Parken auf der Autobahn ist kein Kavaliersdelikt. Freddie hatte nach einem langen Stau jedoch ein dringendes menschliches Bedürfnis. Zählt das vor Gericht?
Freddie* sitzt Rechtsanwältin Sofia Karipidou in der Autobahnkanzlei in Wiesbaden gegenüber. Noch bevor er schildert, was Sache ist, meint er, dass er selbst nicht wisse, was ihn getrieben habe, hierherzufahren. Eigentlich habe das Ganze doch gar keine Aussicht auf Erfolg. Aber gestern Abend auf dem Autohof Elbert habe ihm jemand Autobahnanwältin Sofia Karipidou aus Wiesbaden wärmstens empfohlen. Er sei sich aber ziemlich sicher, dass in seinem Fall nichts gehe. Eigentlich sei das unmöglich, hier punktefrei rauszukommen. Sofia winkt ab. "Unmöglich gibt’s nicht!", sagt sie. Irgendeine Chance gibt es immer. Immerhin dauert so ein Verfahren ganz schön lange. Eine kilometerlange Strecke sei das, bei der unendlich viele Regeln einzuhalten seien. Dabei werden regelmäßig Fehler gemacht. Diese aufzudecken, das sei unser Job, führt sie aus. "Also Kopf hoch!" Freddie meint: "Okay, wir versuchen es." Sie beschließen, zusammen zu kämpfen.
Vorwurf: Parken auf der Autobahn
Freddie erzählt jetzt, was sich genau ereignet hat. Er wisse, dass er einen Fehler gemacht habe. Das tue ihm auch sehr leid. Aber es gebe menschliche Bedürfnisse, die machten einen Zeitaufschub einfach unmöglich. So sei das bei ihm gewesen. Er wollte eigentlich nur kurz am Fahrbahnrand anhalten, weil er es bis zur nächsten Toilette nicht mehr aushielt. Es dauerte dann noch einige Minuten. Jetzt hat er den Vorwurf "Parken auf der Autobahn" am Hals. Das ist teuer und auch nicht punktefrei. Schöner Mist. Freddie erklärt weiter, dass er sich extra eine Stelle ausgesucht habe, an der bereits ein paar andere Lkw gestanden hätten. Der Seitenstreifen sei dort besonders breit gewesen. Dass durch sein Halten eine Gefahr entstehen würde, sei nicht zu erwarten gewesen. Trotzdem wisse er, dass man auf dem Seitenstreifen nicht halten dürfe. Parken sowieso nicht. Nachdem wir Einspruch eingelegt haben, kommt ziemlich schnell ein Formularschreiben des Gerichts. In diesem wird darauf hingewiesen, dass im Falle einer Entscheidung eine deutliche Erhöhung der Geldbuße in Betracht käme. Sofia Karipidou liest dieses Schreiben. Diese Schriftsätze machen uns alle in der Autobahnkanzlei immer etwas wütend.
Das Gericht kennt unsere Einwendungen noch gar nicht. Trotzdem wird schon mit einer deutlichen Erhöhung der Geldbuße gewunken – und das ohne Verhandlung. Katastrophal! Das dient wahrscheinlich dazu, die Leute zur Rücknahme zu drängen, also den Vorwurf zu akzeptieren. Aber an diese Alternative denkt Freddie keine Sekunde. Immerhin haben beide beschlossen, dass sie das gemeinsam durchkämpfen. Beide treffen sich ein paar Wochen später vor dem Gericht. Als sie den langen Flur entlanggehen, flüstert Freddie ihr zu: "Das da ist sie, die Polizeibeamtin." Sie stellen sich selbst ein paar Meter entfernt von der Beamtin auf. Die Dame in Uniform ist völlig vertieft in ihr Gespräch mit einer Kollegin. Sie habe heute eine glasklare Sache zu verhandeln. Die dauere höchstens fünf Minuten, erklärt sie optimistisch. Sofia Karipidou muss ein wenig grinsen und flüstert zu Freddie: "Wenn die wüsste!" Kurze Zeit später werden sie aufgerufen. Der Richter beginnt offensiv und weist darauf hin, dass Freddie schon vier Punkte habe. Das sei keine gute Grundlage. Da müsse er wohl zwangsläufig, wenn sich der Tatvorwurf bestätigen würde, beim Bußgeld ordentlich eine Schippe drauflegen. Die Autobahnanwältin erklärt, dass Freddie dort eigentlich gar nicht parken wollte.
Digitacho falsch ausgelesen
Der Plan war ein anderer. Vorher allerdings habe es einen großen Stau gegeben. Da stand er zwei Stunden drin. Dann musste Freddie einmal austreten, und zwar ganz dringend. Da hat er die nächstbeste Gelegenheit genommen. Was sollte er denn auch tun?! Die nächste Ausfahrt war zu weit weg. Der nächste Parkplatz auch. Der Richter zitiert aus dem Bußgeldbescheid: "Eine Stunde und zwanzig Minuten. Frau Rechtsanwältin, welches menschliche Bedürfnis dauert denn so lange?"
Rechtsanwältin Karipidou erklärt: "Diese Zeit, Herr Richter, stimmt nicht." Was die Polizeibeamtin da ausgelesen habe, sei falsch. Die Autobahnanwältin lehnt sich zurück und erklärt dem etwas verdutzt dreinblickenden Richter, dass beim digitalen Kontrollgerät die Zeitangaben in UTC-Zeit angegeben würden. Da sei wohl beim Auslesen etwas schiefgelaufen, und zwar um eine ganze Stunde zuungunsten von Freddie. Der Richter wirkt ein wenig verstört und schaut Sofia ziemlich ungläubig an. Die legt den Ausdruck aus dem digitalen Kontrollgerät vor. Der zeigt, dass der Lkw nur 20 Minuten stand, und belegt außerdem den Stau.
Dem Richter rutscht jetzt ein "Na und?" heraus. Sofia erklärt ihm, dass der Bußgeldbescheid unwirksam sei, wenn die Tatzeit in ihrer Breite völlig unkorrekt dargestellt sei. Damit sei der Bußgeldbescheid nicht das Papier wert, auf dem er gedruckt sei. Das ergebe sich direkt aus dem Gesetz. Der Richter geht darauf nicht erkennbar ein, wirkt aber etwas beunruhigt und ruft die Zeugin auf. Die legt los: Geschlafen habe Freddie. Das Licht im Fahrerhaus sei aus gewesen. Sie habe lange warten müssen, bis der Betroffene wach geworden sei.
Die Autobahnanwältin fragt bei der Beamtin nach, wie lange sie ihren Job schon mache. Lang genug, antwortet die schnippisch. Sofia erklärt ihr den Fehler, den sie gemacht hat. Die Beamtin fängt nun doch an, etwas in sich zu gehen und genauer nachzudenken. An den konkreten Fall könne sie sich irgendwie vielleicht doch nicht mehr so genau erinnern. Das mit dem Schlafen habe sie vielleicht aus den 80 Minuten geschlossen. Ihren Fehler, wenn denn einer vorliege, bedauere sie natürlich. Der Betroffene habe sich aber vor Ort auch nicht geäußert. Das hätte der ja mal tun können.
Der Richter schaut betreten auf den Richtertisch. Er blickt der Autobahnanwältin nun in die Augen und schlägt 55 Euro vor. "Meinetwegen!" Freddie und sie packen ihre Sachen zusammen und verlassen den Gerichtssaal. Punktlos. Das war das Ziel. Es war eben nicht unmöglich, dieses Ziel zu erreichen. Das versteht Freddie jetzt auch.
Anmerkung: Normalerweise raten wir unseren Mandanten vom "Austrittsargument" deutlich ab. Das ist nämlich nicht nur abgedroschen, sondern wird von den Richtern höchst selten geglaubt. Allgemein wird dieses menschliche Bedürfnis eher als Schutzbehauptung abgestempelt. In unserem Fall aber gab es darüber hinaus durchaus ein starkes formelles Argument, nämlich die Fehlerhaftigkeit des Bußgeldbescheids. Gegenwehr erschien deshalb von Anfang an sinnvoll.
*Namen geändert