Änderung der Sozialvorschriften Angriff auf die Ruhezeiten

Ostblock Osten Lkw Kontrolle Bußgeld Foto: Jan Bergrath 5 Bilder
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Kaum tritt das deutsche Verbot, die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit im Lkw zu verbringen, in Kraft, da droht ein politischer Winkelzug: Die EU-Kommission will mehr verkürzte Ruhezeiten erlauben.

Die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit im Lkw zu verbringen, ist nun nach nationalen Gesetzen in Belgien, Frankreich und den Niederlanden auch in Deutschland verboten. Der Bundesrat bestätigte Ende März eine entsprechende Klarstellung im Fahrpersonalgesetz. Dieses Verbot erregt auch bei vielen deutschen Fahrern Unverständnis. Doch in Zusammenhang mit den politischen Winkelzügen, die offenbar bei der EU-Verkehrskommission in Brüssel geplant sind, steht wohl ein Generalangriff auf das gesamte Konstrukt der Ruhezeiten in der EU-Verordnung 561/2006 bevor. Dieser könnte die nationalen Schritte gegen das zunehmende Sozialdumping nicht nur aushebeln, sondern das bestehende Nomadentum vieler Fahrer aus Mittel- und Osteuropa (MOE), das dadurch eigentlich bekämpft werden soll, im Sinne der Wirtschaft und zum Nachteil der Fahrer legalisieren.

Szenarios zur Errechnung der regelmäßigen wöchentliche Ruhezeit. Foto: ETM Verlag
Drei mögliche Szenarios zur Errechnung der regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeit.

Bislang gilt für die Reihenfolge der reduzierten und regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeiten eine einfache Faustregel. Nach einer regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeit von 45 Stunden kann in einem definierten Zwei-Wochen-Zeitraum eine reduzierte Ruhezeit von 24 Stunden folgen, dann wieder eine regelmäßige.

Deutsche Speditionen gründen Niederlassungen im Osten

Die fehlenden 21 Stunden der reduzierten Ruhezeit müssen zusammen mit der nächsten regelmäßigen Ruhezeit ausgeglichen werden. Dabei ist es seit jeher nur erlaubt, die tägliche Ruhezeit (9 oder 11 Stunden) und die reduzierte wöchentliche Ruhezeit im Lkw zu verbringen. Dieses Gebot wurde allerdings bislang weitgehend ignoriert. Fakt ist: Immer mehr Lkw aus Osteuropa sind im Westen unterwegs und treiben durch die deutlich günstigeren Löhne der Fahrer auf den hiesigen Märkten die Preise immer weiter nach unten. Als Folge gründen nach Firmen aus Belgien und den Niederlanden nun auch immer mehr Speditionen aus Deutschland Niederlassungen im Osten, um im Wettbewerb mitzuhalten. Teilweise geschieht das illegal.

Erst im März flog in der Slowakei nach einer Razzia in Belgien ein Netz von Briefkastenfirmen auf. Eine konsequente Kontrolle des Verbots nun auch in Deutschland durch die Polizei oder das BAG hätte zur Folge, dass die Frachtführer mittelfristig ihre Tourenplanung ändern müssten, wenn ihre Fahrer nicht mehr am Wochenende auf überfüllten Rastanlagen an den Autobahnen oder in elenden Industriegebieten campieren dürfen. Die Vorstellung, dass nun an Logistik-Knotenpunkten Containerdörfer für die Fahrer entstehen, scheitert wohl allein an der Masse der betroffenen Fahrer, Einzelfälle jedoch nicht ausgeschlossen. Bislang haben sich neben dem deutschen Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) vor allem die deutschen Spitzenverbände BGL und DSLV gegen ein weiteres nationales Verbot und für eine politische "europäische Lösung" ausgesprochen. Doch bei der aktuellen Blockbildung in Europa wird es wohl keine europäische Lösung zum gemeinsamen Verbot der regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeit im Lkw geben. Was für den Westen Maßnahmen gegen Sozialdumping sind, bezeichnen die Länder des Ostens als Protektionismus.

Europäische Transportarbeiter Föderation zeigt sich alarmiert

Das Dilemma wird aller Voraussicht nach der Europäische Gerichtshof (EuGH) lösen müssen. Dessen Generalanwalt hat jetzt erklärt, dass es schon immer verboten war, die 45-Stunden-Ruhezeit im Lkw zu verbringen. Ganz Europa wartet daher gespannt auf die sogenannte Straßeninitiative von EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc, die sie nach Informationen der Europäischen Transportarbeiter Föderation (ETF) nun sehr wahrscheinlich am 31. Mai vorstellen will. Die ETF ist im Rahmen des Sozialen Dialogs neben den Lobbyisten von Wirtschaft und Logistik ebenfalls ein Berater dieser Kommission. Am Gesetzgebungsverfahren zwischen EU-Kommission, EU-Parlament und Ministerrat, dem sogenannten Trilog, ist sie nicht beteiligt. Sie versucht, wie die IRU für die Speditionen, Einfluss auf die Entscheidungen zu nehmen. Natürlich im Sinne der Fahrer. Bislang, so Roberto Parrillo, der Präsident der ETF für den Sektor Straßenverkehr, ging man bei der ETF davon aus, dass Bulc die EU-Verordnung 561/2006 selbst nicht anpacken, sondern lediglich strittige Punkte klarstellen wollte. Auf einer Pressekonferenz Ende März in Brüssel zeigte sich die ETF nun alarmiert. Neben einigen anderen Punkten soll die Kommission offensichtlich planen, die bisherige Reihenfolge der Ruhezeiten zu ändern.

Das Verbot, die 45 Stunden im Lkw zu verbringen, wäre damit weitgehend wirkungslos – abgesehen von der Frage, ob sich dieses Vorhaben im Rahmen des europäischen Rechts bis zu den Neuwahlen in Europa im September 2019 ändern ließe. In drei Szenarien (siehe Grafik) zeigt die ETF auf, dass wohl konkret überlegt wird, mehrere reduzierte Ruhezeiten hintereinander zu erlauben. Damit wären legal Rundläufe von drei bis vier Wochen möglich – und die Fahrer müssten während dieser Zeit weiterhin im Lkw campieren. Auch wäre die bisherige Doppelwoche mit maximal 54 und 36 Lenkstunden hinfällig. "Es ist zu befürchten, dass dann auch die Lenkzeiten erhöht werden", sagt Parrillo. Die EU-Kommission will sich bis zur Bekanntgabe der eigenen Vorschläge zu diesen Spekulationen nicht äußern.

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
FF 06 Titel
FERNFAHRER 06 / 2017
2. Mai 2017
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2. Mai 2017
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