Neue Fälle aus der Autobahnkanzlei Geschwindigkeitsbegrenzung übersehen

Foto: stgrafix - stock.adobe.com

Heiner* ist verzweifelt. Er hat sich vorgenommen, ein Kraftfahrerleben ohne einen einzigen Punkt durchzuziehen. Da hat er noch einiges vor sich.

Heiner ruft mich im November 2019 das erste Mal an. Wie alle meine Mandanten hat er die Handynummer für den Notfall – und das hier ist einer. Vielleicht nicht objektiv, aber mental schon. Heiner ist gerade einmal 44 Jahre alt und Fernfahrer seit 19 Jahren. Er schwört Stein und Bein, noch nie einen Punkt bekommen zu haben. Das will er sich nicht kaputt machen lassen und schon gar nicht von so einem unfairen Ding.

Wenn es passiert wäre, als er mit dem Lkw unterwegs war und total unter Druck stand, würde er es verstehen. Es war aber nicht so. Den Bescheid hat er sich eingefangen, als er in aller Ruhe, nach einer gelungenen harmonischen Arbeitswoche, mit dem Leihwagen unterwegs nach Hause war. Kein Grund zum Rasen also. Auf der Landstraße soll er mit 89 km/h gefahren sein, was er auch für real hält. 10 km/h unter dem Erlaubten. Es ist so sein Fahrstil. Nur 50 km/h soll er gedurft haben. Das glaubt er nicht. Er übersieht nie ein Verkehrsschild, meint er wenigstens. Wir treffen uns samstags in meiner Kanzlei, was für Lkw-Fahrer bei mir durchaus üblich ist. Samstags ist der Kalender mit Terminen immer voll. Heiner hat den gelben Umschlag des Schreckens mitgebracht.

Tatortanalyse bringt Klarheit

Ich ärgere mich gleich, als ich den Bescheid in die Hand nehme. Wieder so ein Teil, bei dem der Tatvorwurf gar nicht im Bußgeldbescheid, sondern erst in der Anlage steht. Die Anlage wird auch nicht formell korrekt zum Gegenstand des Bußgeldbescheides gemacht. Im Bescheid heißt es nur: Siehe Anlage. Meiner Ansicht nach ist das zu wenig. Es fehlt also der Tatvorwurf im unterzeichneten Bescheid. Ich halte es für vertretbar, die Unwirksamkeit des Bußgeldbescheides zu rügen. Aber ich muss Heiner, der bei diesem Argument grinst, sich freut und abzuheben droht, wieder runterholen. Ein Fall, zehn Juristen, zehn Ansätze und zehn Lösungen. Ob mein Argument die Richterin überzeugt, das bleibt abzuwarten, erläutere ich ihm. Ich verspreche Heiner, dass ich weiterhin in die Feinheiten des Falles eindringe. Hierzu gehört die Tatortanalyse. Ein paar Wochen später fahre ich mit meinem Mitarbeiter Herrn Grunert – für diese Arbeit eigens bei uns eingestellt – zur Messstelle.

Heiner hat uns erläutert, wie sich das abgespielt haben kann. Wenn da tatsächlich ein Tempo-50-Schild ist, dann muss es so blöd stehen, dass man das übersieht. Heiner hat recht. So ist es. Das Schild steht direkt hinter dem Ortsausgangsschild. Wenn Heiner direkt hinter dem Ortsausgangsschild zum Überholen zum Beispiel eines Traktors angesetzt hat, dann wurde das Schild durch den Trecker beim Überholen verdeckt. Heiner hält das für durchaus möglich. Er meint sogar, sich vage an so etwas erinnern zu können. Zumindest als denkbare Sachverhaltsalternative lässt sich das also vortragen. Königsargumente aber haben sich beim detaillierten Aktenstudium ergeben.

Im Juni ist die Verhandlung. Die Pandemie hat die Terminpläne bei Richtern und Verteidigern voll durcheinandergewirbelt. Die Zeit vom Winter bis zum Sommer haben wir genutzt, um die Akten intensiv zu bearbeiten. Gut vorbereitet betrete ich an der Seite von Heiner den großen Saal. Eine akustische Herausforderung mit dem Läppchen an Mund und Nase. Wir werden das schon meistern, da bin ich mir ziemlich sicher.

Vom Freispruch zur Einstellung

Zu Beginn der Verhandlung rüge ich Verjährung. Die Richterin ist verdutzt. Das juristische Feuerwerk kann beginnen. Ich habe ein ziemlich cooles Argument auf Lager. Die Zustellung des Bußgeldbescheides ist unheilbar unwirksam. Wenn die aus der Zeitkette herausfällt, passiert Wunderbares. Das komplette bußgeldrechtliche Kartenhaus bricht zusammen. Zwischen der Anordnung der Anhörung und dem Zugang der Akte von Heiner beim Amtsgericht liegen mehr als drei Monate. Der Tatvorwurf unterliegt der Verfolgungsverjährung. Das heißt, er darf nicht weiterverfolgt werden.

Folgt die Richterin der Auffassung, dann ist Heiners Punkteeitelkeit befriedigt. Die Richterin will zuerst wissen, was wir noch auf Lager haben. Zur Fahreridentität äußern wir uns nicht. Ich stelle klar, dass es nicht unsere Aufgabe ist, mitzuteilen, ob Heiner der Fahrer war. Das muss die Richterin feststellen. Deshalb ist Heiner dabei. Ich weise auf das linke Ohrläppchen hin, das hat eine völlig andere Form als bei Heiner. Eine Ähnlichkeit zwischen dem Foto und Heiner lässt sich nicht abstreiten. Das Ohrläppchen passt aber nicht. Die Richterin schaut es sich genau an. Sie will sich zur Verjährungsproblematik belesen und unterbricht die Verhandlung. 15 Minuten später geht es weiter. Zu meiner Überraschung bietet sie, wie aus dem Nichts, Freispruch an. Das schmeckt mir nicht. Da kommt womöglich die Staatsanwaltschaft auf die Idee, Rechtsbeschwerde einzulegen, und das ganze Theater beginnt von Neuem.

Ich schlage Einstellung vor. Das ist punktefrei. Die Rechtsschutzversicherung trägt die Anwaltskosten und es gibt keinerlei Sanktionen. Das Ding ist dann festgezurrt und unanfechtbar. Die Richterin macht das so. Wir verlassen in bester Laune den Gerichtssaal. Heiner steht mit seinem schicken Laster auf dem nächstgelegenen Autohof. Ich fahre ihn hin. Noch eine Bockwurst und einen Kaffee. Heiner hat es jetzt eilig. Er verabschiedet sich mit lautem Hupgetöse. Ich schaue ihm nach. Spaß hat es gemacht mit ihm und eigentlich hat er recht. Der erste Punkt muss unbedingt vermieden werden. Sonst werden es ganz schnell mehr, meint Heiner nicht zu Unrecht. Unsere Erfahrung bestätigt das.

Kleine Fälle der Autobahnkanzlei

Wertvolles Tatvideo

Jost* kann keinen Punkt gebrauchen. Er hat schon drei. Das bereitet ihm schon schlaflose Nächte. Bei Heike Herzog ist er mit der Zielsetzung, das Abstandsvergehen punktefrei zu erledigen, genau richtig. Die Verteidigerin aus der Autobahnkanzlei in Schwegenheim analysiert sorgfältig das Tatvideo. Die Daten sprechen zum einen für Jost, zum anderen gegen Jost. 40 Meter Abstand, das ist kein Drama. Da kennen viele Richter Gnade. 88 km/h allerdings, das sind 8 km/h zu viel, und das erweckt nicht den Eindruck von Abbremsen. Aber Autobahnanwältin Heike Herzog hat etwas sehr Schönes gefunden. Direkt zu Beginn des Videos sieht man, dass sich ein Pkw knapp vor den Lkw setzt, der vor Jost fährt. Man kann diesen Vorgang nicht komplett sehen. Aber man sieht noch das Blinklicht des Pkw und die Bewegung nach rechts. Der Richter ist zunächst skeptisch. Das Video wird mehrfach angeschaut, dann nickt er. Verfahrenseinstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG. Die drei Punkte, die Jost hat, können jetzt in Ruhe verwesen. Es kommt kein neuer dazu.

AG MannheimAz.: 29 OWi 401 Js 13265/20

Uneindeutiger Handyverstoß

Joshi* ist ein ziemlich cooler Mandant. Zur Verhandlung kommt er frisch verliebt mit seiner neuen Freundin. Mit der war er am Tattag das erste Mal zusammen unterwegs. Die meinte, sie könne sich genau erinnern, dass Joshi das Handy mindestens eine Stunde vor dem Anhalten durch die Polizei nicht einmal in der Hand hatte. Sie kommt mit zur Verhandlung, um das auszusagen. Die Verhandlung beginnt. Der Richter ist nicht gut auf den Mandanten von Autobahnanwältin Heike Herzog zu sprechen. Handyverstöße hält er für etwas Grausames. Damit hat er irgendwie auch recht. Ist ja recht gefährlich. Aber hier, da ist sich Joshi ganz sicher – und seine Freundin auch –, gab es keinen Handyverstoß. Die Polizeibeamten verspäten sich um 20 Minuten, was bei dem Richter nicht gerade für gute Laune sorgt. Für die Verteidigung ist das optimal. Der Fahrer des Polizeiwagens kann sich überraschend gut erinnern. Der Beifahrer umso weniger. So richtig konkrete Erinnerungen haben sie allerdings beide nicht. Sie haben eben vorher ihre Anzeige noch einmal gelesen. Heike Herzog erläutert, dass sie mit dem Lesen der Notizen und der Anzeige vor einem Gerichtstermin eigentlich keine Probleme habe, das sei ja offensichtlich zulässig. Aber ein Problem sei, dass das Benutzen des angeblichen Handys durch diese Zeugenaussagen nicht nachgewiesen wurde. Immerhin könnte das angeblich erkannte farbige Display auch die große Uhr gewesen sein, die Joshi am Arm hat. Das zumindest konnte in der Verhandlung nicht ausgeschlossen werden. Den Richter überzeugte es mal wieder. Joshi wollte eigentlich die große Uhr vor der Verhandlung abnehmen. Heike hat ihn darum gebeten, das nicht zu tun. Am Ende war das ausschlaggebend. Das Verfahren wurde eingestellt.

AG Karlsruhe Az.: 7 OWi 250 Js 12412/20

Am Fernfahrertelefon

Rechtsanwalt Peter Möller sitzt am Fernfahrertelefon und steht euch mit Rat und Tat zur Seite. Hier ein Auszug von individuellen Fragen der Kollegen – und die Antworten des Juristen.

Hubert*: "Ich habe aus dem Nichts heraus eine Anhörung erhalten. Nur weil ich der Halter bin. Dürfen die das?"

Möller: "Meine Rechtsauffassung ist eigentlich: nein. Das klingt nach einer Anhörung ins Blaue hinein, lieber Hubert, die nur die Verjährung unterbrechen soll. Ich halte so etwas für nicht zulässig. Ich weiß aber, dass es verbreitete Praxis ist, wogegen man dringend vorgehen sollte. Du legst also mit deiner Frage den Finger in die Wunde."

Jule*: „Ich bin nach der Abifeier meiner Tochter mit 1,1 Promille rausgezogen worden. Ich fahre sonst nur mit 0,0 Promille. Aber ich habe mich so gefreut an diesem Abend. Da ist es passiert. Mist. Kann man hier noch was machen?!“

Möller: "Jule, da muss man sich zunächst die genauen Abläufe anschauen. Wurden alle formalen Dinge korrekt eingehalten? Manchmal findet sich hier schon etwas. Aber meist ist die Verteidigung auf Schadensbegrenzung angelegt. Informiere deinen Verteidiger darüber, warum dieser Ausrutscher passiert ist und warum keine Wiederholungsgefahr besteht, damit er mit dem Staatsanwalt einen geringen Führerscheinentzug aushandeln kann. Ein weiteres Argument könnte sein, dass der Durchschnittswert von 1,1 Promille auch auf einem oder zwei Werten beruht, die unter 1,1 Promille sind. Eine fast schon philosophische Frage. Warum soll bei vier Analysen, die regelmäßig stattfinden, der Durchschnittswert näher an der Wahrheit sein als der niedrigere. Ich denke, in dubio pro reo sollte der niedrigere Wert genommen werden und nicht der Durchschnittswert."

Franz*: "Ich habe ein Fahrverbot von einem Monat gekriegt. Kann ich auch 15-mal am Wochenende hintereinander bei meiner Polizeistation den Führerschein für Samstag und Sonntag in Verwahrung geben?"

Möller: "Die Idee ist super, lieber Franz, aber das Gesetz schreibt einen Monat vor und meint damit einen zusammenhängenden Monat. Schade eigentlich. Aber schlau gedacht."

Neues aus der Autobahnkanzlei Bitterfeld

Jetzt läuft Bitterfeld richtig. Himmel noch mal, was hatten wir Probleme, bis Internet und Telefonie endlich funktionierten und unser Intranet angeschlossen wurde. Der Gesellschaft sind wir einen ganzen Monat lang dreimal in der Woche auf den Keks gegangen. Jetzt hat es endlich mit den Anschlüssen geklappt. Die Telefonnummer lautet: 0 34 93-9 75 12 90. Und das Büro ist richtig schön geworden. Ein wenig stolz auf dieses schicke kleine Büro über der Lkw-Waschanlage sind wir schon.

*Alle Namen von der Redaktion geändert

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
FF 09 2020 Titel
FERNFAHRER 09 / 2020
1. August 2020
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