Ein Jahr Mobilitätspaket Wer blickt noch durch?

Foto: Jan Bergrath
Meinung

Am 20.8.2020 ist der erste Teil des Mobilitätspakets, die Anpassung der Sozialvorschriften, in Kraft getreten. Am 19.8. reden wir darüber bei FERNFAHRER LIVE.

Neulich hatte sich der EU-Parlamentarier Ismail Ertug, einer der Verhandlungsführer zum Mobilitätspaket 1, dessen erfolgreichen Vollzug er am 9.7.2020 in Brüssel höchst persönlich verkündet hatte, in den Fachmedien zu Wort gemeldet. Es ging um den vor allem in den sozialen Medien harsch kritisierten Bau eines neuen Fahrerstützpunktes mit Hotel der Hegelmann-Gruppe an einem grenznahen neuen Stützpunkt in Polen. Anders als zunächst interpretiert, nutzt die Unternehmensgruppe, zu der eigenständig operierende große Flotten mit Standorten unter anderem in Polen und Litauen gehören, die Möglichkeiten des Mobilitätspaketes tatsächlich weitestgehend legal aus. Und zwar die, die bereits am 20.8.2020 im Rahmen der Anpassung der Sozialvorschriften in Kraft getreten sind. „Solche und ähnliche Pervertierungen der eigentlichen Intention der neuen Lenk- und Ruhezeiten-Verordnung habe ich befürchtet“, wird Ertug zitiert. Auch deshalb, so heißt es weiter, habe er sich für eine Rückkehrpflicht für den Lkw starkgemacht, damit die Fahrer zumindest alle acht Wochen in ihre Heimat können.

Es ist zum Verzweifeln

Es ist schon zum Verzweifeln, wenn selbst einer der Gründerväter des Mobilitätspaketes selbst offenbar nicht mehr ganz versteht, was eigentlich in diesem ersten Teil, den ich bereits mit allen Details zu den Anpassungen der Sozialvorschriften als „Total Verfahren“ beschrieben habe, wirklich „angerichtet“ wurde. Fall sich noch jemand daran erinnert, hieß es in der alten Fassung der VO (EG) 561/2006 im Artikel 8 Absatz 8: „Sofern sich ein Fahrer hierfür entscheidet, können nicht am Standort eingelegte tägliche Ruhezeiten und reduzierte wöchentliche Ruhezeiten im Fahrzeug verbracht werden, sofern das Fahrzeug über geeignete Schlafmöglichkeiten für jeden Fahrer verfügt und nicht fährt.“ In einem Filmbeitrag für das WDR-Magazin Westpol hatte ich als Co-Autor bereits 2013 die damalige EU-Kommission um eine Interpretation gebeten.

Sie lautete: „Es war die Absicht der EU-Kommission, dass die Transportunternehmen die Touren so zu organisieren haben, dass die Fahrer spätestens jedes zweite Wochenende am Heimatstandort des Lkw verbringen können.“ Wer sich diesen Film acht Jahre später ansieht muss leider erkennen, dass eigentlich alles noch viel schlimmer geworden ist. Nicht nur sind Heimatstandort des Lkw und Heimat des Fahrers längst zwei ziemlich weit voneinander getrennte Orte geworden. Über jedes zweite Wochenende daheim können sich eigentlich nur deutsche Fahrer freuen. Außer die, die eh jedes Wochenende daheim sind und die anderen, die weiterhin – meist freiwillig - zwischen Gibraltar und dem Nordkap pendeln.

Rückkehrrecht der Fahrer, Rückkehrpflicht der Lkw

Möglicherweise konnte die EU-Kommission damals auch nicht wirklich absehen, dass so viele westeuropäische Speditionen Niederlassungen in Osteuropa gründen würden, oft reine Briefkastenfirmen. Dazu greifen die großen litauischen Flotten, die auch sehr gerne für Amazon unterwegs sind, mittlerweile fast ausschließlich auf Fahrer der ehemaligen GUS-Staaten wie überwiegend Belarus oder die Ukraine zurück. Spätestens in den Trilogen hätte dieser Fakt allerdings bekannt sein müssen. Dort wurde aber, auch unter dem mittlerweile bekannt gewordenen Druck einer Sperrminorität vor allem der osteuropäischen EU-Parlamentarier, ein für mich verhängnisvoller Kompromiss getroffen: Dieses Recht der freiwilligen Rückkehr der Fahrer wurde in einen Bezugsrahmen von vier Wochen gepackt, was die Kontrolle durch die nationalen Behörden, siehe noch einmal den Blog „Total verfahren“, erschwert. Es wurde aber auch jener Satz eingefügt, der es Flotten wie Hegelmann oder Girteka, die mittlerweile laut Aussagen ihrer Fahrer ebenfalls einen neuen Stützpunkt in Polen haben, ermöglicht, dass diese Rückkehr eben auch an die „Betriebsstätte, der der Fahrer normalweise zugeordnet ist“ erfolgen kann.

Weiterhin bis zu zwei Monate unterwegs

Das bedeutet für diese Fahrer, dass sie bislang von ihrer eigentlichen Heimat meist per Pkw zunächst aus dem durchaus weit entfernten Osten zu den jeweiligen Standorten von Hegelmann oder Girteka in Litauen und Polen anreisen, wo sie eingesetzt werden. Und wo sie zu den dortigen Bedingungen auch beschäftigt sind. Vor dort werden sie bislang in der Regel per Kleinbus an den Standort der Lkw in Westeuropa transportier, die sie dann übernehmen. Jetzt können sie, so die Idee dahinter, nach drei Wochen an den neuen Standort in Polen fahren. Das hat allerdings nichts mit der Rückkehrpflicht der Lkw nach acht Wochen zu tun. Am neuen Hegelmann-Standort in Polen dürften dann eigentlich nur die Fahrer bzw. deren Unternehmer den „Vorteil“ der neuen Regel ausnutzen, die dann auch explizit diesem Standort zugeordnet sind. Die Fahrer von Hegelmann, die bislang fest in Litauen beschäftigt sind, dürften es eigentlich wieder nicht. Sie können natürlich unterwegs das Hotel als solches nutzen, um die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit nicht im Lkw zu verbringen. Drei Nächte im Hotel, die es derzeit nicht gibt, bedeutet vier Wochen auf Tour. Zwei reduzierte wöchentliche Ruhezeiten hintereinander im Lkw ist im grenzüberschreienden Verkehr auch ohne Hotel möglich. Dann muss der Fahrer sich aber schon wieder auf den Weg machen, um den Ausgleich vor der nächsten wöchentlichen Ruhezeit zu nehmen. Wer blickt da noch durch?

Kaum zu kontrollieren

Kontrolliert werden kann das aber wiederum nur vor Ort selbst durch die nationalen Behörden – also genau den sieben Ländern, die aktuell vor dem EuGH gegen einzelne Punkte des Mobilitätspakets klagen wollen. Das Problem aus westlicher Sicht, also dem erklärten Ziel der sogenannten „Road Alliance“, das Sozialdumping einzuschränken, zeigt sich immer noch auf der Straße, genau ein Jahr, nachdem der erste Teil des Mobilitätspakets in Kraft getreten ist. Die meisten Fahrer aus diesen GUS-Staaten, die von TV-Sendern, den Mitarbeitern des DGB-Projekts „Faire Mobilität“ und natürlich auch mir am Wochenende angetroffen werden, sind weiterhin bis zu zwei Monate am Stück unterwegs, bevor sie tatsächlich nach Hause kommen. Derzeit zu einem Tagessatz von 60 Euro netto. Wenn sie tatsächlich im Lkw auf Tour sind. Auch das habe ich bereits in meinem Blog-Artikel „Über den Tisch gezogen“ ausführlich besprochen.

Lesen Sie auch Jan Bergrath und Götz Bopp mit dem Truck-Talk-Schriftzug Podcast Truck-Talk Das Mobilitätspaket für unterwegs

Der Fragen- und Antworten Katalog der EU-Kommission

Das Thema „Rückkehrrecht der Fahrer“ ist daher hier nur ein Punkt der leider zu vielen Ungereimtheiten, über die wir am 19.8. ab 17 Uhr in der 65. Sendung von FERNFAHRER LIVE diskutieren werden. Unser Experte ist Götz Bopp, mit dem ich bereits den Podcast „Sternstunden des Mobilitätspaketes“ produziert habe, und der in diesem Trailer sagt, worum es in der Sendung geht. Auch um den aktuelle Fragen- und Antworten Katalog der EU-Kommission, der mittlerweile wieder ergänzt wurde und in seiner kompletten Fassung auf deutscher Sprache auf der Website der Götz Bopp Logistikberatung hinterlegt ist.

Vorläufiges Fazit

„Bei den Trilogverhandlungen zwischen EU-Parlament, EU-Rat und EU-Kommission im Dezember 2019 sind bei recht vielen Punkten unklare Begrifflichkeiten verwendet worden. Deshalb wissen die Fahrer, Unternehmer und auch die Kontrollorgane bei manchen Neuerungen nicht, wie diese im Detail regelkonform umzusetzen sind. Die Kommission hat deshalb den Versuch unternommen darzustellen, wie die Umsetzung aus ihrer Sicht „richtig“ ist.“ Bopps vorläufiges Fazit lautet daher: „Viele der Änderungen sind grundsätzlich geeignet, die Situation der Fahrer zu verbessern oder für eine Angleichung der Wettbewerbssituation in der EU zu sorgen. In einigen Bereichen - und leider sind das sehr wichtige Bereiche - wurde es aber versäumt oder war es im Rahmen der Verhandlungen vielleicht auch nicht möglich, entsprechende Kontrollmöglichkeiten zu schaffen. Zum Beispiel was das Kabinenschlafverbot anbelangt. Auf der anderen Seite muss man beachten, dass das Mobilitätspaket I nicht nur aus den angepassten Regelungen zu den Lenk- und Ruhezeiten besteht, sondern auch die Themen Marktzugang und Kabotage sowie Entsendung neu geregelt bzw. in einigen Details angepasst wurden. Da diese Regelungen erst 2022 Geltung erlangen und wir auch in den Jahren 2024 bis 2026 noch Anpassungen erleben werden, ist die Verteilung von Schulnoten für das Gesamtpaket noch nicht möglich.“

Über die wichtigsten Punkte werden wir uns in dieser Runde unterhalten. Vielleicht blicken wir danach alle zumindest ein Stück weit besser durch.

Terminhinweis

Am Donnerstag, dem 19.8.2021 sprechen wir in der 65. Sendung von FERNFAHRER LIVE gemeinsam mit Götz Bopp mit dem EU-Parlamentarier Ismail Ertug, der auch an den Verhandlungen zum Mobilitätspaket in den Trilogen maßgeblich beteiligt war, dem Vorstandssprecher des BGL, Prof. Dirk Engelhardt, dem niederländischen Gewerkschafter Edwin Atema, dem Duisburger Tankcontainerspediteur Jochen Köppen sowie den Lkw-Fahrern Jörg Blommel und Burkhard Taggart.

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