Gewerkschaft belastet Automobilindustrie Erschütternde Bilder

Jan Bergrath Foto: Jan Bergrath
Meinung

Edwin Atema ist seit Jahren der Frontkämpfer der niederländischen Gewerkschaft FNV gegen das Sozialdumping mit osteuropäischen Lkw-Fahrern. Mit zwei Kollegen hat er nun einen spannenden Film über die seiner Meinung nach menschenunwürdige internationale Logistik für die Automobilindustrie gedreht.

Schon seit 2009 ist Edwin Atema, der langjährige Lkw-Fahrer mit Jurastudium, für die niederländische Gewerkschaft FNV Bondgenoten so etwas wie die Speerspitze im Kampf gegen das nach wie vor praktizierte Sozialdumping mit Lkw-Fahrern aus Osteuropa. Immer wieder habe ich über ihn berichtet. Er ist überall dort unterwegs, wo das Elend seiner Meinung nach sein mobiles Zuhause hat. Im Hafen von Rotterdam etwa, im europäischen Distributionszentrum von IKEA in Dortmund und an fast jedem Sonntag auf irgendeinem Parkplatz in den Niederlanden, wo er osteuropäische Fahrer über ihre Rechte aufklärt, dass ihnen für ihre dauerhafte Beschäftigung in Westeuropa der niederländische Tariflohn zusteht.

Erst im September 2018, nach einer Klage der FNV und einer vorausgegangenen ebenfalls gut gemachten Atema-Filmdokumentation über die internationale Logistik von IKEA, hat ein Berufungsgericht in den Niederlanden in einem Urteil gegen Brinkman Trans Holland bestätigt, dass deren osteuropäische Fahrer auch für Touren aus den Niederlanden heraus nach Schweden im Auftrag von IKEA der niederländische Tariflohn zusteht. Ein Erfolg, von dem die ebenfalls tapferen Streiter des deutschen DGB-Projekts „Faire Mobilität“ um Michael Wahl zusammen mit der deutschen Gewerkschaft Verdi noch träumen. Eine Voraussetzung dafür wäre ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag in Deutschland, der aber derzeit mit den Verbänden der Logistikbranche nicht möglich scheint. So versucht man, den deutschen Mindestlohn für osteuropäische Fahrer vor Gericht zu erstreiten. Offenbar bahnt sich hier jetzt eine neue Klage an, wie man bei Mobifair erfahren haben will.

Bildreiche Anklage gegen die Automobilindustrie

Zusammen mit Daniel Iacob, einem ehemaligen rumänischen Lkw-Fahrer, der seit drei Jahren bei der FNV arbeitet, sowie dem dritten FNV-Gewerkschafter, Richard Vervoren, hat Atema nun im Rahmen einer Pressekonferenz am 5. Oktober in der Utrechter FNV-Zentrale, zu der ich geladen war, einen kurzweiligen Film in englischer Sprache gezeigt, der mit erschütternden Bildern anhand konkreter Beispiele demonstriert, wie sich, so der gewerkschaftliche Vorwurf, die internationale Automobilindustrie zwar eigene ethische Standards setzt, aber im Falle ihrer Logistiker dann doch nicht so genau hinschaut, was sich beim Transport ihrer Lkw und Pkw auf der Straße oder am Wochenende auf den Rastplätzen abspielt. „Diese Verantwortung existiert nur auf dem Papier“, behauptet Atema. Und das ist zudem geduldig, wie er am Beispiel des niederländischen Logistikers De Rooy demonstriert, der unter anderem neue Lkw zu Kunden in ganz Europa bringt.

Fast schon komisch ist der Moment, wo Atema eine angebliche osteuropäische Niederlassung von De Rooy besucht und die junge Frau, die ihm eine Tür eines Warschauer Bürogebäudes öffnet, gleich verrät, dass dies nur der Sitz einer „virtuelle Firma“ sei. Dann wird es wieder Ernst, wenn der Film drei osteuropäische Fahrer zu Wort kommen lässt, die offen darüber sprechen, wie ihre jeweiligen Arbeitgeber mit falschen Dokumenten tricksen, um weiterhin die große Spannweite vor allem der Sozialkosten aufrechterhalten, durch die sich auch für westeuropäische Speditionen der Aufbau eines Netzwerkes an Niederlassungen in Osteuropa erst lohnt. Eine wirkliche Krankenversicherung, so schildert ein Fahrer, müsse er sich selber privat kaufen, auch falls ihm in Ausübung des Berufs etwas zustoßen würde.

Dramatische Kostenunterschiede, kaum Kontrollen

So kommen dramatische Kostenunterschiede eines Fahrer von rund 20.000 Euro zu den rund 80.000 Euro in den Niederlanden zustande. Mazedonische Fahrer, die über Polen beschäftigt würden, hätten überhaupt keine Sozialversicherung. Als Konsequenz, so Atema, müssten seriöse niederländische Anbieter aus der Automobillogistik ihre eigenen Standards weiter nach unten schrauben, um im Preiswettbewerb mithalten zu können. „Die Regierungen vieler Länder schauen einfach weg“, so Atema bei der Pressekonferenz, „in nahezu allen Ländern, sei es im Osten wie im Westen, gibt es nicht ausreichend Mitarbeiter bei den für die Kontrollen auf der Straße oder in den Betrieben zuständigen Behörden.“

Interessant sind auch die im Film kurz aufgeführten Vorwürfe zur wahren Unternehmensstruktur bei Waberers als Franchisemodell, die sicher in Budapest für weitere Unruhe im Logistikkonzern sorgen werden.

Konzertierte Berichterstattung

Nahezu zeitgleich ist am heutigen Montag auch eine Reportage im Berliner Tagesspiegel erschienen, die sich auf die Recherchen von Atema bezieht und erstmals Zahlen zur Beschäftigung von Fahrern aus Drittstaaten wie der Ukraine über polnische Speditionen beschreibt. Es ist, wie ich vom Autor Harald Schumann des Recherchenetzwerks „Investigate Europe“ weiß, eine konzertierte Aktion in mehreren Ländern. Auch dieser Artikel ist absolut lesenswert.

Selten hat ein Film in wenigen Minuten die „sozial-wirtschaftliche Kriminalität“, wie Atema sie ganz unverblümt nennt, dokumentiert und beschrieben. „Am liebsten würde ich die Rechnung an die Automobilindustrie senden“, sagt er. Ich jedenfalls kann den Film wirklich empfehlen und hoffe, dass er viel Beachtung findet – auch so kurz vor den möglichen neuen Vorschlägen zum ruhenden Mobilitätspaket in Brüssel. Er wird so manchen Politkern und vielleicht auch den Verantwortlichen in der Automobilindustrie die Augen öffnen.

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