Schwere Unfälle am Stauende Der tägliche Irrsinn

Gefahrgut, Auffahren, Unfall, Lkw, Stau Foto: Jan Begrath

Mittlerweile gibt es fast jeden Werktag mindestens einen schweren Lkw-Unfall auf den deutschen Autobahnen. Moderne Technik könnte sie verhindern. Doch viele Fahrer spielen bewusst mit ihrem Leben.

Letzte Woche war ich auf dem Weg in einen Kurzurlaub. Schon auf der A 44 bei Marsberg sah ich aus der Ferne Blaulicht und den gelben Rettungshubschrauber auf der Gegenfahrbahn. Drei Lkw waren ineinander verkeilt, der Stau dahinter war mindestens zehn Kilometer lang. Dann, am Ziel im Harz nagekommen, erreichten mich die anderen Unfallnachrichten des Tages. Besonders schlimm der Crash auf der A 2 bei Braunschweig, über den vor allem die lokalen Medien berichtet haben (http://www.paz-online.de/Peiner-Land/Stadt-Peine/Lkw-Fahrer-41-stirbt-bei-Unfall-auf-A-2).

Gegen vier Uhr in der Frühe war ein 41 Jahre alter Fahrer in Fahrtrichtung Hannover in das Heck eines anderen Lkw geprallt und wurde in seiner Kabine tödlich verletzt. Sogar ein Scania, den ich immer für besonders robust gehalten hatte, wurde regelrecht zerfetzt. Besonders dramatisch: der 22 Jahre alte Sohn des Fahrers lag hinten in der Koje und wurde beim Aufprall schwer verletzt. Es war genau das Szenario, das ich bereits 2011 in meiner Reportage Grauzone im FERNFAHRER beschrieben habe (pdf siehe unten).

Während der Fahrt hat der Beifahrer in der Koje einfach nichts zu suchen, aus dem einfachen Grund, dass es eben lebensgefährlich ist. Und schon einen Tag danach gab es auf der A 2 den nächsten schweren Lkw-Unfall, wie die BZ-Berlin berichtete (http://www.bz-berlin.de/berlin/umland/lkw-unfall-auf-der-a2-vollsperrung-richtung-berlin). Hier war ein polnischer Fahrer ebenfalls in ein Stauende gerast, der Aufprall war offenbar so heftig, dass die Ladung Holz nach vorne rutschte und die Kabine von hinten zerquetschte. Auch weil es hier – wie so oft auf deutschen Autobahnen – keine Rettungsgasse gab, kamen Feuerwehr und Notarzt leider zu spät. Auch dieser Fahrer starb noch an der Unfallstelle zwischen Stahl und Holz.

Verwirrende Zahlen um Unfälle

Es lässt sich nicht mehr verleugnen: Beinahe jeden Werktag kracht es auf einer deutschen Autobahn, besonders betroffen sind die Ost-West-Transitstrecken durch Deutschland, aber auch die A 7 ist, etwa zwischen Kassel und Göttingen oder im Bereich Hamburg, immer wieder in den Schlagzeilen. Es gibt Tage, da melden die lokalen Medien bis zu drei schwere Lkw-Unfälle. Es dauert leider immer sehr lange, bis die Unfälle in die offizielle Statistik eingehen, aber die Zahlen sind erschreckend: Laut Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) gab es 2014 insgesamt 759 Tote bei Unfällen mit Lkw, einer mehr als 2013. Dennoch versuchen gerade die Verbände, für die jeder Lkw-Unfall in den Medien einen weiteren Schaden am eh schon schlechten Image der Transportbranche bedeutet, die Unfallzahlen positiv umzurechnen, nämlich im Verhältnis zur dramatisch gestiegenen Kilometerleistung. In der Tat: So gesehen sinken die Unfälle seit 1992 wohl kontinuierlich, wobei das gut informierte Team der Unfallanalyse von Mercedes-Benz klar definiert hat, dass Auffahrunfälle mit 50 Prozent an erster Stelle vor dem Abkommen von der Bahn liegen. Aber im Einzelfall nützt die Statistik niemandem. Nach der einfachen Formel Energie ist gleich Masse mal Geschwindigkeit bleibt dann von einem quadratisch geformten Blech auf vier Rädern nicht mehr viel übrig, wie dieser schlimme Unfall auf der A 6 zeigt, über den die Südwest-Presse Anfang Juni berichtet hat. http://www.swp.de/crailsheim/lokales/polizeibericht/Schwerer-Unfall-auf-der-A6-bei-Kirchberg-Lkw-Fahrer-toedlich-verletzt;art1180785,3245461. Das Video hier sollte allen Fahrern eigentlich eine drastische Warnung sein, dass eine Zugmaschine, die ungebremst in das Heck eines Kollegen rast, auf wenige Zentimeter zusammengedrückt wird. Der ziemlich geschockte Fuhrparkleiter des betroffenen Unternehmens hat mir am Telefon verraten, dass der Fahrer erst seine Lenkzeit begonnen hatte, auch ein gesundheitliches Problem sei wohl ausgeschlossen gewesen.

Plädoyer für den Notbremsassistenten

Der gelbe MAN war einer der letzten aus dem modernen Fuhrpark, der noch nicht über einen modernen Notbremsassistenten verfügt hat. Vielleicht hätte er dem Fahrer in allerletzter Sekunde das Leben gerettet. Ab November 2015 müssen laut EU allen neuen Lkw diese Technik eingebaut haben. Dass auch sie leider nicht immer hilft, habe ich gerade in zwei großen Reportagen beschrieben. Ihr findet sie hier und hier. Offenbar schalten viele Fahrer den Notbremsassistenten per Schalter direkt ab, was laut Wiener Abkommen erlaubt ist, aber wenig Sinn macht. Oder sie deaktivieren ihn, wie in zwei tragischen Unfällen auf der A 1 und der A 9, durch eine spontane Lenkbewegung oder einen Kick-Down. Es ist die typische menschliche Reaktion. Das heißt aber auch: Ein mangelndes Vertrauen in die Technik an sich, wenn ein Unfall nicht mehr abzuwenden ist. Und das schlicht und einfach, weil die allerwenigsten Fahrer je geübt haben, wie es sich anfühlt, wie die Technik reagiert. Hier ist meines Erachtens die Nutzfahrzeugindustrie zusammen mit den Unternehmen in der Pflicht, noch besser über die lebensrettende Technik aufzuklären.

Erschreckend geringe Abstände

Doch alle Technik nützt nichts, wenn immer mehr Fahrer auf der Autobahn Harakiri spielen. Das japanische Wort bedeutet eigentlich „rituale Selbsttötung“. Aber anders lässt es sich bald nicht mehr beschreiben, was sich tagtäglich auf den Autobahnen abspielt. Gelegentlich mache ich Bilder über den Wahnsinn, der sich neben mir abspielt. Sie zeigen, dass immer mehr Fahrer, und beileibe nicht nur die Kollegen aus Osteuropa, oft mit weniger als fünf Metern Anstand hinter dem Vordermann über die Piste rasen. Auch ist es zu einem Ritual geworden, vor dem Beginn eines Überholvorgangs quasi bis an die Rückleuchte des Vordermanns zu ziehen, um dann, wenn die linke Spur frei ist, auszuscheren. Abertausende Male geht das gut. Aber dann hat sich eben doch irgendwo ein Stau gebildet – und der Fahrer sieht einfach nicht, was sich vor ihm abspielt. Das nennt man dann "russisch Roulette". Besonders gerne wird es eben auf der "Warschauer Allee", der A 2, gespielt. Die Patrone im Lauf ist der eigene Truck. Die Reaktionszeit eines Menschen, der bewusst auf ein Ereignis wartet, ist rund eine Sekunde. In dieser Zeit legt ein Lkw bei 80 km/h schon etwa 24 Meter zurück. Mit anderen, bewusst drastischen Worten: Wenn man merkt, dass es bereits zu spät ist, hat sich das eigene Lenkrad schon in den Bauch gebohrt.

Download Reportage Jan Bergrath: Doppelbesatzung im Lkw (PDF, 0,18 MByte) Kostenlos
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