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Fahrer vor Gericht Fiese Schilder sorgen für Tempodelikt

Fahrer vor Gericht, Punkte-Tacho Foto: Archiv Illustrationen, Florence Frieser

Die "Tat" entstand aus einem Irrtum, der jedem hätte passieren können, und für den Mandaten steht viel auf dem Spiel. Gibt es eine Chance?

Borna – zugegeben, das sagt mir zuerst mal nicht so viel. Dass ich da fast einen ganzen Tag verbringen werde, damit rechne ich im Moment noch nicht. Es geht um eine Geschwindigkeitsüberschreitung. 24 km/h soll er zu schnell gefahren sein. Er, das ist Veit*, ein Vollblut-Fernfahrer. Veit ist 62 Jahre alt, hat Frau, Kinder und sogar Enkelkinder. Und außerdem – und das findet er nicht so toll – ein paar Punkte in Flensburg. Die machen dieses Verfahren besonders brisant. Gewinne ich heute, dann ist Veit zwölf Punkte los, die im November verfallen. Verliere ich, dann gibt’s noch drei dazu. Dann hat er 15 und jeder weiß, dass da die Luft langsam dünner wird.

Fahrer ist nicht vernehmungsfähig

Der Gerichtssaal ist im zweiten Obergeschoss. Die Flure sind mit ansprechenden Fotos geschmückt. Doch ich befürchte, dass die meisten, die hier durchgehen, wenig Sinn für Kunst, sondern vielmehr schwere, manchmal existenzielle Probleme zu klären haben.

Veit habe ich abgesagt, er war zu nervös am Telefon und nicht vernehmungsfähig. Mit einer vernünftigen Begründung war der Richter bereit, Veit von seiner Anwesenheitspflicht zu befreien. Im Gerichtssaal treffe ich auf den Richter, einen 60-jährigen Strahlemann. Gemütlich wirkt er, er lächelt, das wird sich noch ändern. Ein Sachverständiger, den man sofort als solchen enttarnt, ist auch anwesend und dazu der Polizeibeamte. Er und der Sachverständige werden ermahnt, die Wahrheit zu sagen. Der Richter fragt, ob der Zeuge im Saal bleiben kann. Ich antworte mit Nein, weil ich nicht möchte, dass der Zeuge schon vor seiner Aussage mithört, ­worauf es ankommt. Mein "Nein" beantwortet der Richter mit einem leicht erschreckten Blick zur Tür, den der Zeuge sofort als Auf­forderung zum Verlassen des Saales versteht. Die Verhandlung beginnt.

Ich mache deutlich, dass ich auf den Zeugen und den Sachverständigen gut verzichten kann. Ich ziehe die Korrektheit der Messung nämlich gar nicht in Zweifel. Mir geht es um einen Irrtum, dem mein Mandant unterlag. Er dachte nämlich, er sei auf einer Kraftfahrstraße und dürfe Tempo 80 fahren. Diesen Eindruck hätte die ­Beschilderung unterstützt. Außerdem gebe es eine Verwaltungsrichtlinie, die vorschreibt, dass "wie Kraftfahrstraßen ausgebaute Straßen" auch entsprechend zu klassifizieren seien. Ich spreche den Richter direkt auf das Problem an: "Das, Herr Richter, ist doch nur irrtümlich keine Kraftfahrstraße. Etwas provokanter ausgedrückt: Wäre das hier eine Kraftfahrstraße, dann könnte man die Lkw-Fahrer nicht mehr zur Kasse bitten. Die Verwirrung wird bewusst aufrechterhalten, sonst könnte man ja ein klarstellendes Tempo-60-Schild aufbauen. Hier geht es um die Staatskasse und nicht um die Sicherheit im Straßenverkehr." Der Richter schaut mich verständnisvoll von oben an. Ich lege einen Schriftsatz mit meinen Argumenten vor und beantrage einen Ortstermin, damit der Richter sich selbst ein Bild von der Straße und der fiesen Beschilderung machen kann. In aller Ruhe, aber trotzdem sofort, lehnt der Richter den Beweisantrag ab und beginnt mit der Vernehmung des Polizeibeamten. Der Sachverständige folgt. Der Richter will jetzt die Beweisaufnahme schließen. Es ist 11.30 Uhr. Ich bitte um Unterbrechung des Verfahrens bis um 15.30 Uhr. Der Richter ist einverstanden und ruft die nächste Sache auf. Um 15.50 Uhr macht mir der Richter un­missverständlich klar, dass er meine Darlegung akzeptiert, aber nicht bereit ist, das Bußgeld unter die Punktegrenze zu re­du­zieren. Dafür habe der Mandant zu viele Voreintragungen.

Kein einziger Geschwindigkeitsverstoß

Ich weise auf die Punkte im Einzelnen hin: "Herr Richter, schauen Sie sich bitte an, was wir hier haben. Ladung, Abstand, Handy, Überhol- und Sonntagsfahrverbot – und das auf fünf Jahre verteilt. Kein einziger Geschwindigkeitsverstoß dabei, nichts Einschlägiges." Der Richter kontert: "Herr Verteidiger, Sie wissen selbst, die Masse macht’s." Das ist mein Stichwort: "Genau! Bei 150.000 Kilometern im Jahr ist das, was da auf dem Punktekonto steht, eher mager." Er will nicht darauf eingehen: "Unter 40 Euro kann ich hier nicht gehen." Damit gebe ich mich nicht zufrieden, zu viel steht auf dem Spiel: "Herr Vorsitzender, ich gehe hier nicht mit einem Urteil raus. Bitte unterbrechen Sie für eine Viertelstunde. Ich finde etwas in der Akte, das Sie überzeugt." Überraschend seine Antwort: "Dann mal los, Herr Vertei­diger. Ich habe bis morgen früh um neun Zeit, dann beginnt die nächste Verhandlung." Ich blättere und ­blättere, vergleiche noch einmal die Nummern des Messprotokolls mit dem Eichschein – plötzlich sehe ich etwas, was mir auch vorher hätte auffallen können. Der Bußgeldbescheid wurde mir und nicht dem Mandanten zugestellt. Das ist ein klarer formeller Fehler, der Konsequenzen haben muss! Ich weise den Richter darauf hin. Der guckt einmal, zweimal, dreimal. Blättert im Kommentar und meint: "Gut, Sie rufen mir Verjährung zu und ich antworte mit Einstellung." So wird’s gemacht.

Einstellung durch Urteil! Sogar die Sachverständigenkosten bleiben bei der Staatskasse. Hinterher versuche ich, Veit anzurufen. Der geht nicht ran. Am Abend sitze ich im Büro und probiere es noch zehn Mal. Veit geht nicht ran. Dasselbe Spiel am nächsten Morgen. Ich erreiche ihn einfach nicht. Daher schreibe ich ihm den Ausgang des Verfahrens. Schade, denn die Freude des Mandanten, das ist der tollste Lohn der Arbeit! Dafür kämpft man als Anwalt im Prozess – und zwar jedes Mal aufs Neue.

*Name von der Redaktion geändert

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Harry Binhammer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Harry Binhammer Fachanwalt für Arbeitsrecht
Rechtsanwalt Matthias Pfitzenmaier Matthias Pfitzenmaier Fachanwalt für Verkehrsrecht
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