Zehn Jahre Verdi Fehlende Mitgliederstimmen

Verdi-Stand auf dem Marktplatz Foto: Bergrath, Verdi 6 Bilder

Kämpft Verdi nun für Lkw-Fahrer oder nicht? Ja und nein. Es gibt einige engagierte Funktionäre, aber auch viel zu wenig Fahrer in der Gewerkschaft.

Die Sonne lacht über dem Marktplatz von Plön in Schleswig-Holstein. Ein Kofferzug der Spedition Sengelmann aus Ratekau steht dort mit offener Fahrertür und Verdi hat ein Zelt aufgebaut. Siegfried Heinke, der Fahrer des Lkw und Verdi-Mitglied, verteilt Broschüren über die Arbeitsbedingungen in der Branche. Die sind nicht gut, erzählt er den interessierten Passanten. "Obwohl die Arbeitszeit pro Monat auf durchschnittlich 208 Stunden begrenzt ist, betragen die monatlichen Schichten bei Fahrern anderer Unternehmen bis zu 300 Stunden. Setzt man die tatsächliche Arbeitszeit ins Verhältnis zum Monatslohn, der häufig nicht mal 1.800 Euro brutto ausmacht, ergibt sich für viele Kollegen ein Stundenlohn von sechs Euro oder sogar weniger."

Bei Sengelmann, heute ein Unternehmen der Nagel-Gruppe, wird Heinke nach Tarif bezahlt, sein Einsatz, aber auch sein Entgelt richten sich nach dem Arbeitszeitgesetz. Das verstehen viele Fahrer trotz aller Aufklärungsversuche immer noch nicht. Nach außen seriöse Unternehmen liegen deshalb nach wie vor im Wettbewerb mit den sogenannten "schwarzen Schafen" der Branche, die aber, und das ist ein noch zu klärender Widerspruch, wider besseren Wissens genau deshalb sehr gerne als Subunternehmen von Logistikkonzernen oder Speditionen eingesetzt werden, weil sie billiger sind als der eigene Fuhrpark.

Eine Gewerkschaft ist ein Solidargemeinschaft

Billiger können sie nur deshalb sein, weil Fahrerlöhne rund ein Drittel der Fuhrparkkosten ausmachen. Und weil dort vielfach Fahrer beschäftigt sind, die aus Angst um ihren Job so ziemlich alles mit sich machen lassen. Lkw-Fahrer sind schon immer Individualisten gewesen, aus allen Branchen kommend, tagelang unterwegs, um durch Stundenkloppen am Monatsende unter Einberechnung der Nettospesen durchaus mehr Geld nach Hause zu bringen als im Job zuvor. Dazu ein wenig Freiheit und Abenteuer. Jeder kämpft am liebsten für sich allein.

Wer als engagierter Gewerkschafter allerdings erlebt hat, wie diese harten Kerle, die sich abends beim Bier ihre eigenen kleinen Heldengeschichten erzählen, förmlich zusammenbrechen, wenn der Chef eine verdiente Lohnerhöhung verweigert, der ballt innerlich die Fäuste, wenn dann auch noch der legendäre Satz folgt: "Die Gewerkschaft, die tut ja nichts." Wie sich Politiker erhoffen, durch eine gemeinsame Währung unterschiedliche Kulturen in Europa zur finanzpolitischen Vernunft zu zwingen, so irren sich auch viele Arbeitnehmer in ihrer Meinung zur Gewerkschaft. Egal aus welcher Branche, sie ist eine Solidargemeinschaft und keine Versicherung. Arbeitnehmer schließen sich zusammen, um ihre Forderungen gegenüber den Arbeitgebern durchzusetzen. Im Notfall durch das gesetzlich verbriefte Mittel des Streiks.

Drei Prozent der Fahrer sind in der Gewerkschaft vertreten

Dieses Recht haben aber eben nur Mitglieder einer Gewerkschaft, die diese letzten Endes teuren Aktionen – inklusive des Streikgelds – auch aus den Mitgliederbeiträgen finanziert. Es ist das letzte Mittel, wenn die Tarifverhandlungen ins Stocken geraten. Von den rund 777.000 sozialversicherungspflichtigen Fahrern im gewerblichen Güterverkehr in Deutschland sind knapp drei Prozent in der Gewerkschaft vertreten. Nur deshalb können es sich über die Hälfte der Transportunternehmen überhaupt leisten, gar nicht oder ohne Tarifbindung in einem der regionalen Arbeitgeberverbände zu sein und ihre Löhne nach Gutdünken zu zahlen.

Es fehlt die klare Gegenmacht – jedenfalls so lange, bis sich keiner mehr findet, der sich den schlechten Bedingungen unterwirft. Der Schein, früher, zu Zeiten der guten alten ÖTV, war alles besser, trügt. Die Zahl der Mitglieder aus Fahrerkreisen und damit der Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen ist in etwa gleich schlecht geblieben. Doch, natürlich hat sich in den über zehn Jahren, seit die ÖTV in Verdi aufgegangen ist, etwas geändert. Die Frage des Geldes nämlich. Als Verdi gegründet wurde, entwickelte sich gerade die halbstaatliche Post durch den Zukauf zunächst von Danzas und dann von DHL zu einem privaten Logistikkonzern. Es lag also nahe, die Fahrer dem Fachbereich zuzuschlagen, der nun dank vieler Mitglieder der drittgrößte geworden ist.

Wie immer spielt das Finazielle eine große Rolle

Die Idee, Aktionen für Fahrer auch über die Beiträge der Postbediensteten zu finanzieren, war logisch, hat aber einen großen Nachteil: Wer das Geld hat, bestimmt die Richtung. So sind logischerweise in zentralen Funktionen des Fachbereichs Leute installiert, die auch gedanklich der Post näher stehen als der Logistik. Viele altgediente Lkw-Fahrer, die als sogenannte "Ehrenamtliche" die politischen Leitlinien im Fachbereich mitgetragen haben, sind ausgeschieden. Hier ist es wie bei jeder normalen Wahl: Wer wenig Stimmen von Mitgliedern auf sich vereinigen kann, hat letzten Endes auch nichts zu sagen.

So ist, auf der anderen Seite, der Eindruck, dass Verdi in der Öffentlichkeit nichts für die Fahrer tut, nicht ganz von der Hand zu weisen. Die politischen Hintergrundaktivitäten der Bundesverwaltung, die sich beispielweise in Forderungen zum Aktionsplan Logistik oder bei der Lösung des Rampenkonfliktes zeigen, sind wenig spektakulär. Und sie bringen auch nicht viel außer einer Goodwill-Bekundung der Gegenseite, denn jeder Verhandlungspartner weiß: Kommt es wirklich einmal drauf an, ist mit schlagkräftigen Aktionen der Fahrer schlicht mangels Masse nicht zu rechnen. Man kann auch den Frust altgedienter Funktionäre gut verstehen, die sich in manchen großen Betrieben für die Belange der Fahrer eingesetzt haben und dann, wenn ein Betriebsrat gegründet werden sollte, miterleben mussten, wie ihnen die vom Chef vorher eingeschüchterten Fahrer am Firmentor laut hupend mit dem Lkw fast über die Füße gefahren sind.

Die Unternehmer bekämpfen die Gewerkschaft

Sich um die Interessen der Fahrer zu kümmern heißt: Zeiteinsatz. Oft auch am Wochenende. Manche junge Funktionäre aus den Landesverbänden wie Manuel Sauer in Kassel versuchen immer wieder, mit den Fahrern in Kontakt zu treten, bieten regelmäßige Frühstückstreffen an oder schlagen intern sogar vor, entlang der A 7 ein festes Betreuungsbüro einzurichten. Das war bereits zu Zeiten der ÖTV eine mögliche Strategie, die aber auf wenig Interesse der Fahrer gestoßen ist. Sie ist zum Teil auch deshalb nach und nach versandet, weil die Unternehmer selbst seit Urzeiten die Gewerkschaft bekämpfen. Nahezu legendär ist dazu eine Anekdote aus dem Hamburger Hafen. Als Verdi dort einen Container als Anlaufstelle aufstellte, war zwei Tage später der Eingang blockiert – durch einen anderen Container.

So bleibt es meist nur bei einer einzigen öffentlichkeitswirksamen Aktion im Jahr – der ITF-Aktionswoche im Herbst, kleinen Kampagnen in Innenstädten, Logistiklagern und großen Rastplätzen, wo hoffnungsfrohe Funktionäre aufwendige Handzettel an Fahrer verteilen, denen der Bart des Desinteresses geradezu aus der Kabine wächst. Anders ist es wohl auch nicht zu erklären, dass sich auf die tausendfach verteilte Aufforderung hin, an einer Online-Umfrage mitzuwirken, gerade mal 250 Fahrer beteiligten. "Das hat uns wirklich sehr enttäuscht", sagt Bundesfachgruppenleiter Werner Schäffer ganz offen: "Denn die Probleme, die uns geschildert werden, sind ja seit Jahren immer noch dieselben. Lange Arbeitszeiten, schlechte Pauschallöhne, miese Behandlung an den Rampen und dazu eine hohe seelische und körperliche Belastung. Doch wenn sich die Fahrer nicht endlich solidarisieren, können wir selbst in einer so starken Gewerkschaft wie Verdi leider nur wenig für sie tun."

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