Bremsmoment Der Retarder des neuen Actros

Sekundär-Wasser-Retarder Foto: Kern, Mercedes, Voith 9 Bilder

Auf karge Kost ist der Sekundärretarder des neuen Actros gesetzt. Diese Art von Diät aber bekommt ihm ausnehmend gut.

Wasser statt Öl: Das klingt nach fader Diät. Lässt aber die Pfunde nicht nur beim Menschen, sondern auch beim Lkw purzeln. Denn dieses ganz gewöhnliche Nass hat eben doch ein paar besondere Eigenschaften. Es eignet sich zum Kochen, zum Löschen von Durst sowie Bränden und taugt obendrein ausgesprochen gut für eine besondere Art des Bremsens. Die Rede ist vom sogenannten verschleißfreien Dauerbremsen per Retarder. Zusammen mit Voith entwickelte Daimler hier ein neues System für die neue Actros-Generation.

Dieser neue Retarder, mit Wasser statt Öl als Medium, hat gleich mehrere Vorteile: So braucht er zum Beispiel nur noch die Hälfte des Platzes, auf dem sich der mit Öl betriebene Vorgänger Voith VR 115 HV breitmachte. Der Sekundär-Wasserretarder, wie ihn Mercedes nennt, spart durch den Verzicht auf den Betriebsstoff Öl den Wärmetauscher sowie das dafür nötige Gehäuse – macht rund 35 bis 40 Kilogramm weniger Gewicht. Angesichts der schwereren neuen Dieselmaschinen ein echter Pluspunkt. Obendrein bremst das Ding auch noch spürbar besser als sein ölgefüllter Vorgänger: Zwar beläuft sich das maximale Bremsmoment in beiden Fällen auf 3.500 Nm, doch fungiert der Wasserretarder zugleich als Pumpe. Da er mit dem ganz normalen Kühlwasser des Motors arbeitet, treibt er in seiner Funktion als Pumpe den Kühlmitteldurchsatz schnurstracks nach oben und kann somit eine 20 bis 30 Prozent höhere Dauerbremsleistung als sein ölbasierter Vorgänger erzielen.  

Es gibt einen feinen Unterschied zwischen Primär und Sekundär

Warum Mercedes dabei so großen Wert darauf legt, das Wörtchen "Sekundär" vor die Bezeichnung Wasserretarder zu spannen, hat einen ganz besonderen Grund. Ganz neu ist die Erfindung des Wasserretarders nicht: MAN hat schon vor Jahren im TGA einen vorgestellt – übrigens ebenfalls zusammen mit Voith entwickelt. Die Münchner legten dabei aber ebenso großen Wert auf den Zusatz "Primär" wie dieser Tage nun Mercedes auf die Bezeichnung "Sekundär". Gemeint ist damit ein jeweils ganz entscheidender Unterschied. Denn ein Primärretarder hält sich prinzipiell an das, was im Motor rotiert, und wirkt somit auf die Kurbelwelle. Der Sekundärretarder hingegen setzt bei dem an, was hinterm Getriebe an Drehbewegung vorhanden ist – und konfrontiert also die Kardanwelle mit seinen Gewalten.

Da ein Retarder konstruktionsbedingt von der Drehzahl des Teils lebt auf das er wirkt, haben die beiden Varianten "Primär" und "Sekundär" jeweils ganz eigene Stärken und Schwächen. Bei niedrigen Geschwindigkeiten dreht die Kardanwelle naturgemäß sehr langsam: Ein Sekundärretarder kann somit wenig ausrichten. Fallen aber niedrige Geschwindigkeit und hohe Motordrehzahl zusammen, dann ist der Primärretarder in seinem Element und münzt hohe Kurbelwellendrehzahl munter in Bremskraft um.  

Eine höhere Drehzahl bedeutet eine effektivere Kühlung

Klarer Fall also: Der Primärretarder ist eher für den Nahverkehr sowie den Bau gedacht, wo es in erster Linie auf hohe Bremskraft bei relativ niedrigen Geschwindigkeiten ankommt. Einen Wasser-Sekundärretarder hätte MAN ohnehin nicht gebrauchen können. Deren Getriebehersteller ZF liefert die Schaltboxen auf Wunsch mit dem „Intarder“, einem integrierten Sekundärretarder. Der Primärretarder kann hingegen nicht viel damit anfangen, wenn der Motor – wie heutzutage bei Autobahntempo üblich – mit 1.200 bis 1.300 U/min vor sich hinschnurrt. Das ist eben mehr nach dem Geschmack des Sekundärretarders, der auf genau diese Umstände zugeschnitten ist. Bei allen heute üblichen Vertretern dieser Gattung bewirkt eine zusätzliche Übersetzung namens Hochtrieb, dass aus der relativ geringen Drehzahl der Gelenkwelle erst einmal flotteres Rotieren bis etwa zum Doppelten dessen wird, womit die Kardanwelle so um die eigene Achse wirbelt.

Auch der Hochtrieb-Sekundärretarder braucht eine gewisse Motordrehzahl, um effektiv zu arbeiten. Da das Funktionsprinzip des hydrodynamischen Retarders nun einmal darauf basiert, Bewegungsenergie in Wärmeenergie umzusetzen, hat die Kühlung eben auch ein Wörtchen mitzureden. Und in dieser Hinsicht bedeutet höhere Drehzahl auch immer effektivere Kühlung. Beizeiten zurückzuschalten, das ist bergab auch mit Retarder immer noch eine gute Idee. Für den neuen Actros mit 13-Liter-Motor zum Beispiel heißt das: Gibt der Sekundär- Wasserretarder im zwölften Gang bei 85 km/h ungefähr 455 PS an Bremsleistung frei, so sind im zehnten Gang bei gleicher Geschwindigkeit dann immerhin schon stolze 495 PS Bremsleistung möglich.

Wasser besitzt eine hohe Wärmekapazität

Zum Vergleich: Der bekannte Ölretarder Voith VR 115 HV kommt unter ähnlichen Voraussetzungen im zwölften Gang auf gut 325 PS Bremsleistung, im zehnten auf eine Bremspower von rund 415 PS. Gesellt sich zu den respektablen Kräften des neuen Wasser-Sekundärretarders nun noch die neue Motorbremse des OM 471, dann dürfte bald keine noch so steile Abfahrt mehr nach nennenswertem Tritt auf die Betriebsbremse verlangen: Ungefähr 950 Brems-PS sind mit solch vereinten Kräften bei 85 km/h im zehnten Gang geboten, bei 90 km/h klettert der Wert im zehnten gar in den vierstelligen Bereich. Es kommt zu einer Bremsleistung von exakt 1.020 Pferdestärken, die die Fuhre dann in Zaum hält.

20 bis 30 Prozent stärker als beim Vorgänger ist die Kombination aus Wasserretarder und neuer Motorbremse beim neuen Actros also allemal. Drei praktische physikalische Merkmale des Wassers machten sich die Techniker hier zunutze: Es besitzt sowohl eine hohe Dichte als auch eine hohe spezifische Wärmekapazität, sprich die Fähigkeit, Energie in Form von Wärme aufzunehmen. Für die mechanische Funktion ist es dabei vorteilhaft, dass die Viskosität des Wasser nahezu temperaturunabhängig ist. Viele Merkmale konnten die Entwickler von Voith und Mercedes vom bewährten ölbetriebenen Retarder ohne Weiteres übernehmen. Dazu gehört zum einen die Einbauposition hinter dem Getriebe, wobei die Retarderantriebswelle mit der Gelenkwelle des Fahrzeugs verbunden ist, der Stator aber felsenfest im Retardergehäuse verankert ist.

Der Sekundär-Wasserretarder benötigt keinerlei Wartung

Zum anderen bedient sich der Sekundär- Wasserretarder ebenso wie sein Öl-Pendanteiner gewissen Verschiebung des Rotors, um die Verlustleistung im Leerlauf zu minimieren: Federkraft bringt den Rotor während der Ruhephase auf die energiesparende Distanz zum Stator. Kommt dann der Bremsbefehl, zieht das sich aufbauende Bremsmoment den Rotor in die Arbeitsposition. Der Positionswechsel entsteht durch die Verwendung einer sogenannten Drallverzahnung auf der Ritzelwelle.

Im Betrieb zeichnet sich der Sekundär- Wasserretarder auch durch den erfreulichen Umstand aus, dass er keinerlei Wartung benötigt. Während sich das Öl im separaten Kreislauf eines herkömmlichen Ölretarders eben doch im Lauf der Zeit aufarbeitet und bisweilen zu ersetzen ist, sind der Kühlfl üssigkeit des Motors solche Verschleißerscheinungen fremd. Die Diät „Wasser statt Öl“ fruchtet also in vielerlei Hinsicht beim neuen Actros. Dem Bremsen gibt sie gar eine besondere Würze. Dass diese Kost fad schmeckt, lässt sich am Ende jedenfalls nicht mehr behaupten.

Hydrodynamische Bremsen im Detail

Der von Voith und Mercedes entwickelte Sekundär- Wasserretarder ist der erste seiner Art im Lastwagenbau. Die Konstruktion des hydrodynamischen Retarders wirkt einfach: Zwei Schaufelräder stehen sich als Kontrahenten gegenüber, von denen das eine (Rotor genannt) mit der Kardanwelle des Fahrzeugs, das andere (Stator genannt) starr mit dem Gehäuse des Retarders verbunden ist. Flüssigkeit kann damit folgendermaßen zum Bremsen genutzt werden: Der über die Gelenkwelle angetriebene Rotor beschleunigt die Flüssigkeit. Der Stator stellt sich dieser Strömung aber entgegen und bremst somit das Duo Rotor und Gelenkwelle ab.
Auf diese Weise verzögert das System die Fahrt des Fahrzeugs. Aus der mechanischen Energie der Antriebswelle wird zuerst die Bewegungsenergie der Flüssigkeit, die ihrerseits in Wärme umgewandelt wird und über die Motorkühlung abgeführt wird.
Je mehr Flüssigkeit im System ist, desto stärker fällt die Bremswirkung aus. Die Dosierung geschieht über ein Steuerventil. Wasser hat dabei durchaus seine Tücken in Hinsicht auf Dichtheit und Optimierung der inneren Reibung. Üblicher sind deshalb immer noch ölbasierte Systeme, die entweder in das Getriebe integriert sind, wie etwa der Scania- Retarder oder der ZF-Intarder, der bei MAN, DAF und Iveco zum Einsatz kommt.
Extern am Getriebeausgang sitzen Voith-Retarder beim alten Actros sowie bei Volvo und Renault. Integrierte Retarder teilen den Ölhaushalt mit dem Getriebe und kommen Nebenabtrieben kaum ins Gehege.
Externe Retarder verfügen über einen eigenen Ölhaushalt. Das ermöglicht die Verwendung kleinerer Zusatzmengen ganz spezifi scher Öle und bedeutet keine thermische Zusatzbelastung des Getriebeöls, bringt im Gegenzug aber auch mehr Aufwand bei der Wartung mit sich.

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