Anti-Kabotage-Demo in Berlin Die zweite Welle

Jörg Schwerdtfeger Foto: Jörg Schwerdtfeger
Meinung

Für die kleinen und mittelständischen deutschen Transportunternehmen, die sich in der "BLV pro Initiative – Spedition und Logistik" zusammengeschlossen haben, kommen die einzelnen Maßnahmen im EU-Mobilitätspaket zu spät. Sie fahren am Freitag wieder nach Berlin. Dort will EU-Parlamentarier Ismal Ertug auch seinen Brief an Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer vorlesen. Der hat es in sich.

Bereits am 19. Juni haben sich kleine und mittelständische deutsche Frachtführer der Initiative BLV pro Initiative – Spedition und Logistik mit über 100 Lkw nach Berlin aufgemacht, um dort gegen das vorherrschende Preisdumping im nationalen Transport und die bislang wenig effektiven Kontrollen der zuständigen Behörden zu demonstrieren. Vor allem die mutmaßlich illegale Kabotage durch gebietsfremde Unternehmen, hier vor allem aus Osteuropa, führte zu diesem „Protest der Verzweifelten“ und ihren neun Forderungen, die ich in meinen Blog zur ersten Demo bereits auf Ihre mögliche Umsetzung überprüft habe. Nun gibt es am 24. Juli eine zweite Kundgebung, die Veranstalter rechnen mit deutlich mehr Teilnehmern und einem möglicherweise größeren Medieninteresse.

Faire Bedingungen für alle Marktteilnehmer

„Mit der Kundgebung möchte die Initiative auf aktuelle Missstände, wie beispielsweise Preisverfall und die ungünstigen Rahmenbedingungen, in der Transport- und Logistikbranche aufmerksam machen und die Politik zum Handeln bewegen. Insbesondere der Stopp der Kabotage ist dabei für die Initiative von zentraler Bedeutung“, heißt es. Im gleichen Zug betont die BLV, dass sich die Aktion in keinster Weise gegen die osteuropäischen Kollegen richtet. „Ganz im Gegenteil!“ Man kämpfe um faire Wettbewerbsbedingungen für alle Marktteilnehmer. „Oftmals fahren beispielsweise die sogenannten Polen-Sprinter unter geradezu menschenunwürdigen Bedingungen“, so die Initiatoren. Die desolaten Zustände führe man nicht zuletzt auf den immer stärker werdenden Preisdruck seitens der verladenden Wirtschaft zurück.

„Es ist an der Zeit einen Paradigmenwechsel einzuläuten. Geiz ist nicht mehr geil! Wer Frachtpreise zudem immer weiter in den Keller drückt, riskiert, dass immer mehr Transportanbieter vom Markt verschwinden werden. Gerade deren regionale Schlüsselkompetenzen werden Verladern spürbar fehlen“, sind die Initiatoren überzeugt. Das Anfang Juli beschlossene Mobilitätspaket sei laut BLV nur ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Zweite Kundgebung – trotz Mobilitätspaket

Das ist genau das Problem. Zwar treten die entscheidenden Maßnahmen bei der Änderung der Sozialvorschriften bereits Ende August in Kraft. Doch gerade das entscheidende Thema, das Verbot, die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit, sie beginnt ab der 45. Stunde, im Lkw zu verbringen, ist in den langen Verhandlungen zu einer gesonderten Kompromisslösung für den internationalen Verkehr geworden. Hier dürfen nun gleich zwei reduzierte wöchentliche Ruhezeiten von mindestens 24 Stunden genommen werden, die in logischer Konsequenz bis mindestens 45 Stunden weiter im Lkw verbracht werden dürfen.

Der in der Tagespresse teilweise beschriebene Zwang, fortan immer im Hotel zu übernachten, ist allerdings falsch. Als erste Maßnahmen müssen demnach bereits ab Ende August eben vor allem die Fahrer aus Osteuropa im Bezugsrahmen von vier Wochen am Ende der dritten Woche in die Heimat zurückkehren oder, ein Wermutstropfen, an die Betriebsstätte des Unternehmens. Dennoch – das dauerhafte Nomadentum vieler Fahrer über mehrere Wochen sollte es ab Herbst theoretisch nicht mehr geben.

Das weitaus schärfere Schwert, die Rückkehrpflicht der Lkw nach acht Wochen an den Standort ihrer Zulassung, tritt allerdings erst ab Anfang 2022 in Kraft. Einige Länder Osteuropas haben bereits angekündigt, mit der Veröffentlichung der Maßnahme im Amtsblatt der EU vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen, da diese Rückkehrpflicht ihrer Ansicht nach gegen die Prinzipien des freien Binnenmarktes verstößt. Diese Maßnahme bringt daher keine unmittelbare Lösung für die deutschen Transportunternehmer, die mittlerweile auf Grund des Konkurrenzdrucks der Flotten aus Osteuropa fürchten, nur noch bis in den Herbst hinein auf Grund der deutliche höheren Personalkosten zu überleben.

Ismail Ertug kommt nach Berlin

Daher setzen die Veranstalter bei den Rednern vor allem auf den EU-Parlamentarier Ismail Ertug (SPD), der maßgelblich am Zustandekommen des über drei Jahre verhandelten Mobilitätspaketes beteiligt war und dessen Wirksamkeit in der Sendung 27 von FERNFAHRER Live hervorgehoben hat.

Ein möglicher Erfolg basiert aber nicht nur auf den nationalen Kontrollen des BAG in Deutschland, das in Zukunft etwas mehr Personal bekommen soll, sondern auf einer strengen internationalen Durchsetzung bei der Sanktionierung mehrfach durch Verstöße aufgefallener Unternehmen. Die muss letzten Endes durch Betriebskontrollen in den Ländern erfolgen, wo die Transportfirmen ihre tatsächliche Zentrale haben, wo die Lkw zugelassen und die Fahrer beschäftigt sind.

Daran fehlt mir leider der Glaube: Wer mitbekommen hat, wie es die europäischen Regierungschefs beim letzten EU-Gipfel nicht geschafft haben, die osteuropäischen Mitgliedsstaaten beim heißen Thema der Rechtsstaatlichkeit zu überzeugen, so kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die EU-Kommission, die Hüterin aller Gesetze, Sanktionen gegen osteuropäische Länder beschließen wird, die bei der Kontrolle des Mobilitätpaketes zwar formal zugestimmt haben, aber faktisch nicht mit Leben erfüllen.

"Voraussetzungen für temporäre Kabotage-Aussetzung erfüllt"

Auf der Berliner Bühne will Ertug daher auch den Brief vorlesen, den er kurz nach dem Brüsseler Entscheid an den Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) geschrieben hat. Darin geht es inhaltlich, wenn auch in erfreulicher Kürze, um die entscheidende Forderung, die bei der letzten Berliner Demo als „Brandbrief“ bei den SPD-Verkehrspolitikern Kirsten Lühmann und Udo Schiefner hinterlassen wurde: die Marktstörungen im Transportsektor durch Auswirkungen von COVID-19 zu beenden.

Dazu schreibt Ertug: „Ernste Marktstörungen, die auf die Kabotage zurückzuführen sind, erlauben es Mitgliedstaaten nach Artikel 10 der EU-Verordnung 1072/2009 die Kabotage – mit Zustimmung der Kommission – für eine Dauer von 6 Monaten außer Kraft zu setzten. Marktstörung wird wie folgt definiert: „[...] das Auftreten spezifischer Probleme auf diesem Markt, die zu einem möglicherweise anhaltenden deutlichen Angebotsüberhang führen können, der das finanzielle Gleichgewicht und das Überleben zahlreicher Unternehmen im Güterkraftverkehr gefährden könnte; [...]“ Meines Erachtens sind in der aktuellen Situation alle Voraussetzungen erfüllt, um eine temporäre Aussetzung der Kabotage in Deutschland bei der Kommission zu beantragen.“

Eine Loose-Loose-Situation

Ob sich Scheuer, der laut Ertug auf Seiten des EU-Rats bei den langen Verhandlungen zum Mobilitätspaketes immer gut kooperiert hat, sich nun darauf einlassen wird, von sich aus bei der Kommission den Antrag zu stellen, bliebt abzuwarten. Ich persönlich fürchte eher nein. Denn die Aussetzung der Kabotage heißt auch, dass die Flotten aus Osteuropa dann für sechs Monate zwar kein Wettbewerber mehr sind. Aber bei einem nach wie vor vorhandenen und nur durch die Coronakrise übertünchten Mangel an qualifizierten einheimischen Fahrern, wäre nicht klar, ob die deutsche Logistik mit ihren Transportunternehmen den Wirtschaftsstandort Deutschland, der selbst massiv in der Krise steckt, aufrechterhalten kann. Es droht für mich, wie ich es bereits beschrieben habe, ein „Makroökonomisches Desaster“. Es ist gewissermaßen eine Loose-Loose-Situation. Es würde aus Mangel an Frachtraum zwar plötzlich exorbitant hohe Frachtpreise geben – aber Lieferketten würden schlicht und einfach auseinandergerissen. Der Marktanteil osteuropäischer Flotten ist in den letzten Jahren einfach zu stark gewachsen.

Endlich eCMR-Konvention umsetzen

Ich könnte mir höchstens vorstellen, dass Scheuer, quasi als Minimalkonsens, endlich eine längst fällige Aufgabe zu Ende bringt: „Bedauerlich ist auch“, so Ertug, „dass Deutschland nach wie vor nicht die UN-Konvention zum sogenannten eCMR umgesetzt hat, obwohl wir alle gemeinsam auf europäischer Ebene dies seit Jahren fordern, um Frachtbriefe leichter kontrollierbar und fälschungssicherer zu machen.“ Das wäre ein kleiner Schritt für Scheuer, aber ein großer Schritt für das deutsche Transportgewerbe.

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