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Prof. Stefan Iskan über Digitalisierung und Plattformökonomie „Radikal denken und handeln“

Foto: Jakub Jirsak - Fotolia, Osconomy/TTstudio - Fotolia

Professor Stefan Iskan über die Chancen durch Corona, die Digitalisierung und die Plattformökonomie

trans aktuell: Herr Professor Iskan, viele sagen, die Coronakrise habe das Thema Digitalisierung beschleunigt. Wie weit sind wir inzwischen?

Iskan: Ich denke, wir haben am Standort Deutschland eine Dekade der Digitalisierung vor uns. Wir haben jetzt schon ein gutes Niveau an technischen Fortschritten erreicht, aber in zehn Jahren werden wir an dem Punkt anlangen, an dem die Arbeitsplätze von 20 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten branchenübergreifend vom digitalen Fortschritt bedroht sein werden. Vielleicht gelingt es uns, dieses Thema maximal sozialverträglich in Deutschland zu lösen. Doch mit dem Phänomen der Massenarbeitslosigkeit sollten sich Politik und Gesellschaft auseinandersetzen.

Hat denn die Transport- und Logistikbranche das Thema Digitalisierung bisher zu zögerlich bearbeitet?

Viele Unternehmen haben sich in der letzten Hochkonjunkturphase von 2011 bis 2018 sehr lange ausgeruht, während ein strategisch progressives Unternehmen gerade in solch einer Phase eine Veränderung lancieren würde. Die Kunst besteht eben nicht darin, eine Veränderung herbeizuführen, wenn das Unternehmen mit dem Rücken zur Wand steht, sondern proaktiv Change zu lancieren.

Was können gerade KMU in diesem Fall jetzt tun, um den Anschluss nicht zu verlieren?

Die Coronakrise bietet jetzt eine gute Gelegenheit für Change-Leader in den Betrieben, weil in wirklich allen Branchen die Komfortzone gefallen ist. Ein Unternehmer hat jetzt die einmalige Chance, radikal zu denken und zu handeln, ohne Blockaden. Und anders als die Jahre zuvor wird jetzt die Mannschaft mitziehen. Das beginnt mit den Fragen, wie man Digitalisierung begreift und mit welchen Produkten und Lösungen man seine Kunden überraschen kann. Es geht also nicht primär um die Fragestellung, wie man zu einer papierlosen Abwicklung kommt, sondern, ob das eigene Geschäftsmodell noch Sinn macht und wie und mit was man in der Zukunft noch Geld verdienen kann.

Aber im Büro werden doch meist die ersten Vorgänge digitalisiert.

Natürlich kann das durchaus im Backoffice anfangen, etwa durch Photo-to-Process-Lösungen, die bis in das Fahrerhaus hineinreichen. Oder indem man alle Prozesse vom Tendermanagement über die Disposition bis hoch zur Buchhaltung und zum Controlling mit möglichst wenig Schnittstellen vernetzt und über eine eigene, cloudgestützte Datendrehscheibe ansteuert. Der Unternehmer hat so die Chance, mit den operativen Echtzeitdaten zu seinem Auftraggeber zu gehen und etwa die tatsächlichen Verladungen mit dem Mengengerüst in der Ausschreibung zu konfrontieren. Statt mit der immer noch beliebten Excel-Liste zu arbeiten, kann er auch softwaregestützt seine Prozesse simulieren. In der Flotte helfen Fahrzeug- und Trailertelematik oder Themen wie Geofencing.

Wie sehen Sie die Rolle des Mittelstands?

Hier gibt es ein Von-bis. Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Innovationen gerade aus dem Mittelstand kommen. Die Konzerne gründen zwar Labs und sind marketingmäßig sehr laut, der Mittelständler ist da zurückhaltender und arbeitet nachhaltiger und muss sich nicht wie die Start-ups Wagniskapital suchen.

Start-ups mischen die Branche auf. Sehen Sie durch Kooperationen auch eine Chance für Mittelständler?

Ich sehe nicht, dass Start-ups die Branche aufmischen. Start-ups sind innovativ, schnell und denken auch out of the box, was unserer Branche guttut. In der Vergangenheit wurden sie vielleicht auch mal zu sehr gepusht, aber jetzt sehen wir, welche sich weiterentwickelt haben und zu etablierten Anbietern etwa von Softwarelösungen werden. Da gibt es auf jeden Fall viele Möglichkeiten, mit Mittelständlern zu kooperieren.

Die Frage ist also nicht analoge versus digitale Spedition?

Für mich ist nur ein Unternehmen überlebensfähig: der digitale, brutal industrialisierte Transport- oder Logistikdienstleister. Wenn sich Start-ups als digitale Spediteure bezeichnen, dann ist das für mich hauptsächlich Marketing. Die mittelständischen Unternehmen, die ich vor Augen habe, sind auch digitale Spediteure, sie haben auch eigene Plattformen und agieren zudem mit eigenen Assets oder systematisch ausgewählten und strategisch gepflegten Transportunternehmen. Bei den Start-ups à la digitale Spedition wird sich bald die Spreu vom Weizen trennen – einige Plattformen werden überleben, andere vom Markt verschwinden.

Welche Plattformen haben Bestand?

Die großen Plattformen wie Amazon dürfen wir da natürlich nicht vergessen. Ich glaube aber auch, dass Mittelständler tolle Plattformen haben und aufbauen werden. Die großen Konzerne hingegen werden zu Subunternehmen von Plattformen wie Amazon werden, wenn auch auf einem sehr hohen Niveau und als Supply-Chain-Orchestratoren. Die kriegsentscheidende Frage lautet, wer in der Supply-Chain wen degradiert und zukünftig den direkten Endkundenkontakt hat.

Dabei haben die Konzerne doch eigene Plattformen aufgebaut.

Diese Bemühungen sind meist schon gescheitert, bevor sie angefangen haben, denn sie stehen meist mit ihren nicht harmonisierten TMS-Systemlandschaften vor einem Trümmerhaufen. Hinzu kommen interne Grabenkriege und Fehlsteuerungen zwischen den IT-Verantwortlichen in der Zentrale und in den Regionen. Diese haben in der Vergangenheit ihr jeweils eigenes TMS entwickelt, und jetzt stehen sie vor der Herausforderung, dass sie die TMS-Systeme nicht mit den Schnittstellen gekoppelt bekommen. Die Web-Plattformen dienen also nur dazu, die kaputten TMS überhaupt noch zum Sprechen zu bringen.

Mit der Übernahme von Uber Freight durch Sennder zeigt sich, dass das Plattformmodell auch scheitern kann.

Ich glaube auf jeden Fall an die Plattformökonomie. Es ist aber auch eine Frage des Factoringmodells. Wenn das ein reines Factoringmodell ist, führt es mittelfristig zum Ruin. Oder es ist gekoppelt mit den Zahlungsströmen und den Verbindungen mit den Verladern. Dann gibt es auch eine Chance, es wirtschaftlich sinnvoll zu machen.

Zum Thema Digitalisierung: Ist die Bereitschaft dazu auch eine Frage des Generationenwechsels?

Das Problem der Firmen ohne Nachfolger besteht noch, aber es gibt auch eine Reihe von Unternehmen mit jungen Chefs, die auf die Vater- oder Großvatergeneration, die das Geschäft aufgebaut haben, folgen und deutlich akademisierter sind. Das heißt, sie sind analytischer unterwegs, verlassen sich nicht rein auf das Bauchgefühl. Diese Generation hat eine andere Perspektive, und das ist gut für die Branche.

Zur Branche gehören auch die Verlader. Welche Rolle spielen sie bei der Digitalisierung?

Ich sehe die Verantwortung der Verlader in der Schaffung von Standards. Ein Beispiel ist der Automotive-Sektor, der bereits VDA-Standards für Lieferschein-DFÜs, Abrechnungs- und Avisierungs-DFÜs hat. Und trotzdem kreiert jeder OEM noch seine eigene Datenreihe. Damit bringen sie die Dienstleister um ihre Marge, weil diese für jeden Kunden eine Insellösung haben müssen. Das macht die Prozesse aufwendiger. Aber die OEMs zeigen ja auch untereinander wenig Kooperationsbereitschaft, ebenso wie die Telematikhersteller. Das führt dann auch dazu, dass wir in Deutschland uns bei der Industrie 4.0 im Wege stehen, weil eine vertikale und horizontale Verzahnung der Prozesse nicht gelingt.

Ein Thema, das zukunftskritisch ist, ist auch der Klimaschutz – von den Verladern gewünscht, aber nicht finanziert.

Da sehe ich aber neben den Verladern auch die Politik in der Verantwortung. Wieder das Beispiel Automobilindustrie: Die zum Teil abstrusen globalen Teileströme sind nicht allein dem Produktionsverbund geschuldet, sondern basieren auf einer fiskalpolitischen Fehlsteuerung in der Konzernrechnungslegung. Die strategische Supply-Chain wird damit nicht mehr vom Logistiker per se geplant, sondern vom Steuerberater und von der Konzernrechnungslegung.

Wie sehen Sie die soziale Komponente?

Die beginnt meiner Ansicht nach bei den Ausschreibungen im Tendermanagement. Große Verlader machen auch durch ihre kaputten Datensätze Ausschreibungen so komplex, dass weder der Einkäufer noch der Dienstleister sie versteht. Dann kommen Konstellationen zusammen, bei denen eine auskömmliche Rendite für den Dienstleister nicht möglich ist, auf Kosten etwa der Fahrer. Die Verlader haben eine Corporate Social Responsibility, aber die reicht bei vielen maximal bis zur eigenen Fabrikgrenze.

Die Coronakrise stellt die Zukunftsfähigkeit vieler Unternehmen auf die Probe. Was sollte die Branche daraus lernen?

Für die Unternehmen kann es ratsam sein, weniger in eigene Assets zu investieren als eher in datengestützte Modelle. Die Zukunft ist aber auch nicht allein eine reine Plattformökonomie. Die Gewinner werden die Unternehmen sein, die schon vor der Krise in digitale Prozesse und Automatisierungsabläufe investiert haben und gleichzeitig Equipment und Lagerstandorte besitzen.

Zur Person

  • Professor Stefan Iskan (37) hat an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen eine Professur für Logistik und Wirtschaftsinformatik, insbesondere Automotive SCM und Digitalisierung, inne.
  • Er ist Beirat der Aysberg-Medien-Gruppe mit Sitz in Istanbul, die zusammen mit der Messe München die Logitrans austrägt, die Schwestermesse der Transport Logistic in München.
  • Der gebürtige Nürnberger war vor seiner wissenschaftlichen Karriere für den Logistikdienstleister Schenker – unter anderem im Key-Account-Management OEM Automotive – sowie als Konzernstratege bei der Deutschen Bahn in Berlin und Istanbul tätig.
  • Iskan lebt als Management- und Technologieberater für die Logistik- und Automobilindustrie in Stuttgart.
  • Aus interdisziplinärer Sicht und „aus der strategischen Helikopterperspektive“ hat Iskan gerade zusammen mit namhaften Autoren das Buch „Corona in Deutschland – Die Folgen für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik“ (Kohlhammer-Verlag) verfasst und herausgegeben.

Spedition 4.0 – wichtige Bausteine

1. Weiche Faktoren berücksichtigen: Veränderungsbereitschaft als zentraler Baustein in der Unternehmenskultur; investieren und gleichzeitig Kostenmanagement betreiben

2. Mehr Analytics im Tendermanagement, in der Nachkalkulation, in der Simulation

3. Kombiniert mit einer teilautomatischen Disposition

4. Maximal digitalisierte Aufbau- und Ablaufprozesse

5. Mehr Business-Intelligence: Aussagefähige Daten verhelfen zu mehr Transparenz im Tagesgeschäft

Foto: Prof. Stefan Iskan
Prof. Stefan Iskan
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