findet die Antwort in den Auflösungserscheinungen der späten 80er-Jahre. "Vor allem über die Vielzahl der logistischen Nebenleistungen wurden die bestehenden Tarife nach und nach ausgehebelt", so Severing. "Und nach der Wende 1989 überschütteten die neuen Bundesländer ihre heimischen Transportunternehmen noch schnell mit roten Konzessionen, den berühmten 19 a-Genehmigungen. Da ist man etwas über das Ziel hinausgeschossen." 1993 ebnete die Politik den Weg für einen EU-Binnenmarkt mit freien Warenströmen. Mit dem Tarifaufhebungsgesetz wurde das Transportgewerbe 1994 in den totalen Wettbewerb entlassen, die Bundesanstalt wurde umbenannt in Bundesamt für Güterverkehr, Tarifprüfer wurden arbeitslos, 800 Mitarbeiter des neuen BAG verloren ihre Arbeit. Severing wechselte in die neue Abteilung Marktbeobachtung. Erst mit der Einführung der Maut 2005 wurde die Belegschaft wieder aufgestockt, auf heute 1.750 Mitarbeiter. Es fand aber auch ein Führungswechsel statt: Studierte Logistiker ersetzen in vielen Speditionen die Schrauber der Gründergeneration, die sich noch eine Zeit lang um den Fuhrpark kümmern durften, bevor sie mit dem Einzug von Computertechnologie und Telematik nach und nach auch einem anderen Denken Platz machten.

Heftiger Preisverfall für Ladungen von und nach Berlin

Besser ist es trotzdem nicht geworden – auch wenn die Politik schon damals die Suche nach Rückladungen als Gewinn für die Umwelt pries. "Die vollkommene Liberalisierung wurde zu reinem Wild West", beklagt der Braunschweiger Spediteur und heutige BGL-Präsident Adalbert Wandt. "Ganz besonders heftig wurde der Preisverfall für Ladungen von und nach Berlin. Das EuGH-Urteil von 1985 zur Vollendung des Binnenmarktes hat uns damals zu unserem Slogan inspiriert: Unser Standort heißt Braunschweig. Unser Arbeitsplatz Europa. Leider haben wir viel Geld verloren, weil in der Folge für mehr als 30 aus versteuertem Geld gekaufte Fernverkehrskonzessionen Substanz und Werte abgeschrieben werden mussten. Und mit der Ost-Erweiterung der Europäischen Union ab 2004 sind trotz unserer Warnungen alle Dämme gebrochen."

Auch Hans Pabst aus Gochsheim trauert der alten Zeit manchmal etwas nach: "Früher hat man die Aufträge telefonisch oder im besten Fall per Handschlag abgeschlossen. Ein fester Kundenstamm mit persönlichem Kontakt hatte einen hohen Stellenwert. Dank der fest vorgegebenen Tarifvereinbarungen wussten die Kunden im Voraus, wie viel ein Transport kostet. Heute laufen die meisten Aufträge, vor allem von Großkunden, über Frachtenbörsen oder Ausschreibungsplattformen. Man ist einer von vielen Anbietern. Das ist zeitaufwendig und nur der Preis, das kann auch schon einmal der Cent sein, entscheidet. Es gibt auf der einen Seite wenig Planungssicherheit, auf der anderen Seite hat man hohen Investitionsbedarf und steht permanent im Wettbewerb."

Kostenrechung ist für viele noch ein Preisrätsel

Heute kostet laut Pabst eine Fracht von München nach Hannover für einen langjährigen guten Kunden 666 Euro plus 98 Euro Maut, als Rückladung über die Frachtenbörse Timocom auch mal 602 Euro plus Maut. Das für Griechenland vorgegebene Ziel ist hierzulande längst erreicht. Nur: Kostenrechnung ist für viele kleine Unternehmer immer noch ein Preisrätsel. Große Logistikkonzerne halten sich nach wie vor abhängige Frachtführer, denen sie die Marge diktieren. Und hoch oben in der Kölner Zentrale des BAG beobachtet Severing den Markt: Laut seiner regelmäßig veröffentlichen Mautstatistik haben deutsche Frachtführer auf den eigenen Autobahnen nur noch einen Marktanteil von rund 60 Prozent. Die spürbaren Folgen, ein  extremes Sozialdumping, hat FERNFAHRER im Bericht "Nomaden" beschrieben. Allein in Dänemark haben laut Insidern geschätzte 8.000 bis 10.000 Fahrer ihre einst gut bezahlen Jobs an Osteuropäer verloren.

Rund 51.000 Unternehmen kämpfen um Ladungen

Rund 51.000 Unternehmen mit 367.000 Fahrzeugen und 446.000 Fahrern kämpfen heute im gewerblichen Güterverkehr um Ladungen. Schröder macht immer noch Fliesentransporte – die Flotte ist auf 120 Fahrzeuge angewachsen. Altmann beschäftigt 135 Fahrer, die heute im Schnitt 2.100 bis 2.200 Euro im Monat verdienen. "Alles ist teurer geworden, die Lkw, die Löhne, der Diesel, dazu die Maut", sagt er, "aber die Frachtraten korrelieren nicht mit steigenden oder sinkenden Kosten, sondern mit der Transportmenge am Markt. Ist diese groß, so steigen die Preise. Ist diese gering und die Kosten steigen, so bedeutet dies nicht, dass auch die Frachtkosten steigen, im Gegenteil. Ich frage mich, warum viele Verlader monatliche Statistiken über diverse Qualitätsanforderungen erstellen, wenn zum Schluss doch nur der Preis zählt? Und einen Fahrermangel kann ich derzeit nicht feststellen."

Derzeit bewerben sich bei der Spedition Schröder pro Woche im Schnitt 20 Fahrer. Oft gute Leute, die am Ende des Preiswahns auf der Strecke bleiben, fürchtet Altmann.  Eben erst hat der Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) für 2012 das schlechteste Quartal seit drei Jahren gemeldet. Altmann: "Man versucht, das Thema Kraftfahrer mit Billigkräften aus den osteuropäischen Ländern neu zu gestalten. Das könnte ich verstehen, wenn dieser Lohnvorteil für das eigene Unternehmen genutzt würde. Aber dieser Lohnvorteil wird sofort weitergegeben, um zum Vorteil der Verlader das Frachtniveau weiter zu senken. Das nenne ich Selbstzerstörung der Branche."

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Harry Binhammer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Harry Binhammer Fachanwalt für Arbeitsrecht
Götz Bopp, unser Experte für Sozialvorschriften im Straßenverkehr (Lenk- und Ruhezeiten) Götz Bopp Sozialvorschriften und Güterverkehr
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