JansBlog Fatale Entscheidung am Stauende

Vier Tote bei furchtbarem Unfall auf A6 - Lkw rast in Stauende Foto: NEWS5 / Schwan
Meinung

Ein Lkw-Fahrer verursacht einen tödlichen Unfall am Stauende und muss ins Gefängnis. Nach den Ermittlungen eines Sachverständigen hatte er den Notbremsassistenten übersteuert.

Die Frist zur Berufung ist abgelaufen. Nun muss der 45-jährige Lkw-Fahrer Heiko H. aus Esslingen seine Haftstrafe von zwei Jahren und neun Monaten antreten. Am 17. Mai 2016 war er am hellen Tag auf der A6 bei Nürnberg mit seinem Scania-Sattelzug nahezu ungebremst auf das Ende eines Staus gerast. Dabei schob er den Pkw einer fünfköpfigen Familie aus Vaihingen auf einen bulgarischen Lkw. Bis auf den Fahrer, der schwer verletzt wurde, starben alle im zermalmten Autowrack.

Der Prozess gegen Heiko H. fand am 12. Juli im Amtsgericht Hersbruck statt. Seither steht offiziell fest: Der Lkw-Fahrer war mindestens fünf Sekunden vollkommen abgelenkt, das sind im Lkw, bei einer vom Sachverständigen Herbert Huber über die Fahrerkarte ausgelesenen Geschwindigkeit von 89 km/h, sehr genau 123 Meter Blindflug. Allerdings spielte kein Smartphone oder Laptop eine Rolle, wie es die Autobahnpolizei heute bei sehr vielen Auffahrunfällen vermutet, sondern ein wohl anfänglich rein spontaner Blickkontakt aus dem Seitenfenster. Was bei Ablenkung im Lkw passieren kann, habe ich bereits in meinem Beitrag „Wenn Blicke töten“ beschrieben.

Auch Heiko H. traf diese fatale Entscheidung „Sie haben zu einem 16-jährigen Mädchen hinübergesehen und dann zu spät und falsch reagiert, das ist ein besonders hohes Maß an grober Fahrlässigkeit“, wird der Richter Andre Gläßl im Magazin N-Land zitiert. Auf Facebook haben einige Fahrer dieses Urteil noch für viel zu milde gehalten.

Menschliches oder technisches Versagen?

In dem Beitrag von N-Land heißt es unter der Zischenzeile „Automatisches Bremssystem ausgetrickst“:  Die Staatsanwaltschaft warf dem Angeklagten zunächst vor, das Bremssystem komplett ausgeschaltet zu haben. Dem war jedoch nicht so, klärte der Sachverständige Herbert Huber das Gericht auf. Das System funktioniert in drei Stufen: Zunächst gibt es einen Warnton, wenn der Laster sich einem Hindernis nähert, dann bremst es leicht ab, und in der dritten Stufe geht es in die Vollbremsung. Wenn der Fahrer beim Warnton das Bremspedal betätigt, wird das System deaktiviert, damit der Fahrer nun von sich aus aktiv werden kann.

Das hat mich stutzig gemacht. Denn es geht auch bei diesem tragischen Unfall um die Frage, welche Rolle der in dem Scania der R Serie verbaute Notbremsassistent (hier: Advanced Emergency Breaking, kurz AEB) und seine Bedienung durch den Fahrer gespielt hat.

Bekanntes Unfallmuster

Es ist, jedenfalls für mich, leider ein bekanntes Unfallmuster. Bereits im August 2015 habe ich mich in zwei Beträgen mit der Frage beschäftigt, wie Fahrer mit der Technik, die ja seit November 2015 in jeden neuen Lkw verbaut sein muss, umgehen. Der eine beschreibt zwei tödliche Unfälle von Lkw-Fahrern, die kurz vor dem Unfall ihren Notbremsassistenten übersteuert und damit kurzzeitig deaktiviert hatten, der andere ist meine Einschätzung zur fatalen menschlichen Reaktion von Fahrern, wenn sie mit plötzlichen Hindernissen auf der Autobahn konfrontiert werden.

Ein aktueller Fall auf der A3 zeigt, dass die Problematik weiter besteht. Ich habe mich deshalb, jetzt wo das Urteil rechtskräftig ist, mit dem Direktor des Amtsgerichts Hersbruck, Thomas Bartsch, und dem Sachverständigen Herbert Huber über den Unfall auf der A6 unterhalten. Ich wollte die Frage klären, ob es sich um menschliches oder technisches Versagen handelt.

Blickkontakt abrupt abgebrochen

Laut Amtsgerichtsdirektor Bartsch, der dem eintägigen Prozess als Beobachter beigewohnt hat, war Heiko H. von Nürnberg auf dem Weg nach Karlsruhe. Bis dahin war er rund 500 Kilometer gefahren nach einer viertägigen Pause, eine Überschreitung der Lenkzeiten gab es nicht. Es war ein heller Tag. Eigentlich sollte der baustellenbedingte Stau auf der hier zweispurigen A6 von Nürnberg nach Heilbronn genau am Kreuz Nürnberg-Ost den Lkw-Fahrern, die öfter dort vorbeikommen, bekannt sein. Auch wurde durch eine Beschilderung drei Kilometer davor und insgesamt fünf Mal explizit davor gewarnt. Nach Auswertung der Geschwindigkeitsdaten aus der Fahrerkarte hat der Fahrer bereits in dieser Phase keine Reaktion gezeigt.

Als Zeugin hatte das damals 15-jährige Mädchen ausgesagt, Heiko H. habe fünf Sekunden ununterbrochenen Blickkontakt zu ihr gehabt, während sie auf der linken Spur in einem Kleinbus an ihm vorbei rollte. Der Kontakt sei dann abrupt abgebrochen. Der tragische Grund ist bekannt: Während die linke Spur frei war, hatte sich auf der rechten Spur ein Stau von Lkw gebildet, in den Heiko H. mit 85 km/h donnerte. „Der Fahrer konnte sich selbst an den Hergang vor dem Unfall nicht mehr erinnern“, sagt Direktor Bartsch. „Er selbst war schwer verletzt, zu den Ersthelfern hat er gesagt, kümmert euch erst um die Leute im Pkw.“

Datenauswertung durch Scania in Schweden

Der Unfallsachverständige Herbert Huber kennt die Details, denn die Daten aus dem Motormanagementsystem des Scania R 410, der 72.000 Kilometer auf der Uhr hatte, wurden in Schweden ausgelesen. „Rund 1.100 Stunden war das Notbremssystem aktiviert, der Fahrer hatte es also nicht dauerhaft abgeschaltet“, erzählt Huber. „Zudem hinterließ er den Eindruck, dass er sich mit der Funktionsweise des Scania-Systems gut auskannte.“

Als Zufallsfund entdeckten die Experten in Södertälje allerdings, dass die Leistung nachträglich von 410 auf 500 PS erhöht worden war, was von der Staatsanwaltschaft aber nicht weiter berücksichtigt wurde. "Fest steht jedoch, dass dieses Notbremssystem in der Warnstufe 1 durch den Fahrer übersteuert und damit für mehrere Sekunden deaktiviert war.“

Ob dies durch einen Kick-Down oder durch eine Betätigung des Bremspedals erfolgte, ließ sich nachträglich nicht mehr feststellen, sagt Huber. Auch nicht, ob dies ganz bewusst oder durch einen Reflex geschah. Der Fahrer konnte sich auch vor Gericht nicht mehr daran erinnern. „Fest steht nur, dass er kurz vor dem Aufprall die Geschwindigkeit von 89 km/h auf 85 km/h reduziert hatte. Das war allerdings noch im Rahmen der Bremsschwallphase.“

Das hat gereicht, den am Stauende stehenden Pkw mitsamt dem Lkw aus Bulgarien aus dem Stand auf 43 km/h zu beschleunigen und auf zwei weitere Lkw aus Rumänien und Polen zu schieben. Die Familie in ihrem Pkw hatte keine Chance. Dass der Familienvater überhaupt überlebt hat, grenzt an ein Wunder. „Hätte der Fahrer beim Aufleuchten des Warnsignals und des akustischen Signals in Stufe 1 des Notbremsassistenten sofort mit einer Vollbremsung reagiert, wäre der Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit vermeidbar gewesen“, sagt der Sachverständige Herbert Huber. „Er hätte an dieser Stelle sogar noch nach rechts oder links ausweichen können.“

Es steht mir hier nicht zu, das Verhalten des Fahrers zu bewerten. Das hat das Gericht getan. Allerdings frage ich mich wieder einmal, welche Möglichkeiten der Übersteuerung der Notbremsassistenten sinnvoll sind – und welche nicht. Lesen Sie dazu die Antwort in meinem Blog in der nächsten Woche. Ein Hinweis bereits vorweg: Es zeichnen sich bei den sieben Herstellern ganz unterschiedliche Philosophien ab.

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