Lkw-Unfälle Vision Zero - auch für Lkw?

Foto: Jan Bergrath
Meinung

Nach der offiziellen Unfallstatistik ist die Zahl der Verkehrstoten im Jahr 2021 gesunken. Nur nicht bei den Lkw-Unfällen am Stauende. Was ist der Grund?

Es ist auch für mich als Fachjournalist derzeit schwer, angesichts des nun seit dem 24. Februar anhaltenden völkerrechtswidrigen Krieges in der Ukraine und der unzähligen Opfer einfach wieder über die alttäglichen „Verkehrstoten“ zu schreiben. Aber auch das Leben in Deutschland geht weiter, selbst wenn derzeit nichts mehr normal ist. Viele Vorhaben der neuen Ampelregierung aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP sind angesichts der Entwicklungen gerade im Bereich der Energieversorgung Makulatur. Einerseits steht die Bundesregierung unter dem Druck eines Teiles der deutschen Öffentlichkeit, der Presse und anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die Einfuhr von Gas und Rohöl aus Russland komplett zu stoppen. Anderseits muss sie eine Lösung finden, wie sie für das deutsche Transportgewerbe realistische und schnell umsetzbare Möglichkeiten findet, das Transportgewerbe zu entlasten. Oliver Luksic, der parlamentarische Staatssekretär im Bundesminisiterum für Digitales und Verkehr, machte in einem Gespräch mit dem BGL bereits am 16. März deutlich, dass diese Maßnahmen europarechtlich konform umgesetzt werden müssen.

Auch am 21. März sprach Oliver Luksic mit dem BGL, Unternehmern und der Presse von konkreten befristeten Maßnahmen, die in Kürze von der Bundesregierung umgesetzt werden und von einem Tankrabatt für alle, um kurzfristig die Spitzen schnell und breit abzufedern. Andere Möglichkeiten wie Senkungen der einzelnen Steuern im Preis für den Diesel seien zum Teil europarechtlich problematisch. Fazit: Die Unternehmer müssten die Preise anheben, auch wenn die einzelnen Becher Joghurt teurer werden. Eine dauerhafte Unterstützung allein der Transportbranche sei auf Dauer nicht machbar. Auch der BGL schließt auf Nachdruck seiner in schwere Not geratenen Mitgliedsbetriebe eine angemeldete Demonstration nicht mehr aus, sollten die Maßnahmen nicht bald umgesetzt werden.

Der ganz normale Alltag

Am 16. März waren wir von der Deutschen Verkehrswacht (DVW) und dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR) zum Parlamentarischen Empfang in der Vertretung des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund eingeladen und haben in unserem Trailer zur 79. Sendung von FERNFAHRER LIVE (siehe Terminhinweis) einige Szenen des Abends festgehalten. Es ging darum, die Zahl der Unfälle weiter zu senken und die der Verkehrstoten auf Null zu bringen. Doch bereits am Morgen dieses Tages meldete die Feuerwehr Grevenbroich den ganz normalen Wahnsinn auf der Autobahn. „Bei einem schweren Unfall auf der Autobahn 46 zwischen den Anschlussstellen Grevenbroich Kapellen und Neuss-Holzheim wurden im Berufsverkehr am Mittwochmorgen (16.3.) gegen 8.10 Uhr mehrere Fahrer verletzt. Aus bislang ungeklärter Ursache waren drei Lkw kollidiert, zusätzlich war ein Pkw vom Unfall betroffen. Drei Personen wurden schwer verletzt und mussten in Krankenhäuser transportiert werden, einer davon per Rettungshubschrauber. Ein vierter Fahrer blieb augenscheinlich unverletzt und musste nicht weiter vor Ort behandelt werden.“ Am Nachmittag kam die Nachricht der Autobahnpolizei Dortmund anlässlich erster Protestaktionen zur Energiekrise hinzu: „Lkw-Fahrer haben am Mittwoch auf der A2 mutmaßlich eine Protestaktion gegen die hohen Benzinpreise gestartet. Laut Polizei blockierten drei Laster im Bereich Dortmund-Nordost alle drei Fahrstreifen bis zum Stillstand. Dabei kam es zu einem erheblichen Rückstau – und drei Unfällen.“

Und am frühen Abend schließlich demonstrierte der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) vor dem Gebäude, um ihre Teilnehmer im Saal zu unterstützen. Vor den Gästen stellte Bundesverkehrsminister Dr. Volker Wissing (FDP), der aus Rheinland-Pfalz stammt, anhand der wichtigsten Punkte aus dem Koalitionsvertrag die beschlossenen Pläne für eine bessere Verkehrspolitik vor. Verbunden mit der klaren Hoffnung auf die „Vision Zero“, also einem nahezu unfallfreien Verkehr in der Zukunft, der über Wege der weiter konsequenten Digitalisierung irgendwann beim autonomen Fahren enden soll. An dem bereits von seinem Vorgänger Andreas Scheuer (CSU) ins Leben gerufenen „Pakt der Verkehrssicherheit“ will Wissing als „Leuchtturmprojekt“ festhalten. Nach seinem kurzen Gastauftritt entschwand Wissing allerdings sofort, um sich sicherlich weiter der von ihm verantworteten Logistik für die vom Krieg in der Ukraine betroffenen Flüchtlinge zu widmen.

Rekordtief bei der Zahl der Verkehrstoten

Die auf den ersten Blick gute Nachricht: Die Zahl der Verkehrstoten ist im Jahr 2021 laut Statistischem Bundesamt (Destatis) um 150 auf 2.569 Menschen gesunken. Die niedrigste Zahl seit 60 Jahren. Bei Radfahrern um 18 Prozent, bei Fußgängern um 14 Prozent, bei Pedelecfahrern um neun Prozent, bei Pkw-Fahrern um sechs Prozent. Doch bereits im Vorfeld hatte Dieter Schäfer, der langjährige Direktor der Verkehrspolizei Mannheim und mit dem Verein „Hellwach mit 80 km/h“ ebenfalls im Pakt vertreten, explizit darauf hingewiesen, dass 2021 die Zahl der bei einem Unfall am Stauende verstorbenen Lkw-Fahrer auf 70 Menschen und damit um 18 Prozent gestiegen sei. In seiner Rede wies Wissing in diesem Bezug aber nur darauf hin, dass man im BMDV weiter daran festhalten wolle, das Abschalten der in den Lkw verbauten Notbremsassistenten zu verbieten. Er blieb dabei auf der Spur seines Vorgängers Andreas-Scheuer (CSU), was ich bereits in meinem Blog-Beitrag „Trügerische Sicherheit“ thematisiert hatte.

Doch in der Debatte der geladenen Parlamentarier aller fünf Parteien aus dem neu formierten Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages, die anstatt des sehr kurzfristig erkrankten Unfallforschers Siegfried Brockmann von der langjährigen SPD-Verkehrspolitikerin Kirsten Lühmann souverän geleitet wurde, ging es zunächst um das Thema „Mensch und Alkohol“ und die Null-Promille-Grenze bei allen Verkehrsteilnehmern. Hier wollte sich nur Thomas Lotze (Die Linke) wirklich festlegen – was viele Lkw-Fahrer in Deutschland lange fordern. Dabei ist es angesichts des jüngsten Vorfalls am Wochenende, bei dem diesmal ein polnischer Lkw-Fahrer mit mehr als zwei Promille in Schlangenlinien unterwegs war dringend geboten, den „letzten Weckruf“, eine fatale Trunkenheitsfahrt mit einem Lkw durch Fürth, auch in der Verkehrspolitik wahrzunehmen und dagegen zu halten.

Keine Debatte über die Gründe für die zunehmenden Lkw-Unfälle

Ein erstes Fazit lässt sich aus dem parlamentarischen Abend ziehen: die zukünftige Politik zur Verkehrssicherheit steht spürbar auch unter dem Einfluss einer innerstädtischen Bevorzugung des Radverkehrs durch eine Allianz vornehmlich grüner Politiker und maximal entschlossener Vertreter des ADFC, die sich sehr schwer damit tun, ohne einseitige Schuldzuweisung an die Lkw-Fahrer das grundsätzliche Prinzip der gegenseitigen Rücksichtnahme anzuerkennen und weiterhin, nicht zu Unrecht, einen konsequenten Einsatz von Abbiegeassistenten und einen besseren Ausbau der Radwege fordert. Dass innerstädtische Unfälle auch mit einer Zunahme des Radverkehrs und dort mit sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu tun haben, und Lkw-Fahrer dort vor allem in den dynamischen Rechtsabbiegesituationen einem tragischen Augenblicksversagen unterliegen, müsste von der Lobby aus der Logistik viel deutlicher betont werden. Und bei den Ermittlungen der Ursachen der Lkw-Unfälle am Stauende, so meine Position, sollte als erster Schritt die Polizei dazu verpflichtet werden, für die amtliche Statistik festzuhalten, ob der auffahrende Lkw einen Notbremsassistenten verbaut hatte und ob dieser möglicherweise ausgeschaltet war. Dann müsste zumindest über diesen Punkt nicht weiter spekuliert werden.

Foto: Christina Petters
Professor Walter Eichendorf, Präsident des DVR

Terminhinweis:

Für das vorab angekündigte Thema „Mensch und Technik“, also auch den Einsatz von Notbremsassistenten und die bessere Schulung der Fahrer auf die komplexe Technik, über die wir bei FERNFAHRER LIVE bereits ausgiebig gesprochen haben, blieb an diesem Abend leider keine Zeit. Dafür freuen wir uns, dass wir mit einem der beiden Gastgeber, dem Präsidenten des DVR, Professor Walter Eichendorf, diese offenen Fragen mit Dieter Schäfer (Hellwach mit 80 km/h), Dirk Engelhardt (BGL) und den drei Profis hinterm Steuer, Daniela Grabert, Holger Brost und Jürgen Franz nun in der 79. Sendung von FERNFAHRER LIVE am 24. März ab 17 Uhr ausdiskutieren können. Angesicht der aktuellen Entwicklungen zur Energiekrise halten wir uns offen, dieses Thema ebenfalls zu debattieren. Denn bekanntlich hängt alles mit allem zusammen.

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