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Interview mit Verkehrspolitiker Cem Özdemir „Deutschland nicht zupflastern“

Cem Özdemir, Interview, Verkehrspolitik, Verkehr, Schiene, Grüne Foto: Thomas Küppers

Grünen-Verkehrspolitiker Cem Özdemir fordert im Gespräch mit trans aktuell einen Paradigmenwechsel in der Verkehrspolitik.

Demnach müsse sich die Verkehrspolitik vom Prinzip „Straße finanziert Straße“ entfernen und stattdessen nach dem Grundsatz „Verkehr finanziert Verkehrswende“ handeln, fordert Özdemir. Ebenso dürfen beispielsweise Mehreinnahmen bei der Lkw-Maut nach Ansicht des Grünen-Verkehrspolitikers nicht dazu führen, dass in einem geschlossenen Finanzierungskreislauf nur noch in Beton und Straßenneubau ­investiert und Deutschland so ­zugepflastert wird.

Herr Özdemir, Sie sind seit Anfang 2018 Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Bundestag. Sind Sie in dieser Position schon angekommen?

Cem Özdemir: Klar. Da hatte ich inzwischen genug Zeit. Es ist eine spannende Herausforderung, weil es auf der einen Seite um Verkehr und Mobilität geht, aber eben auch um die digitale Infrastruktur.

Was sind Ihre konkreten Aufgaben als Vorsitzender des ­Verkehrsausschusses?

Meine Aufgaben als Ausschussvorsitzender sind zunächst protokollarischer Natur. Ich leite die Sitzungen, bereite sie vor und repräsentiere den Ausschuss. Mit aller Kraft setze ich mich dafür ein, dass die grünen Zukunftsprojekte ökologische Modernisierung des Wirtschaftsstandorts, Digitalisierung und Verkehrswende auf die politische Tagesordnung kommen. Wo möglich, nutze ich meine Rolle – wie nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur CSU-Maut –, um Druck aufzubauen, dass Verkehrsminister Scheuer im Ausschuss Rede und Antwort stehen muss.

Bleiben wir mal beim Thema Maut. Ist demnach die Lkw-Maut momentan richtig kon­struiert? So sind zwar alternative Antriebe von der Maut befreit, aber nur für zwei Jahre.

Wir Grüne haben uns dafür eingesetzt, dass Lkw mit alternativen Antrieben, also auch solche mit CNG- und LNG-Antrieb, längerfristig weniger Maut bezahlen. Bedauernswerterweise ist das Angebot an Lkw mit alternativen Antrieben ja zurzeit noch sehr mau. Grundsätzlich gilt aber auch: Ziel muss sein, überall dort, wo es möglich ist, Güter auf die Schiene zu verlagern. Es darf am Ende nicht so bleiben, dass wir auf der Straße günstiger sind als auf der Schiene.

v. li.: ???, Cem Özdemir, Oliver Trost, Andrea Ertl, Ralf Lanzinger Foto: Thomas Küppers
Zu Gast bei trans aktuell: der Grünen-Verkehrspolitiker Cem Özdemir im Gespräch mit den Redakteuren Ralf Lanzinger (r.) und Andrea Ertl sowie mit dem Geschäftsführer des ETM Verlags, Oliver Trost. Links: Florian Pitschel, Mitarbeiter von Cem Özdemir.
Könnte hier eine CO2-Steuer ausgleichend wirken?

Ob man das nun Besteuerung nennt oder Bepreisung – fest steht: CO2 braucht ein Preisschild. Ein CO2-Preis wäre eine zutiefst marktwirtschaftliche und einfache Lösung. Wer klimafreundlich produziert oder konsumiert, wird belohnt. Wer auf Kosten des Klimas handelt, muss dafür einen fairen Preis zahlen. Bei anderen Ressourcen ist das längst so. Das muss auch beim Klimaschutz so sein. So beenden wir ökonomische Fehlanreize und fördern Innovationen. Im Übrigen machen wir das nicht, um dem Staat immer neue Einnahmequellen zu erschließen. Wir wollen die Einnahmen über ein Energiegeld und die nahezu vollständige Abschaffung der Stromsteuer an Bürger und Unternehmen zurückzahlen.

Würde eine CO2-Steuer die Spediteure nicht noch unverhältnismäßig zusätzlich belasten, nachdem sie schon die Lkw-Maut zu tragen haben?

Wenn Spediteure Lkw-Maut für die Nutzung der Straßen zahlen, geht es ja zurzeit zuallererst um Erhalt und Finanzierung der Infrastruktur. Wenn wir das Straßennetz in gutem Zustand erhalten, dann profitieren davon alle Nutzer. Dazu brauchen wir im Übrigen auch keine unsinnige CSU-Maut für Ausländer, denn zur Wahrheit gehört auch, dass wir eine viel stärkere Belastung der Straßen durch Lkw als durch Autos haben.

Im Hinblick auf die starke Belastung der Straßen durch Lkw: Welches Potenzial sehen Sie für die Verlagerung von Gütern auf die Schiene?

Da gibt es noch einiges Potenzial. Beim Anteil der Güter auf der Schiene stagnieren wir in Deutschland seit Jahren bei rund 18 Prozent. Das ist eine fatale Bilanz für die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Österreich hat 30 Prozent, die Schweiz liegt bei 42 Prozent.

Wie sollen hierzulande mehr Güter auf die Schiene verlagert werden, wenn die Schienen bereits jetzt voll ausgelastet sind?

Da haben Sie recht. Wir haben jetzt schon massive Engpässe, weil in den vergangenen Jahren nicht in die Schiene investiert worden ist. Das rächt sich jetzt bitter. 2018 investierte Deutschland pro Bürger 77 Euro in sein Schienennetz, die Schweiz 365 Euro. Auch Großbritannien, Österreich und Italien haben pro Kopf mehr investiert als Deutschland. Und die bitterste Zahl: Seit dem Jahr der Bahnreform, also 1994, wurden in Deutschland 5.400 Kilometer Schienen stillgelegt, also rund 16 Prozent des Netzes. So kann das nicht weitergehen. Deutschland braucht endlich ein Schienennetz, das mit der Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft mithalten kann.

Wie viel Geld ist momentan für den Gleisausbau vorgesehen?

Der aktuelle Mittelansatz im Bedarfsplan Schiene beträgt 1,65 Milliarden Euro. Das ist viel zu wenig und würde bedeuten, dass wir schon rein rechnerisch 30 Jahre brauchen, um die Projekte des Bedarfsplans abzuarbeiten. Entscheidend ist hier nicht die mittelfristige Finanzplanung, sondern der jährliche Haushalt. Und da gehen die Investitionen in den Neu- und Ausbau für 2020 laut Entwurf der Bundesregierung sogar etwas runter. Notwendig wäre stattdessen, dass wir mittelfristig drei Milliarden im Jahr investieren. Und auch die Personaldecke beim Eisenbahnbundesamt, das für die Genehmigungsverfahren zuständig ist, entwickelt sich zunehmend zum Flaschenhals. 2010 haben dort 153 Personen gearbeitet, 2017 nur noch 139 Personen. Hier braucht es mehr Personal.

Was müsste passieren?

Notwendig ist eine klare Ansage: Wir wollen Klimaschutz im Verkehr. Das heißt: Verkehrswende mit einer starken Schiene als Rückgrat. Dazu brauchen wir auch eine Verkehrswende innerhalb der Verkehrspolitik und eine stärkere Priorisierung der Schiene. Nehmen wir als Beispiel den Widerspruch bei Gleisanschlüssen: Unternehmen in Deutschland müssen für Gleisanschlüsse bezahlen, aber so gut wie gar nicht für den Anschluss an die Straße. Im Jahr 1997 gab es noch um die 11.000 Gleisanschlüsse, 2017 waren es dann nur noch rund 2.000. Das ist deutlich zu wenig für die Verkehrswende. Wir Grüne schlagen ein Gleisanschlussförderprogramm bis 2030 mit dem Ziel vor, dass wir mindestens 1.000 Anschlüsse entweder reaktivieren oder neu bauen.

Neue Gleise sind oft mit Bürgerprotesten verbunden …

Wichtig ist eine vernünftige Bürgerbeteiligung, mit der man die Leute frühzeitig mit einbezieht. Wer so verfährt, kann Prozesse beschleunigen. Ich verweise noch einmal auf die Schweiz. Die ist nun wirklich nicht dafür bekannt, ihre Bürger nicht hinreichend einzubeziehen. Trotzdem ist sie schneller oder besser gesagt: Genau deshalb ist sie schneller. Dort gibt es schon lange einen nationalen Schienenkonsens.

Wie schätzen Sie die Chancen beim automatisierten Güterverkehr auf der Schiene ein?

Auf der Schiene ist die Automatisierung am naheliegendsten, da sie in einem spurgebundenen System weit weniger komplex ist als beim Auto. Darauf müssen wir unsere Priorität setzen und die Schiene auch in Deutschland ins digitale Zeitalter bringen. Dazu gehört auch endlich der Ausbau des European Train Control Systems (ETCS), zu Deutsch: Europäisches Zugbeeinflussungssystem. Hierzu sind allerdings Investitionen von mindestens 1,5 Milliarden Euro jährlich notwendig.

Das wirft die Frage auf: Wer soll das alles finanzieren?

Natürlich ist da auch der Finanzminister gefordert. Aber es geht nicht allein um mehr Geld, sondern auch darum, das Geld im Verkehrsetat anders und effizienter einzusetzen. Konkret durch den Abbau von klimaschädlichen Subventionen und durch neue, zukunftsgewandte Prioritätensetzung. Bisher fließen zum Beispiel die Einnahmen der Lkw-Maut vollständig in den Neu- und Ausbau der Straßeninfrastruktur. Die Grundfrage des Verkehrs muss auch sein, dass wir vom Prinzip „Straße finanziert Straße“ wegkommen und uns trauen, zu sagen: „Verkehr finanziert Verkehrswende.“ Damit meine ich, dass wir die Einnahmen aus der Lkw-Maut selbstverständlich dazu nutzen, um unser Straßennetz bestmöglich zu erhalten. Das ist notwendig und richtig. Mehreinnahmen dürfen aber nicht dazu führen, dass wir in einem geschlossenen Finanzierungskreislauf nur noch in Beton und Straßenneubau ­investieren und Deutschland so ­zupflastern.

Zur Person

  • Cem Özdemir wurde 1965 in Bad Urach geboren. Seine Eltern kamen Anfang der 1960er-Jahre als Gastarbeiter nach Deutschland
  • Nach der Realschule lernte er Erzieher und schloss ein Studium der Sozialpädagogik an der Evangelischen Fachhochschule in Reutlingen ab
  • 1981 trat Özdemir den Grünen bei. 1994 wurde er in den Deutschen Bundestag gewählt, dem er bis 2002 angehörte. Von 2004 bis 2009 war er Europaabgeordneter
  • 2013 wurde er erneut in den Bundestag gewählt. Über zehn Jahre, bis 2018, war er Vorsitzender der Grünen
  • Seit Anfang 2018 ist Özdemir Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur im Bundestag

Der Ausschuss

Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ist ein ständiger Bundestagsausschuss. Er ist federführend oder ­beratend an allen Gesetzentwürfen, Anträgen, Berichten sowie EU-Vorlagen zu denjenigen Themen beteiligt, die seinen Namen ausmachen. Der Abgeordnete Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) leitet den Ausschuss seit Januar 2018. Momentan setzt sich der Ausschuss aus 43 Mitgliedern zusammen.

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