Fahrbericht Mercedes Citaro setzt Maßstäbe

Mercedes Citaro Foto: Daimler 9 Bilder

Wer will der Marke verdenken, dass sie kräftig aufs Gaspedal steigt: Enorm viel hängt vom neuen Stadtbus ab, der Citaro ist der Golf unter seinesgleichen und deshalb zum Erfolg verpflichtet.

Überdies startet er ausgerechnet in eine allgemeine Stadtbusflaute hinein, die Bestellungen sind zurzeit eher verhalten. Das verdoppelt den Druck auf den Niederflurbus. Umso wichtiger sind seine Qualitäten: Was also kann der neue Citaro wirklich? Zunächst macht er einen guten Eindruck. Flott und freundlich sieht er aus, schmunzelt den wartenden Fahrgästen entgegen. Die großen Fensterflächen wirken einladend – zum Hineingehen und Hinausschauen. Mit seinen schmissigen Radläufen spurtet der Bus schon im Stand los. Keine Frage: Mercedes hat die herkömmliche Kiste gut in Form gebracht, schon optisch ist der Citaro ein Dynamiker.

Der Neue Mercedes Citaro ist nicht nur schick, sondern auch praktisch

Und wer dann beim Blick nach oben angesichts des Luftspalts zwischen Dach und dem Designelement über der vorderen Tür einen Verarbeitungsfehler vermutet, wird eines Besseren belehrt: Auf dem Dach sollen sich weder Regenpfützen noch Schnee sammeln. Der Neue ist nicht nur schick, sondern auch praktisch: Die Wartungspunkte sind rundum gut zugänglich. Vorn machen die Verkleidungen beim Blick auf Scheibenwischergestänge, Birnen und den deutlich vergrößerten Waschwasserbehälter fast schon einen Striptease, kehrt der Citaro das Innerste nach außen.

Also hinein in die hoffentlich gute Stube. Als Revolution feiert Mercedes die hinten angeschlagene Tür der Fahrerkabine und den angehobenen Fahrerplatz. Nun, beides gibt es in unterschiedlichen Konfigurationen bereits anderswo, was die Vorteile indes nicht in Frage stellt. Der Fahrer sitzt erhabener, das stärkt die Position und verbessert die Sicht. Nur über die neue Tür sollte man nochmals nachdenken: vorn öffnen, aber vorher hinten entriegeln? Das mit Verlaub ist beim Einsteigen ein rechter Krampf. Erst recht, wenn vorgezogene Scheiben seitlich an der Kabine den Fahrer schützen sollen.

Gut durchdacht haben die Entwickler den Ablageplatz

Perfekt mutet dagegen die Sitzposition an: Prima Sicht auf die Spiegel drinnen und draußen, rechts selbst bei heruntergelassener Sonnenblende. Die Sicht nach vorn und zur Seite lässt dank der Kombination aus tiefer Fensterlinie und erhöhter Fahrerposition nichts zu wünschen übrig. Platz gibt’s ohne Ende, selbst Zwei-Meter-Riesen fahren den Sitz nicht in die hinterste Position. Auch an Ablagen für die große Tasche und den alltäglichen Kleinkram bis zur Getränkeflasche haben die Entwickler gedacht. Ins Zeitungsnetz vorn passt das Pausenblatt mit den ganz großen Buchstaben.

Die neue Armaturentafel basiert in ihrer Grundkonstruktion zwar auf dem alten wuchtigen VDV-Klotz, bedeutet aber in ihrer Ausprägung einen enormen Schritt nach vorn. Mercedes vollzieht konsequent den Schwenk vom Brett zum Cockpit. Sieh an, so schlank kann der gewölbte VDV-Armaturenträger sein, dass auch Große nicht mehr mit den Knien an der Seite Anstoß nehmen. Die Verstellweite des Armaturenträgers ist gewachsen und reicht für alle Fahrerformate vom Zwerg bis zum Riesen. Das dazugehörige feine Lenkrad kennt man bereits aus den Reisebussen mit Stern. Nur: Muss es wirklich ein Multifunktionslenkrad sein? Im hektischen Stadtverkehr bleibt kaum Zeit, sich durch die Menüs zu hangeln. Aber was man dort findet, lohnt den Tastenklick: Engagierte Fahrer rufen sich vor allem die Verbrauchsanzeige auf und verfolgen sie während ihrer Schicht im Farbdisplay. Die besonders Guten werden Ehrgeiz entwickeln, von Umlauf zu Umlauf den Spritkonsum des Citaro zu senken.

An der Überkopf-Armatur lässt sich die Klimatisierung anpassen

Links und rechts vom farbigen Zentraldisplay (ja: die tief stehende Sonne stört durchaus die Ablesbarkeit) sind Tacho und Drehzahlmesser in Grau gehalten, fast schon sportlich. Und ordentlich ablesbar, wie es sich gehört. Aber könnten die Entwickler freundlicherweise nochmals einen Blick auf die farbige Kennzeichnung des Drehzahlmessers werfen? Der Citaro bewegt sich im Stadtverkehr zwischen 800 und maximal 1.500 Touren, warum fängt das grüne Feld je nach Motor erst bei 1.000 oder 1.200 Umdrehungen an? Bitte keine Information von gestern im Bus von heute.

Zwei weitere Anregungen: Der Fahrer muss Kopf und Arm verrenken, will er an der Überkopf-Armatur während der Fahrt die Klimatisierung seines Arbeitsplatzes anpassen. Und so praktisch die zusätzlichen DIN-Einschubfächer vorn rechts zwischen Armaturen und Tür auch sein mögen: Das Radio ist dort nur fummelig zu bedienen. Ein Störfaktor, selbst wenn es auf der Linie ausgeschaltet bleibt und nur bei der Heimfahrt oder während der Pause eingeschaltet ist.

Damit genug des Tadels: Alle anderen Tasten und Regler liegen im neuen Citaro perfekt geordnet und bestens zugänglich wie auf dem Präsentierteller. Ob Feststellbremse, Spiegelverstellung – auch die Innenspiegel elektrisch, danke – oder Luftdüsen und Türtaster: Das alles ist so, wie es sein soll. Inklusive des großen, ebenfalls elektrisch betätigten Fahrerfensters. Die Drucktasten der Automatikgetriebe sind aus Platzgründen nach oben gerutscht, legen sich dort quer – passt. Fazit zum Cockpit des neuen Citaro: von Details abgesehen Spitzenklasse.

Im Gelenkbus wirkt die Lenkung besonders stramm

Solo- und Gelenkbus, drei Motoren, zwei Getriebe – für den ersten Probegalopp standen gleich drei sehr unterschiedliche Citaro zur Verfügung. Für alle gilt: Der Fahrkomfort ist für einen Niederflur-Stadtbus unerreicht gut. Vor allem aus Fahrerperspektive, ganz vorn vor der feinen ZF-Einzelradaufhängung. Die Lenkung des neuen Citaro wird manchem Fahrer zu straff erscheinen, lässiges Wirbeln mit der flachen Hand geht nicht, hier muss man zufassen. Der neue Citaro zahlt die kleine Mühe mit Fahrbahngefühl zurück, auch folgt er präzise aufs Wort.

Im Gelenkbus wirkt die Lenkung besonders stramm, da täte etwas weniger Widerstand gut. Trotzdem ist die Kurbelei nicht lästig: Zwar hat Mercedes sowohl den Radstand als auch den vorderen Überhang ein wenig verlängert. Doch weiterhin trumpft der Citaro mit einem vergleichsweise kleinen Wendekreis auf, speziell der Solobus ist mit 21,2 Metern enorm gelenkig.

Der Citaro fährt fahrgastfreundlich geschmeidig

Und flott: Egal ob kleiner oder großer Sechszylinder, ob Voith- oder ZF-Getriebe – der Citaro fährt fahrgastfreundlich geschmeidig und gleichzeitig zügig an, schaltet verblüffend früh hoch, ist nicht auf Krawall gebürstet. Mit einer Einschränkung: Ganz hinten in der Version mit stehendem Motor geht es nach ersten subjektiven Eindrücken auch im neuen Stadtbus recht lärmig zu. Besonders sanft schaltet traditionell das Voith-Getriebe, das sechsgängige ZF Ecolife verlangte im früh zur Welt gekommenen Solobus noch nach ein wenig Feinabstimmung, gab sich etwas zickig und ruppig. Fazit zu Antrieb und Fahrwerk: abgesehen von Kleinigkeiten ebenfalls Spitzenklasse.
Auf dem Weg von vorn nach hinten gleitet die Hand der Fahrgäste über die neuen ovalen vorgebauten Haltestangen. Der Raumeindruck hat gewonnen, ist luftig und nüchtern-freundlich. Eben gut in Form. An Superlativen mag das zunächst genügen.

Produkteinführung in zwei Stufen: Was kommt wann?

Mercedes startet den neuen Citaro in einem zweistufigen Verfahren: Jetzt beginnen die Volumenmodelle, also Solobusse mit zwei und drei Türen in zwölf Meter Länge, die entsprechenden Überlandausführungen sowie der Gelenkbus. "Wir haben den Antriebstrang bewusst unverändert gelassen", betont Linienbus-Technikchef Wolfgang Prokopp. Ihm genügt die Herausforderung von neuer Karosserie, neuem Fahrerplatz sowie des neuen Fahrgastraums.

Ohnehin fehlt mit Blick auf Euro 6 die passende Maschine. Der neue Reihensechszylinder mit 12,8 Liter Hubraum aus dem Travego Edition 1 ist für Stadtbusse überdimensioniert und nicht in liegender Ausführung geplant. Mercedes hat es bereits angedeutet: In Vorbereitung ist ein Triebwerk mit 10,6 Liter Hubraum, genau passend auch für Stadtbusse. Mit Premierendatum IAA 2012 dürfte man nicht falsch liegen. Prokopp: "Mit Euro 6 wird das gesamte Fahrzeugheck bis zur Hinterachse in Angriff genommen."

Im Laufe des Jahres 2013 folgt dann die komplette Citaro-Familie bis zum Capacity in neuer Ausführung mit Euro 6. Vorbereitet ist der neue Citaro bereits: Batterielage beim Solowagen, Struktur des Gerippes, Radstände und Scheiben sind bereits auf morgen ausgelegt. Wolfgang Prokopp über die Politik der kurzen Schritte: "Die Citaro-Familie hat mehr als 20 Mitglieder. Wenn Sie da bei der Entwicklung Fehler machen, können Sie sogar ein Unternehmen in Schwierigkeiten bringen."

Erster Niederflurbus mit elektronischem Stabilitätsprogramm: Aber ganz sicher

Mit Tempo 70 rauscht der Citaro auf das Hindernis zu. Scharfer Lenkeinschlag nach rechts, Lenkung gerade, scharf nach links, Lenkung gerade – der Stadtbus absolviert den genormten Ausweichtest mit Bravour. Die Technik hilft dabei mit kurzen heftigen Bremseingriffen, alle Pylonen bleiben stehen. Das spektakuläre Manöver gelingt zwar auch ohne das elektronische Stabilitätsprogramm ESP, erfordert jedoch deutlich mehr Arbeit, damit der Bus nicht ausbricht. Ob der Fahrer die Situation bewältigt hätte, wenn statt des Manövers mit Ansage und Pylonen plötzlich ein Kind auf die Fahrbahn gelaufen wäre, weiß niemand.

Der Citaro ist der erste Niederflurbus mit ESP und die Diskussion unausweichlich: Braucht das ein Stadtbus? Wer sich in der Innenstadt von Halte­stelle zu Haltestelle und von Ampel zu Ampel hangelt, kann auf das Antischleuderprogramm verzichten. Wer aber in die Vororte fährt, Überlandanteile mit 60 oder gar 80 km/h bewältigt, schätzt die Situation anders ein. Eine einzige heikle Situation im Leben eines Stadtbusses genügt, um ESP zu rechtfertigen. ABS und elektronisches Bremssystem stellt schließlich auch niemand mehr in Frage.

Denn es gibt sie, die überraschenden Situationen. Das plötzliche Hindernis in der Kurve, die sonst immer mit 45 Sachen perfekt gepasst hat. Nur heute nicht, wenn sich die harmlose Rechtsbiegung beim Ausweichen in eine gemeine Hundekurve verwandelt. Auch diese Übung klappt ohne ESP. Vielleicht. Und bei Regen und Schnee?

ESP im Niederflurbus ist ein vertracktes Ding. Der ESP-Sensor sitzt üblicherweise im Schwerpunkt, beim Reisebus also etwas nach der Mitte im Gepäckraum. Im Niederflur-Solobus wäre dies nahe der Mitteltür auf halber Höhe in Wagenmitte. In der Praxis undenkbar, deshalb platziert Mercedes den Sensor vorn im Elektrofach nahe des Mittelgangs. Und entwickelte ein umfangreiches Rechenprogramm, das die Karosseriebewegungen dort in Relation zur Wagenmitte setzt. Damit ESP bei Schleudergefahr im richtigen Moment eingreift und die Fuhre stabilisiert. Den neuen Citaro gibt es als Solobus mit dem Lebensretter, im komplizierteren Gelenkbus soll er folgen.

Die Wette gilt: Bald werden über ESP im Niederflur-Stadtbus nur diejenigen diskutieren, die ESP im Niederflur-Stadtbus mangels Know-how nicht anbieten können. Und Vorschrift wird’s sowieso.

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