Westhafen Herne Sozialdumping im KV-Terminal

Jan Bergrath Foto: Jan Bergrath
Meinung

Die Lkw-Fahrer aus Südosteuropa, die im Auftrag internationaler Logistiker bis zu zwei Monate lang im Westhafen von Herne stationiert sind, interessiert weder der Preiskampf in der europäischen Logistik noch die Verhandlungen zum Mobilitätspaket. Sie wollen in erster Linie ihre Familien in den Armutsländern ernähren.

Es ist Samstagmittag und frühsommerlich warm. Campingwetter, quasi. In einer Straße im Gewerbegebiet Am Westhafen in Herne, unmittelbar neben dem dortigen Terminal des Kombinierten Verkehrs, stehen auf beiden Seiten gut zwei Dutzend Zugmaschinen. Fahrer schleppen Tüten voller Lebensmittel vom nahegelegenen Discounter zu ihren für das Wochenende dicht aufgereihten mobilen Wohnquadraten. Sie sind recht bunt durcheinander gemischt, und sie entsprechen nicht unbedingt dem, was heute in der modernen Logistik ganz allgemein als „nachhaltig“ angesehen und mit Preisen bedacht wird. Es mag zwar gut sein, dass der internationale Kombinierte Verkehr beim großen Streckenanteil über die Schiene die Umwelt mehr schont als der Langstreckenverkehr über die Straße, aber wenn im Vor- und Nachlauf Lkw aus vornehmlich südosteuropäischen Ländern überwiegend mit Euro-5- oder sogar Euro-4-Motoren die Trailer zum Kunden bringen, dann ist das für mich, freundlich gesagt, kontraproduktiv.

Kombiverkehr ist keine Kabotage

Ebenso ist es unbestritten, dass es einen gesellschaftlichen Mehrwert gibt, wenn die Fahrer im Kombinierten Verkehr jeden Abend daheim sind. Aber ist das wirklich so? Die Zustände in den Terminals zeigen eigentlich das Gegenteil. Seit der ersten Osterweiterung im Jahr 2004 ist der Anteil der Flotten aus Osteuropa im Vor- und Nachlauf kontinuierlich gestiegen. Mit erheblichen Wettbewerbsnachteilen für die heimischen Frachtführer, wie ich es bereits im letzten Jahr für die Friedrich-Ebert-Stiftung beschrieben habe. Auch weil es eben eindeutig keine Kabotage ist, wenn eine Zugmaschine beispielsweise aus Litauen in Italien einen Trailer etwa mit Rostocker Kennzeichen auf die Schiene setzt und ein bulgarischer Lkw diesen in Herne für eine Zustellung im Rheinland oder Ruhrgebiet wieder abholt. Erst das geplante Mobilitätspaket soll das nun ändern, wie ich im Heft 6/2019 des FERNFAHRER ausführlich beschrieben habe. Wenn es denn irgendwann nach der Europawahl auch so kommt.

Wettbewerb? Nein. Binnenmarkt.

Am Ende der Phalanx der Blechkisten, unter einem schattenspendenden Baum, treffe ich „Mome“ Trajkowiski. Er ist 61 Jahre alt. Er kommt aus Nordmazedonien, wie es ganz korrekt heißt. „Mome“ ist sein Spitzname. So kennt man ihn der Gruppe der ebenfalls rund zehn mazedonischen Fahrer, die hier zusammen kochen. So wie jedes Wochenende, wie sie über den Dolmetscher erzählen. Zwei Monate lang. Bevor sie entweder in die Heimat fliegen oder von einem Shuttlebus abgeholt werden. Sie alle haben, das hat geschichtliche Gründe, eine doppelte Staatsbürgerschaft in Bulgarien, weshalb sie auf einem in Bulgarien zugelassenen Lkw überall im europäischen Binnenmarkt Transporte machen können. In Herne stehen Lkw lauter kleiner Frachtführer mit einem bis fünf Lkw. Vom Preiskampf mit den deutschen Wettbewerbern wollen die Fahrer nichts wissen. Das sei der Binnenmarkt. Sie beklagen sich, dass sie am Wochenende an diesem Terminal noch nicht einmal Zugang zu Wasser und Toiletten haben.

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Schon 41 Jahre auf Achse

Genau 41 Jahre, so erzählt „Mome“, ist er nun Lkw-Fahrer. Er war er nicht nur überall in Europa sondern bis weit in die Tiefen Russlands oder des Nahen und Mittleren Ostens unterwegs, klassische Routen für damals noch jugoslawische Langstreckenfahrer vor dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs. Deutsche Edel-Trucker mit Cowboyhut und Kellnerbörse an der Silberkette, die tagsüber von Wanne-Eickel nach Gütersloh fahren, müssten sich angesichts der ruhigen Erzählungen von den realen Abenteuern dieses Mannes auf Achse eigentlich vor Ehrfurcht unter die Kardanwelle flüchten, statt sich immer wieder und immer öfter auf Facebook über diese Menschen und ihre Fahrkünste lustig zu machen. Zwei Jahre, bevor er nun im Kombinierten Verkehr von Herne aus jeden Tag nach Belgien fährt, war er noch nach Schweden und Norwegen unterwegs.

Die Familie auf dem Smartphone immer dabei

Drei erwachsene Kinder hat „Mome“ daheim in Kumanovo unweit Skopje. Sie sind 35, 34 und 24 Jahre alt, sein Enkel spielt, wenn ich es angesichts der Fotos auf dem Smartphone richtig verstanden habe, Handball in der Jugendnationalmannschaft. Die jüngste Tochter hat gerade geheiratet. Seine Familie lebt in einem der ärmsten Länder des Balkans. Als Fahrer im nationalen Transport würde er dort im Schnitt 250 bis 300 Euro im Monat verdienen. Mehr nicht. Das ist der Grundlohn. Also ist er auf das Angebot eingegangen, für einen bulgarischen Frachtführer im Auftrag eines internationalen Logistikers Touren in Deutschland zu fahren. Dafür bekommt er im Monat, wenn er fährt, 1.800 Euro netto. Der überwiegende Teil sind Nettospesen. Das Modell also, das derzeit massiv in der Kritik steht. „Davon“, so verrät „Mome“, „schicke ich jeden Monat 1.500 Euro nach Hause zu meiner Familie.“

Zoll "unterläuft" Mindestlohngesetz

Damit ist er der Prototyp des osteuropäischen Musterfahrers aus dem Mindestlohngesetz der ehemaligen Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles, die sich als SPD-Parteivorsitzende gerne als Schutzheilige der Lkw-Fahrer zeigt. Leider "unterläuft" der Zoll nach Anweisung aus dem Bundesfinanzministerim das Mindestlohngesetz durch diesen einen Satz. „In Fällen, in denen die tatsächlichen Aufwendungen des Arbeitnehmers niedriger als das Tagegeld sind, kann die Differenz auf den Mindestlohn angerechnet werden." Tagegeld ist nur ein anderes Wort für Spesen, Somit ist das Spesenmodell der Osteuropäer in Deutschland kaum zu kontrollieren.Siehe dazu auch die Erläuterungen des Zolls.

Ob „Momo“ irgendeinen finanziellen Vorteil hätte, wenn er nun von seinem bulgarischen Chef für die Zeit, die er in Deutschland fährt, den deutschen Mindestlohn bekommen soll, ist mir bis heute nicht klar. Wahrscheinlich würde er, wenn sein Chef keine höhere Fracht bei seinem Auftraggeber durchsetzt, woran es erhebliche Zweifel gibt, als Ausgleich nur weniger Spesen bekommen. Und seine Familie weniger Geld.

Unterwegs ohne Krankenversicherung

Und wahrscheinlich müsste zuerst das mazedonische Sozialversicherungssystem geändert werden, damit aus dem Sozialversicherungsbestandteil des üppigen deutschen Mindestlohns überhaupt etwas abgeführt werden kann. Darauf hat die EU aber keinen Einfluss. Die Realität ist: Wenn „Mome“ dann die anderen zwei Monate daheim ist, so räumt er ein, bekommt er gar nichts. Unterwegs ist er auch nicht, so wie die deutschen Fahrer, krankenversichert. Eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kann er sich gar nicht vorstellen. Sollte er in Deutschland zum Arzt müssen, müsste er das, so er es sich leisten könnte, privat bezahlen. Sollte es ihn richtig schlimm erwischen, so müsste er sich ins nächste Flugzeug setzen und sich in einem mazedonischen Krankenhaus behandeln lassen.

Brutaler Verfall der Frachtpreise

Alles das trägt wiederum mit dazu bei, dass sein Chef seinen Lkw im deutschen Kombinierten Verkehr deutlich billiger anbieten kann. Ein betroffener deutscher Unternehmer spricht von rund 300 bis 320 Euro am Tag für den Vor- und Nachlauf, die derzeit der Kurs sind. Mit seinen realen Kosten müsste ein deutscher Unternehmers so einen Lkw am Tag für rund 600 Euro anbieten. Doch wie soll das gehen, wenn auf Frachtenbörsen eine Komplettladung für einen Sattelzug von Neuss nach Everswinkel, 157 Kilometer, für 100 Euro angeboten wird?

Das BAG schaut bereits seit Jahren zu

Das alles ist legal, möglich aber erst, weil sich über die Jahre diese Frachtführer in den KV-Terminals und Binnenhäfen angesiedelt und seither wie eine Flechte ausgebreitet haben. Sie hätten, so wollte seinerzeit die Kommission durch die EU-Verordnung 561/2006, alle zwei Wochen wieder nach Hause fahren sollen. Aber das hat leider niemand konkret ins Gesetz geschrieben. Erst der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im Dezember 2017 klargestellt, dass es bereits seit 2007 mit Inkrafttreten der VO (EG) 561/2016 verboten war, die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit im Lkw zu verbringen.

Bis 2013 hat sich niemand wirklich darum gekümmert, bis Belgien wenig später als erstes Land ein nationales Verbot ausgesprochen hat. Und das Bundesverkehrsministerium hat sich immer darauf berufen, was sachlich richtig ist, dass es im deutschen Bußgeldkatalog kein Bußgeld für diesen Artikel 8/Absatz 8 aus den europäischen Sozialvorschriften gibt. Das Bundesamt für Güterverkehr musste tatenlos zuschauen.

Verstoß nur in der Gegenwart zu ahnden

Inzwischen gibt es ein deutsches Verbot, eingebracht durch den Bundesrat und angesiedelt im deutschen Fahrpersonalrecht. Es wird seit September 2017, wie ich mehrfach beschrieben habe, vom BAG nach deren verfügbaren Kapazitäten kontrolliert. Dort hat man erkannt, dass allerdings der Montag der ideale Kontrolltag ist. Denn nach der geltenden Definition der Verordnung muss der Fahrer praktisch „auf frischer Tat“ im Lkw erwischt werden. Aber erst, wenn die 45 Stunden bereits vollendet sind. Es würde also nichts bringen, sollte das BAG am Sonntag durch die Reihen der Lkw in Herne laufen und sich den Tagesausdruck zeigen lassen. Also etwa nach 35 Stunden Ruhezeit. Selbst wenn klar ist, dass die Fahrer erst ab 6.00 Uhr am Montag wieder einen Trailer im Terminal aufnehmen. Nach dem deutschen Ordnungswidrigkeitsgesetz kann jemand nur belangt werden, wenn ein Verstoß begangen wurde – und nicht in absehbarer Zukunft begangen wird.

Kein Nachweis für die Vorwochen nötig

Ich selber habe, zugegeben, eine Zeit gebraucht, das zu verstehen und zu akzeptieren. Kurz danach kam dann der Tiefschlag. Als die Europäische Kommission in einem Schreiben an die IRU, die Vertretung der europäischen Unternehmerverbände in Brüssel, erklärte, dass die Fahrer keinen Beleg, wo sie ihr Wochenende verbracht haben, mitführen müssen. Ein übles Überraschungssei um Ostern. Dennoch forderte die IRU zusammen mit der ETF, der Vertretung der europäischen Gewerkschaften in Brüssel, dass das anstehende Mobilitätspaket nur Erfolg haben würde, wenn die Vorgaben konsequent durch die zuständigen nationalen Behörden kontrolliert würden.

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Strafe für den Fahrer

„Mome“ Trajkowiski hat nur am Rande etwas von einem Mobilitätspaket mitbekommen. Er beschwört, wie seine Kollegen, dass man sich an alle Vorgaben halte, es gäbe bei ihnen keine Verstöße gegen die Lenkzeiten. Dass er nicht im Lkw übernachten darf am Wochenende, kann er nicht verstehen. Er habe doch alles dabei. Nur würde er sich gerne im Terminal vernünftig waschen können. In Duisburg, bei einem Terminal eines Containerlogistikers, sei das alles gut geregelt. Aber er steckt nun einmal in Herne fest. Kann mit dem Lkw noch nicht einmal in die Stadt fahren. Weil er sonst seine Ruhezeit unterbricht. Und sollte ihn das BAG eines fernen Tages doch an einem Montagmorgen kontrollieren, müsste er, weil nach dem deutschen Bußgeldkatalog immer Fahrer und Unternehmer bestraft werden, 500 Euro zahlen, weil er im Lkw gewohnt hat. Er würde in diesem Monat also weniger Geld nach Hause schicken oder hätte für seinen Eigenbedarf ein Minus von 200 Euro.

Trotz allem Verständnis für den protektionistischen Grundgedanken des Mobilitätspakets, dieser Punkt ist für mich eine schreiende Ungerechtigkeit. Am Mehrwert für den Logistiker oder seine Kunden, die ihre Waren preiswerter als mit deutschen Fahrern transportieren lassen, würde es nichts ändern.

Nachtrag - BAG-Kontrolle

Das Bundesamt für Güterverkehr hat reagiert und nach Erscheinen des Blogs eine Kontrolle im Hafen Herne durchgeführt, wie die Pressetelle auf meine Anfrage mitteilte. "Kontrolliert wurden insgesamt 16 Fahrzeuge. 12 davon hatten eine bulgarische Zulassung. Von diesen 16 Fahrzeugen wurden 4 beanstandet. Festgestellt wurde bei 2 Fahrzeugen mit bulgarischer Zulassung und einem Fahrzeug mit polnischer Zulassung Verstöße gegen das Verbringen der regelmäßigen wöchentliche Ruhezeit im Fahrzeug. Bei einem Fahrzeug mit bulgarischer Zulassungen konnte der Fahrer keine Fahrerbescheinigung vorlegen." Diese Kontrollen sollen fortgeführt werden.

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