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Dekra-Chef Kölbl zum Erwerb des Lausitzrings Dekra: Europas größtes unabhängiges Testfeld

Foto: Thomas Küppers

Die Prüforganisation Dekra übernimmt zum 1. November den Lausitzring. Dekra will in Klettwitz Europas größtes unabhängiges Testfeld und Innovationszentrum für die Prüfung automatisierter und vernetzter Fahrzeuge aufbauen und dort eine zweistellige Millionensumme investieren. "Jeder in das autonome Fahren investierte Euro wird Dekra weiter voranbringen", sagt Dekra-Vorstandschef Stefan Kölbl im Interview mit der Fachzeitschrift trans aktuell.

trans aktuell: Herr Kölbl, warum kauft eine Prüforganisation eine Rennstrecke?

Kölbl: Mit der rasanten Entwicklung in den Bereichen automatisiertes und vernetztes Fahren geht ein riesiges Tor für uns auf. Wir als Nummer eins im automotiven Prüfgeschäft wollen diese Entwicklung mitgestalten. Die Übernahme des Lausitzrings zum 1. November ist für Dekra ein Riesenschritt. Das Gelände liegt in unmittelbarer Nähe zum Dekra Technology Center. Wir werden in Klettwitz Europas größtes unabhängiges Testfeld und Innovationszentrum für die Prüfung automatisierter und vernetzter Fahrzeuge aufbauen und dort eine zweistellige Millionensumme investieren. Jeder in das autonome Fahren investierte Euro wird Dekra weiter voranbringen. Nur wenige Wettbewerber können das Know-how der klassischen Fahrzeugprüfwelt mit der Mobilität der Zukunft so verknüpfen.

Gleichzeitig investieren Sie in ein Testareal in Málaga. Welche Synergien gibt es hier?

Beide Anlagen werden Teil des internationalen Dekra Testverbunds. In Málaga liegt der Fokus auf Forschung und Entwicklung neuer Prüfszenarien für die vernetzte Mobilität sowie auf Produktprüfungen im frühen Entwicklungsstadium. In Klettwitz starten wir mit der Prüfung aller automatisierten Fahrfunktionen – bis zum Level 5, dem voll autonomen Fahren. Wir werden Strecken für die Prüfung von Fahrfunktionen und Gesamtsystemen aufbauen. Mit dem in Málaga entwickelten Know-how folgt später die Prüfung von Fahrzeug-zu-Fahrzeug- sowie von Fahrzeug-zu-Infrastruktur-Kommunikation.

Wird Dekra weitere Testfelder, zum Beispiel außerhalb Europas, aufbauen?

Wir denken an weitere Testzentren in Ostasien und den USA. In den USA sprechen wir zurzeit mit potenziellen Partnern im Raum Detroit.

Wer sind Ihre Kunden auf diesen Testfeldern?

Wir sind sowohl mit Zulieferern und Herstellern als auch mit Unternehmen aus dem Bereich Engineering im Geschäft. Konkret geht es zum Beispiel um die Entwicklung und Zulassung von Fahrerassistenzsystemen. Es ist aber auch möglich, dass unsere Partner die Testareale mieten, um dort eigene Tests durchzuführen. Wir werden in Klettwitz zwei Stadtkurse, einen Überlandkurs, eine Autobahnstrecke und frei definierbare Testflächen haben, sodass wir alle Situationen aus dem öffentlichen Straßenverkehr dort simulieren können – von der Tunnelfahrt über den Stadtverkehr bis hin zu Hochgeschwindigkeitsthemen.

Wie groß ist das Risiko, in eine Motorsportanlage zu investieren, die dazu nicht unbedingt zentral in Deutschland liegt?

Das Risiko ist überschaubar. Mehr noch: So eine Anlage zu besitzen, bringt jede Menge Vorteile. Die Nachfrage als Entwicklungspartner ist hoch; in den vergangenen Jahren mussten wir Aufträge ablehnen, weil wir nicht die erforderlichen Test-Kapazitäten hatten. Nun haben wir sie. Die Lage in der Lausitz muss ebenfalls nicht nachteilig sein. Berlin, Cottbus und Dresden sind nicht weit entfernt. Von den dortigen sehr angesehenen Hochschulen und Universitäten rekrutieren wir heute schon Spezialisten. Ich gebe aber zu, dass es eine Herausforderung ist, relativ kurzfristig bis zu 50 Mitarbeiter einzustellen, die auf Augenhöhe mit den Auto­mobilherstellern arbeiten.

Inwiefern werden die neuen Testmöglichkeiten dem automatisierten und vernetzten Fahren einen Schub verleihen?

Sie werden die Einführung dieser Technologien beschleunigen. Im nächsten Frühjahr werden wir in der Lage sein, mit unseren Kunden auf dem Testgelände alle wesentlichen Prüfzyklen zu fahren. Doch die Industrie nimmt ja nicht nur das fertige Produkt beim Zulassungsverfahren ab. Der Prozess beginnt früher: bei der Entwicklung. Auch hier benötigen Zulieferer und Hersteller Prüf- und Testpartner. Gleiches trifft auf andere Fragestellungen zu. Manche Standards und Normen, die das automatisierte und vernetzte Fahren regeln, existieren noch gar nicht.

Können Sie Beispiele nennen?

Wie interagieren die Systeme, auf welchen technischen Standards? Wem gehören die Daten? Welche Leistungssensorik haben die Erkennungssysteme? Das alles sind Fragen, die es noch zu beantworten gilt.

Welchen Datenstandard benötigen Sie für Ihre Aktivitäten?

Auf dem Testgelände wird der WLAN-p Standard verfügbar sein. Wir bereiten uns auch auf den Telekommunikations-Standard 5G vor, der auf dem Testfeld etabliert werden muss. Es gibt schon drei bis vier Testfelder in Deutschland, auf denen 4G verbaut ist. Die Austauschgeschwindigkeit wird sich durch 5G um den Faktor zehn erhöhen.

Für welche Art von Prüfungen benötigen Sie den Standard 5G?

Der Standard 5G wird die Grundlage für viele Funktionen des vernetzten, aber auch des automatisierten Fahrens sein. Entsprechend brauchen wir ihn auch für die Überprüfung. Es geht hier um die Datenströme und die Drahtlosverbindungen. Das Fahrzeug wird zum rollenden Supercomputer. Riesige Datenströme fließen schnell von Fahrzeug zu Fahrzeug oder vom Fahrzeug zur Infrastruktur. Doch wer überprüft das, wer hat Zugriff auf die Daten? Wenn man eines Tages bei 130 km/h über längere Zeit die Hände vom Steuer nimmt, setzt das voraus, dass nicht nur die Technik in einem einwandfreien Zustand sein muss, sondern dass auch die Datenbasis dafür die richtige ist. Das haben heute noch nicht viele auf dem Schirm.

Wie bringt sich Dekra hier ins Spiel?

Wir sprechen intensiv mit der Politik, um die Philosophie der periodischen Fahrzeugprüfung auf den gesamten Wirkungskreis des vernetzten Fahrzeugs auszuweiten. Das wird eine Riesenherausforderung. Denn dazu brauchen wir nicht nur das nötige IT-Know-how, sondern auch den Zugriff auf die Daten. Die Hersteller haben eine andere Auffassung. Sie argumentieren, dass sie die Fahrzeuge produzieren und damit die Daten ihnen gehören. Das alles wird intensiv zu besprechen und neu zu regeln sein. Ich mag mir aber keine Zukunft vorstellen, in der wir immer mehr automatisierte Funktionen im Fahrzeug haben, es rasend schnelle Interaktionen mit der Umwelt gibt und es genügen soll, dass der Hersteller sagt: „Passt schon.“

Werden Sie Politik und Hersteller überzeugen können, sich beim Thema Daten zu öffnen?

Als neutraler Prüfdienstleister können wir ihnen sicherlich einige Ängste nehmen. Unser Vorteil ist auch unser großes technisches Verständnis für Konnektivität. Es zahlt sich aus, dass wir vor geraumer Zeit den spanischen Dienstleister AT4 wireless übernommen haben, der inzwischen als Dekra Testing & Certification firmiert. Damit sind wir führendes Unternehmen im Bereich der Überprüfung und Zertifizierung von Funk- und Drahtlostechnologien.

Wird sich Dekra auch beim Platooning einbringen?

Platooning ist eine smarte und sinnvolle Einsatzmöglichkeit. Wir können damit mehr Platz auf der Autobahn schaffen, effizienter sein und bei der Verkehrssicherheit deutlich vorankommen. Es handelt sich um ein wichtiges Zukunftsthema für die Transport- und Nutzfahrzeugbranche. Daimler hat jetzt im US-Bundesstaat Oregon die Genehmigung für Fahrten auf öffentlichen Fernstraßen erhalten. MAN will im Frühjahr 2018 auf der A 9 in Bayern mit Erprobungsfahrten beginnen. Die Hersteller schaffen also die technischen Voraussetzungen. Jetzt braucht es noch einen Standard, damit auch unterschiedliche Marken miteinander kommunizieren können. Wir sind jederzeit offen, hier unseren Beitrag zu leisten.

Welchen Beitrag wird das automatisierte und vernetzte Fahren in Richtung Verkehrs­sicherheit leisten?

Einen ganz elementaren. Bis zu 90 Prozent der Unfälle sind auf den Faktor Mensch als Ursache zurückzuführen. Wenn wir gute und leistungsfähige Systeme verbauen – wie mit dem Brems- und Spurhalteassistenten bereits geschehen –, können wir menschliches Fehlverhalten kompensieren. Damit kommen wir der Vision Zero, also einer Welt mit null Verkehrstoten, einen entscheidenden Schritt näher. Dass Vision Zero keine Utopie ist, zeigt sich an zahlreichen Großstädten in der Welt, die über mehrere Jahre hintereinander kein Todesopfer im Straßenverkehr mehr zu beklagen hatten. Wir sind also auf dem richtigen Weg.

Zur Person

  • Stefan Kölbl ist seit dem Jahr 2010 Vorsitzender der Vorstände von Dekra e. V. und Dekra SE
  • Eintritt bei Dekra im Jahr 2000, zunächst als Assistent des Vorstandsvorsitzenden, anschließend unterschiedliche Führungspositionen
  • Geboren in Nürnberg, Studium der Volkswirtschaft an der Universität Nürnberg
  • 49 Jahre, verheiratet, zwei Kinder
Unsere Experten
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