Ukrainische Fahrer Rückfahrt ins Ungewisse

Foto: Jan Bergrath
Meinung

Igor Vdorin fuhr mit seinem Kühlzug Richtung Holland, als die russische Armee in die Ukraine einmarschierte. Jetzt weiß er nicht, wann er in seine Heimat zurückkommt.

Der weiße Kühlzug stand in einer Seitenstraße im Fischereihafen von Bremerhaven. Am Kai lag eines der Produktionsschiffe, auf denen frisch gefangener Fisch direkt verarbeitet wird. Es war Montagmorgen, 28. Februar, und Igor Vdorin, 55, Lkw-Fahrer aus der Ukraine, wartete müde aber auf den ersten Blick relativ gelassen auf eine Entscheidung, wohin die Ladung gefrorener Fisch nun gehen solle. Eigentlich hätte er bereits am Freitag zurück in die Ukraine fahren sollen. Doch am Tag zuvor war die russische Armee nach Ankündigung völkerrechtswidrig in die Ukraine eingefallen. Während rund 12.000 Lkw-Fahrer laut Schätzungen der IRU an den Grenzen des 41 Millionen Einwohner zählenden Landes auf einen Schlag vor den Grenzen im Stau standen, hing Igor plötzlich in Bremerhaven fest.

Treffen mit Jan Lindemann

Am Donnerstag hatten wir hier in Bremerhaven bei der Spedition Glomb unsere 77. Sendung von FERNFAHRER LIVE gemacht und dann am Freitag und Samstag die Logistik Bremerhaven und in Cuxhaven angesehen. Diesen Montag hatte ich mich mit Jan Lindemann verabredet, begeisterter Kühlzugfahrer der Spedition Brüssel & Maass den ich bereits 2020 im FERNFAHRER portraitiert hatte. Ich wollte wissen, was er macht – er bereitet sich auf die neue Aufgabe als zukünftiger Verkehrsleiter vor – und was aus dem Verfahren geworden ist, dass die Polizei Offenburg wegen seines Bullfängers an seinem Scania in die Wege geleitet hatte: Es wurde im Oktober 2021 eingestellt.

Als wir uns trafen kam mir die Idee, spontan mit dem Fahrer aus der Ukraine auf der anderen Straßenseite zu sprechen. Ich holte einen Kaffee und ein belegtes Brötchen um die Ecke an der Tankstelle und überraschte Igor. Jans Kollege Wiktor Bachmann, ein in Sibirien geboren Deutscher, der seit 25 Jahren für Brüssel & Maass fährt, stand gerade auf dem Großmarkt Rungis. Wiktor übersetzte spontan über Jans Handy. Das Eis war schnell gebrochen.

Mit Trockenmilch nach Holland

Mit Trockenmilch war Igor Mitte Februar für seine ukrainische Spedition, rund 300 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, aufgebrochen. Da war es noch eine schwer einzuschätzende Drohung, dass der russische Präsident Wladimir Putin, Truppen in Bewegung setzen würde, um in die Ukraine einzumarschieren. Sieben Tage war Igor mit Aufenthalt an der Grenze unterwegs. Als er am letzten Donnerstag seine Rückladung aufnehmen sollte, war der Krieg ausgebrochen, die ursprüngliche Ladung gestrichen. Igor wurde weiter nach Bremerhaven disponiert. Doch der hier für die Ukraine vorgesehene Fisch wurde auch gestrichen. Igor strandete im Fischereihafen. Mit dem wenigen Geld konnte es sich immerhin im Supermarkt selbst versorgen.

Für 800 Euro zweimal im Monat nach Westeuropa

Seine beiden erwachsenen Kinder arbeiten zum Glück schon länger in Polen, beschrieb er die Situation in der Heimat in einem Land, dessen Wirtschaft erst so langsam wächst. Zweimal im Monat fuhr er seit 2006 Touren nach Westeuropa. Für heute rund 800 Euro Lohn. Ohne Spesen. Warum er nicht für eine der großen litauischen Flotten arbeiten würde, wie so viele seiner Landsleute, war schnell klar: Dort würde er zwar rund 2.000 Euro im Monat verdienen, sei aber bis zu zwei Monate am Stück unterwegs. Am Sonntag habe er sich noch vor einem Kühlhaus auf der Hauptstraße mit dem weißrussischen Fahrer eines in Litauen zugelassen blauen Actros mit einem bekannten weißen Auflieger von Girteka unterhalten. Der fuhr weiter Fisch, nur innerhalb von Westeuropa.

Die gesamten Auswirkungen des Krieges auf die internationale Logistik zeichnet sich erst nach und nach ab. Wie der Berliner Tagesspiegel berichtet, können in der Ukraine für das VW Werk in Zwickau gefertigte Kabelbäume nicht geliefert werden. Der deutsche Logistiker vor Ort hat bereits die entsprechenden Just in Time Verkehre ausgesetzt. Nach weiteren Berichten seien ukrainische Fahrer vor allem bei den litauischen und polnischen Frachtführern in nicht genau genannter Zahl auf dem Weg in die Heimat, sodass auch hierzulande Transporte wegzufallen drohen.

Über Internet informiert

Igor wirkte erstaunlich gefasst, was sich aus den wenigen übersetzten Sätzen heraushören ließ. Über Internet war er ständig über die sich zuspitzenden Ereignisse informiert, per Telefon mit der Heimat im Kontakt. Über dem Gespräch lag eine deutlich spürbare Hilflosigkeit. Da das Geld knapp wurde, gab ich ihm hundert Euro. Dann kam endlich die Nachricht, dass Igor laden könne: eine Ladung Fisch nach Moldavien. Eine Tour über Rumänien, fünf bis sechs Tage.

Wann er in die Heimat zurückkehren würde, wusste er nicht. Nichts tun zu können, sei das Schlimmste, sagte er zum Abschied. Am liebsten würde er den Job in der Ukraine an den Nagel hängen und in Deutschland als Fahrer anfangen. Den Kontakt von Wiktor hat er mitgenommen auf seine Rückfahrt ins Ungewisse.

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