Truck Talk Podcast (9) Die zwölf Fragezeichen

Jan Bergrath Podcast Mobilitätspaket Foto: Jan Bergrath
Podcast

Im Mai 2017 ist die EU-Kommission angetreten, die Arbeitsbedingungen der europäischen Lkw-Fahrer im Straßengüterverkehr zu verbessern und den Wettbewerb fairer zu machen. Dazwischen liegen über drei Jahre mühsamer Verhandlungen des EU-Parlaments und ein Mobilitätspaket, gegen das nun vor allem osteuropäische Länder vor dem EuGH klagen wollen. In zwölf Fragen und Antworten will die EU-Kommission ein gemeinsames Verständnis und eine konsequente Umsetzung der neuen Bestimmungen sicherstellen. Doch einige warme Worte und ein schlecht gemachter Gesetzestext werden das existierende Marktgefüge so schnell nicht ändern können.

Der erste Baustein des sogenannten Mobilitätspakets I, die Neuerungen der Sozialvorschriften, ist bereits am 20. August 2020 in Kraft getreten. Über ein Jahr, genau bis zum 2. Februar 2022, passiert nun erst einmal nichts. Was ab dann in den weiteren Bausteinen geplant ist, haben Jan Bergrath und Götz Bopp bereits in den bisherigen acht Folgen ihres „Truck Talk“ besprochen und dabei vor allem die reinen Gesetzestexte im Gegensatz zu der geradezu euphorischen politischen Kommunikation aus Brüssel analysiert. Nun müssen, nach dem zum 1. Januar 2021 vollzogenen Brexit, die 27 „restlichen“ nationalen Gesetzgeber und ihre Parlamente diese EU-Vorgaben in die nationale Umsetzung bringen. Eigentlich ein normaler Vorgang im EU-Recht. Doch hier ist es anders: Im demokratischen Prozess der Mehrheitsfindung wurden die „Gegner“, und das sind vor allem die peripheren Länder Europas, einfach überstimmt. Von der großen Einigkeit keine Spur.

Klagen vor dem EuGH

Nun haben bereits Bulgarien, Litauen, Malta, Polen, Ungarn, Rumänien und Zypern Einzelklagen beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht. In naher Zukunft wollen sich auch Lettland und Estland der Klage eines der oben genannten gleichgesinnten Länder anschließen. Wogegen sich die Klagen richten, das hören Sie im Podcast. Grundsätzlich geht es um diese allgemeine Position: „Die verabschiedeten Maßnahmen des Mobilitätspakets I gehen weit über die ursprünglichen Ziele der Reform des EU-Rechts für den grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr hinaus und verstoßen gegen die Bestimmungen des EU-Vertrags. Sie führen zu einer Verzerrung des EU-Binnenmarktes, indem sie künstliche administrative Hindernisse für die Arbeit von Straßentransportunternehmen einführen. Diese werden zu höheren Preisen für Transportdienstleistungen und folglich für Waren in der Europäischen Union führen, was wiederum die globale Wettbewerbsfähigkeit der EU verringert und die Kosten für die Verbraucher erhöhen kann.“ Dass vor allem die geringeren Personalkosten in Osteuropa zu einer Verzerrung der Wettbewerbsbedingungen auf den westeuropäischen Märkten führen, wird natürlich nicht erwähnt.

Ein hehres Ziel

Aus dem abgeschlossenen Gesetzgebungsprozess ist die EU-Kommission nun raus. In Erinnerung bleibt das Versprechen aus dem Mai 2017, vor allem für die über drei Millionen Lkw-Fahrer in der Europäischen Union, die in erster Line ein gemeinsamer Binnenmarkt ohne Einfluss auf die sozialen Strukturen der Mitgliedsstaaten ist, für bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen und etwa die Marktzugangsverordnungen im Straßentransport durch „Klarstellungen“ zu vereinfachen. Oder das „Sozialdumping“ zu bekämpfen. Unvergessen ist das hehre Ziel der EU-Verkehrskommission aus dem Jahr 2013 – hier im Wortlaut auf Nachfrage von Jan Bergrath für eine TV-Reportage des WDR-Magazins Westpol: „Es war die Absicht der EU-Kommission, dass die Transportunternehmen die Touren so zu organisieren haben, dass die Fahrer spätestens jedes zweite Wochenende wieder am Heimatstandort des Lkw verbringen können.“

In der Tat: Die bis zum Mobilitätspaket I geltenden Verordnungen hätten, wären sie konsequent kontrolliert worden, dieses Ziel durchaus ermöglicht. Heute ist klar, dass durch die neuen Regelungen der Sozialvorschriften das Tor zum Nachteil der Fahrer wohl eher weiter aufgestoßen wurde – und sich das EU-Parlament zu Lasten der Fahrer in einigen Punkten über den Tisch ziehen ließ.

Kein Nachweis erforderlich

Das wird allein schon deutlich bei dem seit August 2020 europaweit geltenden Verbot, die regelmäßigen und die länger als 45 Stunden andauernden wöchentlichen Ruhezeiten im Lkw zu verbringen. Mit schwer verständlichen Ausnahmen im grenzüberschreitenden Güterverkehr, die eine Tourenplanung fast unmöglich machen (Folge 3). Denn es wurde, ob gezielt oder aus Unvermögen, bei den Änderungen an der VO (EG) 561/2006 durch die VO (EU) 2020/1054 nicht berücksichtigt, dass die Kontrollierbarkeit des Verbotes nur dann gegeben ist, wenn der Fahrer auch einen Nachweis darüber vorlegen muss, wo genau außerhalb des Fahrzeugs diese Wochenruhezeiten verbracht wurden. Selbst wenn also der neue intelligente Tachograf (Folge 6) ab Sommer 2023 noch mehr Ortspunkte erfasst und infolgedessen mehr Klarheit darüber herrscht, wann der Lkw wo fuhr oder stand, ist damit nicht belegt, wo der Fahrer seine Wochenruhezeit verbracht hat. Das ist, gelinde gesagt, eine Farce. Die Kontrollorgane müssen dem Fahrer – und damit dem Unternehmer, der ja die Touren plant – beweisen, wo er zum betreffenden Zeitpunkt war. Selbst mutmaßlich gefälschte Hotelquittungen bringen keinen Vorteil mehr. Das konsequente Schweigen des Fahrers wird so zum geldwerten Vorteil des Unternehmers.

Fragen und Antworten der EU-Kommission

Mit zwölf Fragen samt Antworten zu manchen der strittigsten Neuregelungen aus dem Mobilitätspaket I will die EU-Verkehrskommission ein gemeinsames Verständnis und eine konsequente Umsetzung der neuen Bestimmungen sicherstellen. Veröffentlicht wurde der Fragen-Antworten-Katalog bereits Ende 2020 auf der Homepage der Generaldirektion Mobilität und Transport. Dazu betont die Kommission: „Diese Fragen und Antworten sind nicht justiziabel. Nur der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts zuständig. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass Art. 8 Abs. 8 und Art. 8 Abs. 8a der Verordnung (EG) 561/2006, die Gegenstand der Fragen 1 bis 6 sind, derzeit Gegenstand von Nichtigkeitsverfahren vor dem Gerichtshof sind. Die angeführten Beispiele dienen der Veranschaulichung, und die Liste der konkreten Beispiele wird weiter ausgearbeitet werden.“

Gerade diese ersten Punkte besprechen Jan Bergrath und Götz Bopp als erstes Resümee vor der finalen Folge 10 mit leider unvermeidbarer Ironie – und stellen fest, dass manche Punkte, wie etwas das Rückkehrrecht der Fahrer, eher unverständlicher als klarer geworden sind.

Beim Rückkehrrecht gilt: Entweder - Oder

In nahezu grotesker Realitätsferne führt die Kommission zum Thema Rückkehrrecht der Fahrer nun ein herrlich abstruses Beispiel auf: für einen polnischen Fahrer, der in der Slowakei wohnt, aber bei einer polnischen Firma beschäftig ist, deren Lkw ständig zwischen Frankreich und Spanien pendeln, muss der Arbeitgeber die Rückkehr nun so organisieren, dass der Fahrer die Wahl hat, am Ende der dritten Woche auf Kosten des Unternehmens entweder an seinen Wohnsitz oder zum Sitz der Firma in Polen zurückzukehren. Es sei denn, und das ist kein Witz, er entscheidet sich freiwillig, am Ende der erlaubten Zeitspanne auf eigene Kosten nach Süditalien in Urlaub zu fahren. Genau das, wovon osteuropäische Fahrer sicher träumen, wenn sie an den langen Wochenenden in einem Gewerbegebiet die Zeit im Lkw totschlagen.

Statt zwei Wochen nun 17 Wochen und mehr

Klargestellt wird allerdings eins: der freiwillige Verzicht auf das Rückkehrrecht des Fahrers im Arbeitsvertrag oder als Formblatt mit Ankreuzkästchen erscheint genauso inakzeptabel wie der jüngste Hit aus Litauen und Polen, freiwillig per se zu erklären, dass man seine Freizeit am Ende des Drei-Wochen-Zeitraums dort verbringen möchte, wo der Lkw „zufällig“ stehen bleibt. Und wie auch immer eines Tages vielleicht der EuGH entscheiden mag: aus den einst avisierten zwei Wochen bis zur Rückkehr sind nun faktisch vier Wochen geworden, in denen sich die meisten Fahrer etwa aus der Ukraine oder Belarus fernab der Heimat aufhalten, die immer öfter für litauische oder polnische Frachtführer ausschließlich in Westeuropa arbeiten.

Ausgereizt wird der „Spielraum“, wie es das Beispiel von Amazon zeigt, aktuell auf bis zu 17 Wochen und mehr. Das heißt in letzter Konsequenz: am realen Marktgefüge und den fragwürdigen Arbeitsbedingungen werden einige warme Worte der EU-Kommission und ein schlecht gemachter Gesetzestext so schnell nichts ändern.

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