Interview zum EU-Mobilitätspaket Ertug: „Keine Illusionen machen!“

Foto: IRU

Als Gast der IRU sollte der deutsche EU-Parlamentarier Ismail Ertug zusammen mit dem Niederländer Wim van de Camp auf einem Sicherheitsparkplatz in Belgien eine Nacht im Lkw verbringen. Doch letzten Endes ist er nicht darauf eingegangen. Das Parkplatzthema polarisiert unterdessen weiter.

Ich freue mich natürlich immer, wenn meine Texte und meine Blogs gelesen werden - so zum Beispiel mein letzter Blog "Sonderparkflächen– ein riskanter Plan“. Darin kritisiere ich, so wie im aktuellen FERNFAHRER 6/2018, die Pläne des Niederländers Wim van de Camp, dem Berichterstatter des Europäischen Parlaments zum Mobilitätspaket.

Zusammen mit Ismail Ertug, dem Koordinator der Fraktion S&D (socialists & democrats) im Ausschuss für Verkehr und Fremdenverkehr (TRAN), war er von der IRU eingeladen worden, auf einem Sicherheitsparkplatz nahe Brüssel eine Nacht im Lkw zu verbringen. Denn das Thema „Ruhezeit im Lkw“ ist eines der entscheidenden Themen im Vorschlag der EU-Kommission zum EU-Mobilitätspaket.

Lkw-Übernachtung mit Signalwirkung

Beide Politiker hatte ich gefragt, ob sie sich nicht lieber einmal ein ganzes Wochenende auf einem deutschen Autohof ansehen möchten, was es wirklich bedeutet, wochenlang im Lkw unterwegs zu sein. Wim van de Camp fand den Vorschlag grundsätzlich gut, musste aber aus Mangel an Zeit absagen. Ismail Ertug, im Bild dritter von links, war etwas zerknirscht, weil ich geschrieben hatte, er sei wohl in der Nacht "ausgebüchst".

Er schrieb mir: "Ihr Artikel ist wieder einmal herrlich zu lesen. Ganz besonders die gut verpackten Spitzen gegen die "unfähigen und unwissenden" MdEP sind zum Schmunzeln. Wie Sie richtig erwähnen, war ich tatsächlich nicht bereit, im Lkw zu übernachten. Die politische Strahlwirkung war mir durchaus bewusst. Darüber muss ich nun mit Wim van de Camp noch einmal reden.“

Prompt habe ich Ismail Ertug sechs Fragen geschickt, die er auch sofort beantwortet hat. Sie geben durchaus wieder, unter welcher Spannung die Abgeordneten in Brüssel derzeit stehen.

1. Ein Film der IRU sorgt derzeit für Aufsehen. Darin gehen Wim van de Camp und Sie auf das Angebot der IRU ein, eine Nacht im Lkw zu verbringen. Sie sind am nächsten Tag in dem dazu gedrehten Film nicht mehr zu sehen. Warum?

Ertug: "Ich hatte niemals vor, die Nacht im Lkw zu verbringen. Auf das Angebot, mir einmal einen solchen Parkplatz anzusehen, bin ich eingegangen. Warum auch nicht, es ist für einen Politiker durchaus interessant, eine solche Parkplatzanlage einmal hautnah zu sehen. Ich war mir allerdings sehr wohl bewusst, welche politische Botschaft die IRU mit der Übernachtung im Lkw aussenden wollte - und genau dafür wollte ich mich nicht und habe mich auch nicht hergegeben."

2. Wie realistisch ist es, dass die Parkplatzidee von Wim van de Camp sich bei der kommenden Abstimmung auch durchsetzt?

Ertug: "Im Moment sieht es so aus, dass die Idee, europaweit solche Parkplätze aufzubauen, eine Mehrheit im Ausschuss finden könnte. Aber niemand sollte sich eine Illusion darüber machen, dass diese Parkplätze in ausreichender Anzahl zeitnah verfügbar sein werden. Diese aufzubauen wird eine nicht unerhebliche Zeit in Anspruch nehmen."

3. Was halten Sie persönlich von der Idee?

"Grundsätzlich finde ich die Idee, sichere und saubere Parkplätze für Lkw-Fahrer zu haben, sehr gut. Der Idee von Berichterstatter Wim van de Camp, alle Ruhezeiten in solch einer Einrichtung verbringen zu dürfen, stehe ich jedoch sehr skeptisch, ja ablehnend gegenüber. Die reduzierte wöchentliche Ruhezeit in der Fahrerkabine zu verbringen, wenn möglich auf einem dieser sicheren Parkplätze, sollte meiner Meinung nach möglich sein. Die reguläre wöchentliche Ruhezeit, also 45 Stunden und mehr, darf nach meiner Auffassung, und hier habe ich meine Fraktion hinter mir, auf keinen Fall in der Fahrerkabine verbracht werden. Im Gegenteil, ich kann mir vorstellen, dass zwei aufeinanderfolgende reduzierte Ruhezeiten in der Kabine verbracht werden können. Dafür sollten die Lkw-Fahrer aber spätestens nach drei Wochen ihre Ruhezeit und die Kompensation für die reduzierten Ruhezeiten zuhause bei ihren Familien verbringen können."

4. Wie ist derzeit grundsätzlich die Stimmung im Europäischen Parlament zum Mobilitätspaket, und wie verhärtet sind die Fronten zwischen den einzelnen Fraktionen - und innerhalb der Fraktionen selber?

"Die Stimmung im Parlament ist professionell, aber schwierig. Innerhalb der Fraktionen kommt es sehr auf das Thema an: Bei meinem Dossier, also den beiden EU-Verordnungen 1071/2009 (Markzugang) und 1072/2009 (Kabotage), konnten wir bei den Themen Kontrolle, der Einbeziehung von leichten Nutzfahrzeugen ab 2,8 Tonnen (LCVs) und auch bei der Bekämpfung von Briefkastenfirmen schon recht gute Kompromisse erzielen, die von der Mehrzahl der Fraktionen getragen werden konnten. Die Themen Kabotage selbst und die Entsendung von Arbeitnehmer sind dagegen weiterhin hoch umstritten. Allerdings bin ich nach wie vor guter Dinge, dass wir am Ende einen praktikablen Kompromiss erreichen, der die Situation vor allem für die Lkw-Fahrer nachhaltig verbessern kann."

5. Was ist Ihre Prognose für die Abstimmung? Und wann findet sie nun statt?

"Wir gehen davon aus, dass die Abstimmung zu den drei "sozialen" Dossiers, also der "Lex Specialis" der 1071/2009, der 1072/2009 sowie der Überarbeitung der Lenk- und Ruhezeiten am 7. Juni stattfinden wird. Ich glaube nach wie vor, dass dabei ein guter und praktikabler Kompromiss möglich ist. Vor allem auch die Abstimmung im Beschäftigungsausschuss letzte Woche gibt viel Grund zu Optimismus – hier hat sich eine breite Mehrheit der Abgeordneten für eine progressivere und sozialere Ausrichtung des Transportsektors ausgesprochen."

6. Was bereitet Ihnen derzeit die meisten Sorgen?

"Wir müssen aufhören, die Verhandlungen über das Mobilitätspaket aus zwei extremen Positionen zu betrachten. Der Westen und Norden Europas sieht, zu Recht, Sozialdumping am Werke. Unsere osteuropäischen Kollegen prangern an, dass wir banalen Protektionismus betreiben. Allerdings: Wir haben einen akuten Fahrermangel. Und dieser lässt sich meiner Meinung nach nur lösen, indem wir die sozialen Bedingungen für die Lkw-Fahrer nachhaltig und substantiell verbessern: finanziell, aber auch sozial, also regelmäßige Heimkehr und, aber das ist lediglich ein kleiner Baustein, eine komfortablere und sicherere Unterkunft während sie auf der Straße sind."

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