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Die Folgen des Brexit für die Logistik Supply-Chains müssen umgebaut werden

Foto: Adobe - robsonphoto

Bei einem Ausstieg Großbritanniens aus der EU ohne gegenseitige Abkommen ist Chaos am Kanal programmiert.

Wie der Brexit kommt, ist weiterhin ungeklärt. Sicher ist, dass er schon längst vor dem Stichtag am 29. März Auswirkungen auf Handel und Lieferketten hat. Die Exporte von Deutschland nach Großbritannien sind im ersten Halbjahr 2018 um rund 8 Prozent gesunken, die Importe von der Insel gingen sogar um etwa 15 Prozent zurück, heißt es in der aktuellen Ausgabe des „Export-/Import-Seismografen Deutschland“ (ESD/ISD), der die deutschen Außenhandelsströme analysiert.

Deutsche Unternehmen suchen Alternativen

„Die bisherigen Rückgänge sind nur ein Vorgeschmack da­rauf, wenn nach dem Brexit Zölle und längere Lieferzeiten aufgrund von Zollformalitäten die bishe­rige Arbeitsteilung unwirtschaftlich machen“, sagt Ulrich Lison, Außenwirtschaftsexperte beim Stuttgarter Softwarehaus AEB, das den ESD/ISD gemeinsam mit dem Institut für Angewandte Logistik (IAL) der Hochschule Würzburg-Schweinfurt herausgibt. Deutsche Unternehmen suchten Alternativen zu ihren britischen Lieferanten und probierten sie bereits aus. Das gelte auch für viele britische Unternehmen, die gleichzeitig ihre Produktion zurückführen, weil sie nach dem Brexit weniger Absatzchancen in der EU sähen. Der geplante Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU vollzieht sich bereits deutlich. Gemessen am Gewicht brachen im ersten Halbjahr 2018 die deutschen Exporte nach Großbritannien gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 8,1 Prozent auf 8,7 Millionen Tonnen ein, in die umgekehrte Richtung wurden 7,6 Millionen Tonnen gehandelt – das sind sogar 15,2 Prozent weniger als im ersten Halbjahr 2017. Diese Delle verdeutliche die Herausforderungen für Unternehmen, wenn Handelsgrenzen aufgebaut würden, sagt Professor Christian Kille vom IAL. „Supply-Chains müssen umgebaut werden, um weiter im Wettbewerb bestehen zu können.“

Besonders klar zeigt sich das in den Branchen Automotive und Chemie, wo deutsche und britische Unternehmen bisher eng vernetzt arbeiteten. Bei den Kfz-Teilen betrug das deutsche Exportminus der Analyse zufolge 9,3 Prozent, während die Importe um 6,8 Prozent sanken. In der chemischen Industrie gingen die deutschen Exportmengen auf die Insel um 21 Prozent zurück, in umgekehrter Richtung um 5,5 Prozent. Eine Umfrage des Verbands der britischen Industrie, CBI, unter 236 großen und mittelständischen Unternehmen ergab, dass die Mehrheit von ihnen bis Dezember Notfallpläne umsetzt, wenn die Verhandlungen der Politiker bis dahin nicht vorangekommen sind. Dazu gehören neben der Streichung von Jobs die Einrichtung von Lagern, die Produktions­verlagerung ins Ausland und die entsprechende Anpassung der Lieferketten. Fast ein Fünftel der 236 befragten Betriebe betonte, dass diese Pläne bereits nicht mehr rückgängig zu machen seien. Investiert wird angesichts der unsicheren Lage immer weniger. „Das Tempo der Verhandlungen wird von der Realität überholt, der sich die Unternehmen stellen müssen“, sagte die CBI-Vorsitzende Carolyn Fairbairn.

Dover befürchtet Staus

Wenn es zum sogenannten harten Brexit kommt, einem Ausstieg ohne Regeln, hätte Großbritannien direkt den Status irgendeines Mitglieds der Welthandelsorganisation, das mit der EU keine weiteren Vereinbarungen getroffen hat. Ohne eine Übergangsregelung von zwei oder sogar drei Jahren wären Zölle, Grenzkontrollen und lange Wartezeiten programmiert. In Zeiten, in denen sich die Lager auf der Straße befinden und alles auf eine Belieferung just in time abgestimmt ist, sind das erschreckende Aussichten. Der Hafen Dover hat gewarnt, dass eine Verzögerung der Abfertigung von lediglich zwei Minuten pro Lkw schnell zu einem Rückstau von über 30 Kilometern führen kann. Derzeit sind 99 Prozent der dort ankommenden Lkw EU-Fahrzeuge, die nach zwei Minuten weiterfahren können. Fahrzeuge aus Drittstaaten – das wären künftig 100 Prozent – benötigen die zehnfache Zeit. Für die nach dem Brexit angesagten Zollkontrollen gibt es im Hafen zudem gar keinen Platz, sie müssten anderswo erfolgen. Damit das Verkehrschaos nicht zu groß wird, wird derzeit die Autobahn M26 auf einer Länge von 16 Kilometern zum Notparkplatz für Hunderte Lkw ausgerüstet.

Während bei der Fährgesellschaft Stena Line überlegt wird, Verkehre von Irland nach Großbritannien einzustellen und direkt das europäische Festland anzufahren, bereitet sich der mit dem Vereinigten Königreich eng verknüpfte Hafen Rotterdam erst recht auf ein No-Deal-Szenario vor. Mehr als 900 zusätzliche Zöllner sollen bis Ende März eingestellt sein, und da es mit dem Ende des Binnenmarkts nach 26 Jahren auch wieder Lebensmittelkontrollen und Inspektionen von Tiertransporten geben muss, werden auch rund 150 Veterinäre und Kontrolleure gesucht. Die niederländische Zollbehörde befürchtet, dass neun zusätzliche Dokumente pro Sendung nötig werden könnten. Noch im November soll mit neuen IT-Systemen der Ernstfall geprobt werden. Hafensprecher Mark Dijk sieht noch ein ganz anderes Problem. Viele kleine und mittlere Unternehmen, die über Rotterdam ihre Waren verschiffen, haben sich noch nie mit Zollformalitäten im EU-Ausland befasst. „Aber wenn die keine Zollerklärung oder Mehrwertsteuerdokumente haben, dann ist hier Endstation“, sagt er. Allein für Holland geht er von 35.000 Betrieben aus. In Großbritannien müssen sich rund 200.000 Mittelständler für den Papierkrieg im künftigen Warenverkehr rüsten, auf ganz Europa hochgerechnet kommt es zu einer sehr großen Zahl. Der Personalbedarf für zusätzliche Bürokratie wäre überall riesig.

Die Handelspartner

Knapp die Hälfte der aus Großbritannien exportierten Waren geht in die EU. Vier der fünf größten britischen Exportziele waren 2017 EU-Länder, nämlich Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Irland. Zu den wichtigsten Gütern im Wert von insgesamt rund 189 Milliarden Euro, die 2017 in die EU geliefert wurden, zählten Kfz, Maschinen, Erdölprodukte, Nahrungsmittel, Getränke, Arzneimittel und Elektrotechnik. Britische Exporteure müssen künftig in der EU mit erhöhtem Verwaltungsaufwand, langwie­rigeren Lieferzeiten sowie Kostensteigerungen rechnen. Regulierungsintensive Branchen wie die Lebensmittel- oder die Chemieindustrie dürften davon besonders betroffen sein. Dadurch könnten europäische Wettbewerber zum Zuge kommen.

Unvorbereitet

Ein Ende Oktober veröf­fentlichter Bericht der britischen Parlamentsbehörde National Audit Office hat erschreckende Erkenntnisse zutage gefördert. Danach ist die Zeit für die Vorbereitung eines No-Deal-Brexits bereits abgelaufen. Die Grenz- ebenso wie die IT-Infrastruktur sei zum 29. März nicht vorbereitet. Über die Dover-Calais-Route können ein halbes Jahr lang nur zwölf Prozent der normalerweise verschifften Ladung ins Land gelangen. Unter anderem wird davon ausgegangen, dass die Versorgung der Insel mit Medikamenten nicht sichergestellt werden kann. Die Regierung hat die Pharmabranche aufgefordert, Vorräte für ein halbes Jahr anzulegen.

Abgezogen

14 Prozent der EU-Unternehmen, die mit britischen Zulieferern arbeiten, hatten bereits Anfang des Jahres Teile ihres Geschäfts von der britischen Insel abgezogen. Das ergab eine im März veröffentlichte Umfrage des britischen Chartered Institute of Procurement & Supply (CIPS). Danach sollen zudem 42 Prozent der befragten EU-Lieferkettenmanager der Meinung sein, dass britische Produkte sich nicht von anderen Produkten abheben.

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
TA 22 2018 Titel
trans aktuell 22 / 2018
9. November 2018
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