Das war knapp: Am 16. Juni startete die Bild-Zeitung einen regelrechten Fahndungsaufruf. Sie veröffentlichte das Video eines Radfahrers, der per Dashcam aufgezeichnet hatte, wie zwei Rennradler auf der Greifswalder Straße in Berlin vor einer baustellenbedingten Verengung einen Gliederzug rechts überholten und kurz danach gleichzeitig mit ihm in die für den Lkw zu enge Baustelle einfuhren. Die Radler kamen mit dem Schrecken davon, jedoch leitete die Berliner Polizei anhand des Videos ein Verfahren ein und suchte nach den Beteiligten.
Hohe Anforderungen an Lkw-Fahrer kaum umsetzbar
Dem Lkw-Fahrer wurde schnell die alleinige Schuld an diesem Beinaheunfall zugewiesen. Am waghalsigen Verhalten der Radfahrer, das für sie auch tödlich hätte enden können, gab es jedoch keine Kritik. Rechtsanwalt Matthias Pfitzenmaier erläutert das grundsätzliche Dilemma für den Kraftfahrer: "Problematisch ist die hohe Anforderung an Lkw-Fahrer, die gesetzlich festgesetzt ist, aber praktisch fast nicht umgesetzt werden kann." Die Berliner Baustelleneinrichtung selbst, so Pfitzenmaier, sei jedoch grob fahrlässig. Sie wurde nach diesem Vorfall entschärft. Nach Paragraf 39 StVO gelten die gelben Markierungen vor den weißen. Dadurch entsteht eine verengte Hauptfahrbahn mit einem für Radfahrer gekennzeichneten Schutzstreifen. Die Fahrbahnbreite insgesamt reicht in keinem Fall dafür aus, dass Lkw und Radler die Engstelle parallel passieren. So entstehen Situationen, bei denen Kfz die Radfahrer überholen – und umgekehrt. Dann würde der Radler in der Engstelle rechts vorbeifahren, eine für Kfz-Lenker schwierig vorhersehbare Situation, ganz besonders für Lkw-Fahrer. Grundsätzlich ist das vorausfahrende Fahrzeug vorrangig.
Wenn also der Radler vor dem Lkw fährt, muss der Lkw-Fahrer warten; wenn der Radler hinter dem Lkw fährt, darf der Radler sich nicht rechts vorbeizwängen. Aber: Den Lkw-Fahrer treffen im konkreten Berliner Fall zwei gesteigerte Sorgfaltspflichten, die dazu führen können, dass er Radlern Vorfahrt gewähren muss. Das Warnschild mit dem Rad in der Mitte verlangt einerseits auch ohne erkennbare Gefahr neben erhöhter Aufmerksamkeit des Kraftfahrers eine angepasste Geschwindigkeit, die der Möglichkeit eines plötzlichen Kreuzens der Fahrbahn durch Radfahrer Rechnung trägt. Das setzt also eine besonders aufmerksame Lenkweise des Kraftfahrers fest. Zudem gilt: Wird am rechten Fahrbahnrand ein Schutzstreifen für Radfahrer so markiert, dann dürfen andere Fahrzeuge die Markierung zwar bei Bedarf überfahren, eine Gefährdung von Radfahrern ist dabei aber auszuschließen.
Radfahrer sollten Sorgfaltspflichten ernster nehmen
Es ist normiert, dass der Lkw den Radstreifen nur benutzen darf, wenn eine Gefährdung von Radfahrern ausgeschlossen ist. Ausschließen kann er dies nur, wenn er im Zeitpunkt des Befahrens den gesamten Gefahrbereich im Blick hat. Existiert ein toter Winkel, hat er nicht alles im Blick. Kommt es zum Unfall, haftet er wegen Fahrlässigkeit. Der praktisch vorhandene Einwand gegen eine Fahrlässigkeit, dass der Fahrer seine Augen auch auf die übrigen Spiegel richten muss, interessiert hier aber nur bedingt. Für Radfahrer gilt: Rechtsüberholen im fließenden Verkehr ist nicht zulässig. Eine Vorbeifahrt rechts ist nur bei wartenden Fahrzeugen zulässig und dann auch nur unter besonderer Vorsicht und Einhaltung eines ausreichenden Sicherheitsabstandes (rund ein Meter zum wartenden Kfz). Auch das Hindurchschlängeln zwischen den Fahrspuren ist verboten. Ein Verstoß wird aber in der Praxis meist nicht geahndet. Pfitzenmaiers Fazit: "Wenn die Sorgfaltspflichten für Radler ähnlich ernst genommen würden wie die der Lkw-Fahrer, dann hätten letztere deutlich weniger Stress."
Fragen zum Verkehrsrecht
Fragen zum Verkehrsrecht beantwortet Matthias Pfitzenmaier aus dem Haus des Rechts auf unserem Expertenportal unter www.eurotransport.de/experten.