Unfälle mit Kindern – und Radfahrern Im falschen Moment falsch geguckt

Unfälle mit Fahrradfahrern Foto: Jan Bergrath 11 Bilder

Unfallsachverständige, Fahrzeugingenieure, Verkehrspsychologen und Polizisten haben in Münster diskutiert, was getan werden muss, um Unfälle zwischen Lkw und Radfahrern, insbesondere mit Kindern, zu vermeiden.

Die Radfahrerin nähert sich schnell von hinten und zieht auf der rechten Seite an dem weißen Lastzug vorbei, obwohl der seinen Blinker gesetzt hat. Just, als der Fahrer nach rechts in das Gelände der Spedition Köppen in Duisburg abbiegen will, passiert sie das Fahrerhaus des Actros, der Fahrer geht voll in die Eisen. Denn zum Glück hat er die Radfahrerin im sogenannten "Toten Winkel" noch gesehen. Sie zeigt dem Fahrer mit einer unschönen Geste ihre Verärgerung. Dabei hat sie Glück gehabt, dass es nicht ganz anders ausgegangen ist.

Die Szene mit einem Lkw der Spedition Köppen ist nachgestellt. Sie stammt aus einem Film von Martin Schunk und mir zur ZF-Zukunftsstudie. Die Radfahrerin arbeitet bei Köppen in der Disposition. Das Unternehmen, über das ich bereits im FERNFAHRER 8/2014 berichte habe baut konsequent alle verfügbaren Assistenzsysteme in seine Lkw ein. So auch die Totwinkel-Assistent-Kamera von Mercedes-Benz. Mittlerweile sind 44 von 38 Fahrzeugen mit dem Kamerasystem nachgerüstet worden. Die Kosten liegen bei rund 800 Euro pro Lkw, da nur die Kamera samt Kabelbaum eingebaut werden muss und das schon im Lkw vorhandene werksseitige Display im Kombiinstrument genutzt werden kann. Dort sieht der Fahrer jederzeit, was die kleine Kamera im Einstieg an Bildern aus dem toten Winkel liefert.

Änderung in der Straßenverkehrsordnung

Die Selbstsicherheit, mit der sich Radfahrer heute oft im Straßenverkehr bewegen, hat auch einen rechtlichen Grund: eine Änderung in der Straßenverkehrsordnung. "Die Vorschrift, dass Radfahrer und Mofafahrer unter bestimmten Bedingungen rechts überholen dürfen, wurde bereits 1988 eingefügt", sagt Matthias Pfitzenmaier, Fachanwalt für Verkehrsrecht. In den Gründen zur Einfügung heißt es: "Wenn aber rechts neben der Autoschlange ausreichend Platz vorhanden ist, ist es den Radfahrern und Mofafahrern nicht zuzumuten, hinter einem Auto zu warten und durch Abgase belästigt zu werden. Die jetzige Änderung bringt hier Klarheit und erlaubt das Aufschließen." In der Kommentierung wird darauf abgestellt, dass es Radfahrern mit mäßiger Geschwindigkeit und besonderer Vorsicht erlaubt ist, rechts zu überholen, wenn ausreichender Raum dazu vorhanden ist (circa 1 Meter) Es dürfen nur Fahrzeuge überholt werden, die zum Stillstand gekommen sind, nicht fahrende oder rollende Fahrzeuge.

Die erlaubte, mäßige Geschwindigkeit richtet sich nach den konkreten Verhältnissen des Einzelfalls und der sich daraus ergebenden Beherrschbarkeit der beim Überholen entstehenden Gefahren. Führer wartender Fahrzeuge müssen sich darauf einstellen, dass sie beim Stillstand gegebenenfalls rechts überholt werden. Für Pfitzenmaier eine heikle Angelegenheit: "Dies zeigt natürlich, dass die besondere Gefährlichkeit, die für und durch einen Lkw-Fahrer entsteht, vom Gesetzgeber so nicht berücksichtigt worden ist." Und mal im Ernst: Welcher Radfahrer, insbesondere Kinder, kennt schon die Rahmenbedingungen dieses Rechts.

Steigende Zahlen bei Unfällen mit Kindern und Radfahrern

Es lässt sich wohl nur erahnen, wie viele Radfahrerunfälle es nicht gegeben hätte, wenn die schwächeren Verkehrsteilnehmer in kritischen Situationen öfter auf ihr verbrieftes Recht zur Vorfahrt verzichten würden. So bleiben nur die nackten Zahlen. Unfälle mit Kindern gehören nach wie vor zum traurigsten Kapitel unseres Verkehrsalltages. Im Durchschnitt kam im Jahr 2014 alle 18 Minuten ein Kind im Alter von unter 15 Jahren im Straßenverkehr zu Schaden. Insgesamt waren es 28.674 Kinder, die laut der aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2014 auf Deutschlands Straßen verunglückten (+ 1,9 Prozent gegenüber 2013). 71 Kinder starben, 13 mehr als im Vorjahr. Aber es kommt noch schlimmer: In Deutschland sind im vergangenen Jahr fast 400 Radfahrer bei Unfällen ums Leben gekommen. Außerdem wurden 77.900 Fahrradfahrer verletzt, davon 14.500 schwer. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Zahl der tödlich verunglückten Radler um 42, die der verletzten um etwa 6.000.

Und immer wieder sind Lkw daran beteiligt. In seinem Vortrag "Charakteristische Verletzungsarten bei Unfällen mit Lastkraftwagen" verzichtet Dr. Wolfram Hell, Rechtsmediziner der Ludwig-Maximilians-Universität München, zum Glück darauf, diese explizit zu benennen. Er schildert nur kurz, dass in der Regel der Zusammenstoß beim Abbiegen an der Fahrerkabine erfolgt, was der Lkw-Fahrer oft gar nicht mitbekommt. Dann liegt der Radfahrer auf dem Boden und wird entweder von den Zwillingsreifen des Lkw oder von der vorderen Achse des Aufliegers überrollt. Nach Hells Erkenntnissen (siehe Foto) aus bayerischen Unfallzahlen sind gerade Sattelzüge zu 56 Prozent an den schweren Unfällen mit Radfahrern beteiligt.

Speditionsgewerbe klärt seit vielen Jahren über den toten Winkel auf

Hell ist einer der Redner in der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster-Hiltrup. Dort diskutierten Mitte November Unfallsachverständige, Polizisten, Verkehrspsychologen und Fahrzeugtechniker vor rund 150 Teilnehmern zwei Tage lang auf Einladung der Gesellschaft für Ursachenforschung bei Verkehrsunfällen e. V. (GUVU) aus Köln und der Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland e. V. (VOD), Münster in Westfalen über das Thema "Kinderunfälle im Straßenverkehr". Die Aktion Kinder-Unfallhilfe e. V. unterstützte die Tagung. Der Verein wurde bereits 1998 durch Vertreter von Straßentransportunternehmen, Verbänden, Straßenverkehrsgenossenschaften und Versicherern gegründet. Der Vorsitzende des Vorstandes ist der Spediteur Adalbert Wandt, der Präsident des Bundesverbandes Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) e.V. Seit vielen Jahren klärt der Verein Schulkinder über die Gefahren des toten Winkels bei Lkw auf. "Kindern fehlt einfach der Überblick im Straßenverkehr", erklärt Wandt, "und für andere Verkehrsteilnehmer sind sie oft unberechenbar." Manche Transportunternehmen, die sich Gedanken um das Thema Sicherheit machen, klären die Kinder der Grundschulen praktisch über die Gefahren auf, die Transportbotschafter fahren mit ihrem Truck regelmäßig auf die Schulhöfe (siehe Foto).

In vielen Fällen sind die Lkw-Fahrer einfach überfordert

Den Verkehrsunfällen mit Lkw ist der erste Tag gewidmet. Es ist immer dasselbe Muster, wie sich Unfälle mit Lkw abspielen. Beim Rechtsabbiegen übersehen viele Fahrer oft trotz aller gesetzlich vorgeschriebenen Spiegelsysteme am Fahrzeug die von hinten heran- und an einer Kreuzung bei Grün vorbeirauschenden schwächeren Verkehrsteilnehmer, die allerdings in vielen Fällen, siehe weiter oben, auf ihr Recht der Vorfahrt bestehen oder den Lkw schlicht nicht hören, weil aus den Kopfhören laute Musik dröhnt. Der Konflikt zeichnet sich ab. "In den allermeisten Fällen stellt sich heraus, dass der Lkw-Fahrer den Radler zumindest kurz hätte sehen können", erläutert der Berliner Unfallforscher Prof. Hansjörg Leser, der in seinem Vortrag zugleich zeigt, wie überfordert die Fahrer in bestimmten Situationen sein können. Die nach wie vor geltende Untersuchung seiner Studenten gibt es hier.

"Dann wird er in der Regel verurteilt und zwar wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung." Fahrlässig, denn hier unterstellt niemand Absicht. Der Fahrer habe oft im falschen Moment in die falsche Richtung geguckt. Leser zeigt Fälle, bei denen sich der Fahrer vor der Scheibe aber die Sicht selber zugebaut hat. Die in vielen Städten wie Osnabrück oder Münster nun an besonders gefährlichen Kreuzungen fest installierten Spiegel sieht er kritisch. Denn es wäre dann ein siebter Spiegel, in den der Fahrer blicken muss. Wie schwierig das Thema Spiegel aber jetzt schon ist, habe ich bereits im FERNFAHRER 7/2014 gezeigt.

Leser zeigt Beispiele aus nachgestellten Szenen, dass der Lkw-Fahrer sich im Prinzip auf jeden einzelnen Spiegel auf der rechten Seite konzentrieren müsste, um einen Radfahrer zu erkennen. Doch gerade der Weitwinkelspiegel, der einen Teil des toten Winkels abdecken soll, verzerrt extrem. "Und dann muss der Fahrer ja vor dem Abbiegen noch den übrigen Verkehr im Auge behalten", berichtet Leser. "Wenn er dann abbiegt und in diesem Moment doch ein Radfahrer kommt, wird es für den Fahrer sehr schwer, ihn zu erkennen." Viele Lkw-Fahrer im Innenstadtverkehr hätten sich deshalb angewöhnt, an Kreuzungen besonders zügig rechts abzubiegen.

Keine einseitigen Schuldzuweisungen der Veranstalter

Einseitige Schuldzuweisungen gab es nicht, obwohl Verkehrsunfallopfer jahrelang um eine Erstattung von Kosten und eine angemessene Entschädigung kämpfen müssen. "Der Staat schafft es nicht, den Bürger vor den schädlichen und manchmal entsetzlichen Folgen des Straßenverkehrs zu schützen", sagt der Unfallexperte Prof. Wilfried Echterhoff. Gerade im Zusammenspiel von Fahrzeugtechnik, Verkehrsraumgestaltung und dem Verhalten aller Verkehrsteilnehmer liegen daher große Potenziale, die Zahl der Unfälle hoffentlich in der Zukunft zu senken, hoffen die Veranstalter. In vielen Städten wie in Köln (siehe Foto) sind die Radwege nun an besonders gefährlichen Kreuzungen umgebaut worden.

Ziemliche Hoffnungen setzen die Veranstalter auf den Blind Spot Assist von Mercedes-Benz, der auf dem Kongress ebenfalls vorgestellt wurde und im ersten Schritt den Fahrer über eine Radartechnik warnt. Doch er wird erst auf der IAA 2016 vorgestellt. Bis er den Markt durchdringt und es eine gesetzliche Pflicht gibt, werden aber noch viele Jahre vergehen. In ihrer Schlusserklärung (siehe angehängtes PDF) fordern die Veranstalter daher unter anderem, dass bereits existierende Kamerasysteme verbindlich eingesetzt werden sollen.

Bewährungsstrafe für Lkw-Fahrer

Ein tragischer Unfall zwischen einem Lkw und einer Radfahrerin in Köln zeigt die gesamte Problematik auch als ein Missverständnis an einer problematischen Stelle, an der der Lkw-Fahrer zwar geblinkt hat aber nicht nach rechts in die Straße abgebogen ist, sondern in ein Grundstück. Vor Gericht gab er an, die Fahrerin nicht gesehen zu haben. Trotzdem wurde er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. "Es bleibt dabei", argumentiert Rechtsanwalt Pfitzenmaier, "dass, wenn es in dieser Konstellation zu einer Verletzung oder Tötung des Radfahrers kommt, letztlich die Frage aufgeklärt werden muss, ob der Lkw-Fahrer den Radfahrer sehen konnte oder nicht. In den meisten Fällen ist dies eine Frage, die ein Gutachter beantworten kann. Ob der Lkw-Fahrer aufgrund der konkreten Verkehrssituation dann eher wenig dafür kann, da er durch die Verkehrssituation komplett überfordert war, oder sich grob fahrlässig verhalten hat, wie zum Beispiel wenn er beim Anfahren auf das Handy schaut und nicht auf den Verkehr, ist dann eine Frage, die im Strafrahmen berücksichtigt werden kann."

Kann der Fahrer auf ein Kamerasystem bestehen?

Für eine fahrlässige Körperverletzung sprechen die Richter in der Regel eine Bestrafung mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren aus. Für den Fall der fahrlässigen Tötung beträgt der Strafrahmen Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren. Dies lässt einen ausreichenden Spielraum bei der Ahndung der Vergehen zu. "Eine Verantwortlichkeit des Arbeitgebers dürfte nur in Ausnahmesituationen in Frage kommen", sagt Pfitzenmaier. "Wenn beispielsweise der Fahrer darauf hinweist, dass er aufgrund der besonderen Gefahrensituation einer Tour, die innerorts an belebten Plätzen stattfindet ein Kamerasystem benötigt, da er ansonsten der Verkehrssituation nicht gewachsen ist, der Arbeitgeber ihm dies verwehrt, und es infolgedessen zu einem Unfall kommt, wäre gegebenenfalls an eine Mitverantwortlichkeit des Arbeitgebers zu denken. Dies dürfte aber allenfalls eng umgrenzte Ausnahmesituationen betreffen." Und so sind freiwillige Maßnahmen wie bei Köppen in Duisburg nicht hoch genug zu bewerten. So eine Kamera kostet nicht die Welt, kann aber das Leben eines Menschen retten. Bei Köppen jedenfalls hat es keinen Unfall mehr gegeben.

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