Müdigkeit und Sekundenschlaf am Steuer Test im Mercedes-Lkw als rollendem Schlaflabor

Gesundheit, Schlafst”rungen, Test der Augenerm�dung Foto: Andreas Wolf 5 Bilder

Müdigkeit und Sekundenschlaf ist eine der häufigsten Ursachen für Lkw-Unfälle auf der Straße.

Jeder vierte Unfalltote auf Autobahnen ist laut dem schlafmedizinischen Zentrum der Universität Regensburg auf Übermüdung zurückzuführen. Das sind etwa doppelt so viele wie auf Alkohol. Lkw-Fahrer sind besonders oft betroffen. Kein Wunder, sollen doch Monotonie, eine reizarme Umgebung und länger anhaltende monotone Aufgaben die Müdigkeit am Steuer fördern. Dabei lässt auch die Fähigkeit des Fahrers nach, die eigene Aufmerksamkeit realistisch einzuschätzen. Wobei sich Müdigkeit durch rechzeitige Ruhepausen ausgleichen lässt. Nicht so Schläfrigkeit, die sich eben nur durch Schlafen reduziert.
 
Ist die Übernachtung auf der Autobahnraststätte wirklich erholsam?
 
Umso erstaunlicher ist, dass die körperliche und psychische Belastung des Übernachtens im Fahrerhaus direkt neben der Autobahn die Wissenschaft bislang wenig interessiert hat. Zumindest im deutschsprachigen Raum gibt es dazu bisher kaum Untersuchungen. Allein Volvo initiierte bislang in Schweden eine zwei Nächte dauernde Studie mit sechs Testschläfern in der Globetrotter-Kabine einer FH 16-Sattelzugmaschine – einmal in ruhiger Umgebung und einmal an einem stark frequentierten Rasthof.
 
Analyse des schlafmedizinischen Zentrums der Universität Regensburg
 
Wie aufmerksam oder leistungsfähig sind Deutschlands Fernfahrer nach der Übernachtung an Autobahnraststätten? Das wollte Daimler genau wissen. „Zusammen mit dem schlafmedizinischen Zentrum der Universität Regensburg haben wir in einer Studie untersucht, wie sich Störungen des Schlafs durch Geräusche und nächtlichen Verkehrslärm auf die Leistungsfähigkeit von Lkw-Fahrern auswirkt“, sagt Siegfried Rothe, Leiter des Projektclusters Condition Enhancement bei Daimler. Was die Schlafforscher interessierte: Stört die Geräuschkulisse an einem Rastplatz den Schlaf, stören Verkehrsgeräusche oder fördern sie vielleicht sogar erholsamen Schlaf? Die Wissenschaftler untersuchten während einer Arbeitswoche in sechs Nächten zehn Lkw-Fahrer, die an das Übernachten auf Autobahn-Raststätten gewohnt waren.
 
Mercedes Actros MP2 1860 als Schlaflabor
 
Dazu rüsteten die Projektmitarbeiter einen Mercedes Actros MP2 1860 mit Megaspace-Fahrerhaus zum rollenden Schlaflabor um, der während des Testzeitraums vor dem ­Bezirksklinikum Regensburg stand und eine komplette polysomnografische Aufzeichnung ermöglichte. In der derart ausgestatteten Kabine verbrachten die Probanden jeweils drei aufeinanderfolgende Nächte, einmal ohne und einmal mit Lärm – Abfolgeffekte vermeidet die Studie mit gegenläufigen Testserien. Die Lärmnächte simulierten die Projektmitarbeiter mit einem auf einer Raststätte aufgenommenem Autobahn-Soundtrack, den sie mit definiertem Schallpegel in das Fahrerhaus einspielten.
 
Genauer Routen- und Pausenplan
 
An den jeweiligen Arbeitstagen beschäftigt sich die Studie mit der Leistungsfähigkeit der Fahrer. Zwei Touren waren dabei zu bewältigen: eine 3,5-stündige Vormittagsstrecke sowie eine vierstündige Nachmittagstour. Nach einem genauen Routen- und Pausenplan galt es, einen auf ein Gesamtgewicht von 40 Tonnen ausgelasteten Mercedes Actros 1848 Powershift samt Auflieger zu bewegen. Zwei Videokameras beobachteten dabei Fahrer und vorausfahrenden Verkehr. Daimler kümmerte sich um die gleichzeitige Aufzeichnung der digitalen Fahrdaten am Rechner. Physiologisch erfassten die Wissenschaftler Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit der Fahrer im Tagesverlauf anhand des rund um die Uhr abgeleiteten Hirnstrombildes und einer morgens und in der Mittagspause erstellten so genannten Pupillografie. Hinzu kamen eine Reihe standardisierter Tests, denen sich die Probanden alle zwei Stunden aussetzen mussten. Ein Reaktionstest gab Aufschluss über die objektive Leistungsfähigkeit, ein Fragebogen lieferte die subjektive Einschätzung der eigenen Aufmerksamkeit oder Müdigkeit.
 
Die Schlafqualität ist beeinträchtigt
 
Die Ergebnisse der Studie bringen Erstaunliches zutage. Am meisten überrascht, dass eine Vielzahl der Polysomnografie-Parameter zur Beurteilung der objektiven Schlafqualität keine deutlichen Unterschiede zwischen Nächten mit und ohne Verkehrslärm liefern. Berufskraftfahrer scheinen also erst mal mit nächtlichem Verkehrslärm gut umgehen zu können. Auch die Schläfrigkeitsmessung mit Hilfe der Pupillografie zeigte weder am Morgen noch am Mittag deutliche Unterschiede zu ruhigen Nächten. Ein genauerer Blick auf die Schlafarchitektur führt allerdings schnell zu einem anderen Bild. Bei Verkehrslärm während des Schlafs kommt es zu deutlich mehr Schlafunterbrechungen. Folge: Die Schlafqualität ist beeinträchtigt. Und dies wirkt sich auf die Wachheit tagsüber aus. Unter Stress und bei monotonen Arbeitsbedingungen sind bereits am Morgen deutliche Leistungseinbußen nachweisbar. Was besonders zu denken gibt: Obwohl das tagsüber abgeleitete Wach-EEG deutliche Hinweise auf erhöhte Müdigkeitswerte gibt, beschreiben sich die Probanden am Morgen nach Lärmnächten als wach und leistungsfähig, klagen über keine gravierenden Müdigkeitssymptome. Die Fahrer scheinen also den eigenen Wachheitsgrad falsch zu beurteilen und sich selbst zu überschätzen. Ein gefährliches Phänomen, mit dem das Unfallrisiko steigt.
 
Risikogruppe Berufskraftfahrer
 
Wenn die Studie auch nur moderate Auswirkungen von nächtlichem Verkehrslärm belegt, weisen die Schlafforscher doch darauf hin, dass eine Wochentour unter bestimmten Voraussetzungen aufgrund von Schlafmangel, längeren Fahr- und Arbeitszeiten, Monotonie, Stress, starkem Termindruck oder ausgedehnten Nachtfahrten deutlich höhere Anforderungen an die Leistungsfähigkeit des Fahrers stellt. Zudem, so die Einschätzung der Wissenschaftler, gehören Berufskraftfahrer ohnehin zu einer Risikogruppe. Ernährungsgewohnheiten und berufsbedingt ungesunder Lebensstil seien oft mit erhöhter Tagesmüdigkeit verbunden.
 
Zu laute Fahrerkabinen
 
Eher skeptisch stehen die Regensburger Schlafforscher den bisherigen Fahrerhaus-Einrichtungen in Sachen Schlafmöglichkeiten und Geräuschdämmung gegenüber. „Die bisherige Schalldämmung der Kabine des Mercedes Actros MP2 erfüllt bei Weitem nicht die Richtlinien für nächtliche Lärmbelastung“, heißt es im Abschlussbericht der Regensburger Studie unter anderem. Anzustreben seien Lautstärkepegel von 30 bis 35 dB(A), wie sie für Schlafräume in Mischgebieten empfohlen sind. Zudem sei darauf zu achten, dass Geräusche der Standklimaanlage oder Zusatzheizung nicht zu laut sind. Der Lärmpegel des Aggregatbetriebs im eigenen Fahrzeug ist auch ein zentraler Punkt einer Umfrage, die Daimler und das Zentrum für Verkehrswissenschaften der Uni Würzburg im Anschluss an die Regensburger Studie durchführten. Die beiden Diplom-Psychologinnen Nina Jellentrup und Jenna Lüttgen befragten an Rast- und Autohöfen insgesamt 250 Fahrer zu Symptomen und Gegenmaßnahmen bei einsetzender Müdigkeit. „Eine fahrzeugübergreifende Erhebung hat es bisher noch nie gegeben. Uns brachte sie wertvollen Input für die Entwicklung von Fahrerhäusern“, erklärt Daimler-Mitarbeiter Siegfried ­Rothe. Viele Fahrer wünschen sich einerseits eine bessere Schallisolierung gegenüber im Stand laufenden Fahrzeugaggregaten, andererseits aber auch die grundsätzliche Ausrüstung mit einer Standklimaanlage und einer Standheizung.
 
Zuhause schläft es sich am besten
 
Generell zeigte die Umfrage der Würzburger Uni, dass in vielen Kabinen kleine, schmale und nicht verstellbare Betten ohne vernünftigen Lattenrost die Regel sind. Eine ebenfalls oft genannte lärmmindernde Maßnahme auf Rasthof-Parkplätzen dürfte sich hingegen verhältnismäßig einfach realisieren lassen. Eine Ausrichtung der Stellplätze in der Art, dass die Fahrerhäuser abgewandt von der Autobahn stehen. Für die Fahrsicherheit ist die Schlafforschung unabdingbar, wenn auch die vollständige Erklärung des Schlafs den Schriftsteller Erich Kästner zu dem Kommentar veranlasste: „Der Schlaf führt ein Schattendasein. So sehr wir uns auch bemühen, wir werden ihn nicht bewusst wahrnehmen können.“ Wie Daten des Körpers und der Psyche das Verhalten beeinflussen, ist eine der ältesten Fragen – aber bis heute nicht restlich geklärt. Fest steht: Die meisten Menschen schlafen am besten im eigenen Bett – und zwar daheim.

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