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Allianz-Studie zur Prävention von Unfällen Lkw-Unfälle mit Assistenzsystemen vermeiden

Expertengespräch Abbiegeunfälle Foto: Juengst, Nieß, Rathmann 25 Bilder

Die Allianz hat bei einem trans aktuell-Expertengespräch eine neue Studie zur Prävention von Lkw-Unfällen vorgestellt.

Deutschlands Straßen werden immer sicherer, sagt die Statistik. 3.180 Menschen kamen voriges Jahr bei Verkehrsunfällen ums Leben, der niedrigste Wert seit mehr als sechs Jahrzehnten. Fakt ist aber auch, dass noch immer jeden Tag neun Todesopfer und rund 1.100 Verletzte zu beklagen sind. Für diejenigen, die sich für die Verkehrssicherheit engagieren, steht fest: Deutschland darf in seinen Anstrengungen, Unfällen vorzubeugen, nicht nachlassen.

Das gilt besonders bei Unfällen mit ungeschützten Verkehrsteilnehmern – seien es Fußgänger oder Radfahrer –, die häufig besonders gravierende Folgen haben. Angesichts von 382 getöteten Radfahrern, davon 37 bei Lkw-Abbiegeunfällen, allein 2017, gibt es hier keine Entwarnung. Gegen den allgemeinen Trend sind bei der Entwicklung der Opferzahlen in dieser Unfallart seit 2010 keine Erfolge zu erkennen. Umso wichtiger ist es, dass jeder mit seinem Know-how, seinen Ideen und seinem Netzwerk dazu beiträgt, hier Fortschritte zu erzielen. Darin waren sich die Teilnehmer eines trans aktuell-Expertengesprächs zur Prävention von Lkw-Abbiegeunfällen im Allianz Zentrum für Technik (AZT) einig.

Ein weiter Weg zur Vision Zero

„Jeder Unfall verursacht enormes menschliches Leid“, erklärte Dr. Johann Gwehenberger, Leiter der Unfallforschung des AZT. Er zeigte sich erfreut, dass die Zahl der Lkw-Unfälle im Verhältnis zur Verkehrsentwicklung abnimmt. „Doch ist es noch ein weiter Weg zu unserem Ziel Vision Zero.“ Dahinter steht die Vorstellung, dass im Straßenverkehr kein Mensch mehr sterben muss.

Doch wie lässt sich dieses Ziel erreichen, wenn es keine Vision bleiben soll? Hinreichend bekannt ist, dass aktive Sicherheitssysteme eine wichtige Rolle bei der Prävention spielen. Aber welche Systeme ergeben Sinn, wie groß sind ihre Potenziale und was gilt es im Umgang mit diesen Systemen zu beachten? Antworten auf einige dieser Fragen lieferte der Allianz eine noch unveröffentlichte Studie zum Unfallgeschehen von schweren Lkw und zur Vermeidbarkeit mithilfe von Sicherheitssystemen, die Marcel Borrack aus dem Bereich Unfallforschung beim AZT vorstellte. Dabei griff die Allianz auf 628 auswertbare Unfälle mit Personenschaden aus dem Jahr 2014 zurück, bei denen ein Lkw über zwölf Tonnen der Hauptverursacher war. Die Daten stammen aus den Schadenakten des Unternehmens. Rund die Hälfte der Unfälle, genauer 320, untersuchten die Fachleute der Allianz näher.

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Viele Unfälle im Längsverkehr

Auffällig ist die hohe Zahl an Unfällen im Längsverkehr, zum Beispiel durch Auffahren oder Spurwechsel: Knapp 60 Prozent der betrachteten Unfälle fallen unter diese Rubrik. Mit etwa 15 Prozent folgen danach bereits die Abbiegeunfälle. Schaut man sich die Schwere der beiden Unfalltypen an, wird deutlich, warum es sich lohnt, sich intensiver mit den Lkw-Abbiegeunfällen zu beschäftigen: Bei den betrachteten 58 Unfällen kamen mehr als zehn Prozent der beteiligten Personen ums Leben, etwa 30 Prozent wurden schwer verletzt. Die Überlebenschance ist deutlich geringer als bei anderen Unfalltypen. Bei der Hauptunfallart, dem Längsverkehr, etwa wurden bei 180 analysierten Unfällen nur zehn Prozent der beteiligten Personen schwer verletzt und etwa ein Prozent getötet.

Wie viele der ausgewerteten Unfälle wären durch den Einsatz von Fahrerassistenzsystemen nun vermeidbar gewesen? Durch ein automatisches Notbremssystem knapp ein Drittel, durch einen Spurwechsel-/Totwinkelassistenten etwa ein Viertel und durch einen Kreuzungsassistenten etwa ein Achtel (siehe Grafik). Bei einem Abbiege- und einem Rückfahrassistenten liegt das theoretische maximale Wirkpotenzial, wie es die Allianz nennt, zwar nur bei sechs und zwei Prozent. Allerdings ist die Chance beim Abbiegeassistenten, Unfälle mit Todesfolge oder mit Schwerverletzten zu vermeiden, am höchsten: Die Erfolgsquote liegt bei etwa einem Drittel beziehungsweise einem Viertel.

Aufgrund der Schwere der Unfälle und der aktuellen Brisanz des Themas hat die Allianz aus der Unfallart Abbiegeunfälle die Rechtsabbiegeunfälle mit Radfahrern noch einmal einer gesonderten Analyse unterzogen. Basis waren 18 Unfälle, von denen sich fast alle innerorts ereigneten. Hier zeigte sich klar: Radfahrer ziehen sich besonders schwere Verletzungen zu.

80 Prozent von ihnen wurden vom Lkw oder Auflieger überrollt. Genauso hoch ist in der Folge die Quote der schwer verletzten oder getöteten Radfahrer. Nur ein Fünftel überlebte die Kollision mit leichten Verletzungen. Allianz-Unfallforscher Borrack rät daher dringend zum Einsatz eines Abbiegeassistenten.

Warum passieren trotz Assistenzsystemen Unfälle?

Verwunderlich – besonders für Außenstehende – ist dabei die Frage, warum sich schwere Unfälle auch dann noch ereignen, wenn Fahrerassistenzsysteme verbaut wurden. Häufig ist die Erklärung, dass die Systeme entweder abgeschaltet oder übersteuert wurden, weil Fahrer im Umgang damit nicht geschult sind. Hier gilt es nach Ansicht der Teilnehmer des Expertengesprächs anzusetzen. „Es ergibt keinen Sinn, wenn die Systeme verbaut, aber abschaltbar sind“, sagt Anton Schnürer, der seine 30-jährige Tochter bei einem Lkw-Abbiegeunfall verloren hat (siehe Bericht unten).

An dieser Stelle sieht auch das Bundesverkehrsministerium (BMVI) Handlungsbedarf und hat sich deshalb bei den Vereinten Nationen in Genf und der Europäischen Kommission in Brüssel für schärfere Regeln und gegen eine Abschaltmöglichkeit ausgesprochen – ebenso für den verpflichtenden Einbau eines Abbiegesystems. Doch brauchen die Vertreter des BMVI Geduld. Denn auch wenn die Vereinten Nationen bereits im Oktober neue Vorschriften erlassen sollten – die Einführung ist dann Sache der EU-Kommission. Anschließend kann es nach Einschätzung von Dr. Patrick Seiniger aus dem BMVI bis 2024 dauern, ehe neue Fahrzeuge verpflichtend damit ausgerüstet werden müssen. „Unser Job ist es, dafür zu sorgen, dass es früher kommt“, sagte er.

Übergang mit Nachrüstlösungen gestalten

Den Übergang wollen die Verantwortlichen im Ministerium daher mit Nachrüstlösungen gestalten. Das erklären die Aktion Abbiegeassistent von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) und eine Selbstverpflichtung von Flottenbetreibern auf Basis von Sicherheitspartnerschaften. Für 2019 will Scheuer auch einen Fördertopf einrichten, der Anreize für die Nachrüstung von Abbiegesystemen vorsieht. Eine ideale Lösung zeichnet sich laut BMVI-Fachmann Seiniger dadurch aus, dass sie den Lkw-Fahrer nicht erst in letzter Sekunde warnt, sondern schon viel früher – vor der Fahrt in die Kurve – auf Radfahrer hinweist. Der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) begrüßt die Initiative von Scheuer, fordert in dem Zusammenhang aber Systeme, die zuvor unabhängig bewertet wurden und im Idealfall optisch und akustisch warnen. „Wir sollten keine Scheinlösungen begünstigen, die uns nicht wirklich weiterhelfen“, betonte BGL-Sprecher Martin Bulheller.

Und was ist der Grund dafür, dass Assistenzsysteme mitunter zwar eingebaut, aber die Fahrer nicht mit ihnen vertraut sind? Die wenig schmeichelhafte Ist-Zustands-Beschreibung fällt für Andreas Lüer, den Flottenverantwortlichen beim Baustoff-Handelsunternehmen Bauking, wie folgt aus: „Wir kaufen den Fahrern teure Autos, nehmen uns aber nicht die Zeit, sie durch einen Profitrainer einen Tag in die Systeme einweisen zu lassen.“ Hier müsse ein grundsätzliches Umdenken erfolgen.

Erst wenn die Fahrer fit sind im Umgang mit den elektronischen Helfern, können Letztere ihre Wirkung erzielen. Dass sich selbst mit dem Notbremssystem laut der AZT-Analysen aktuell nur ein Drittel der Unfälle vermeiden lässt, liegt nämlich häufig an der fehlenden Kenntnis der Fahrer. „Die Systeme müssen auch beherrscht werden“, sagte Allianz-Unfallforscher Dr. Gwehenberger.

Ganzeitliches Riskmanagement ist gefragt

Genau hier kommt auch der ganzheitliche Riskmanagement-Ansatz des Unternehmens ins Spiel, das Spezialgebiet von Allianz-Chefriskmanager Ralph Feldbauer. Es müssen nicht einmal die Assistenzsysteme sein, es geht schon bei den Spiegeln los. „Viele Spiegel sind nicht richtig eingestellt“, berichtete er. „Die beste Technik hilft nichts, wenn sie warnt und auf Gefahren hinweist, die Fahrer diese Gefahren aber nicht im Spiegel sehen.“

Es gelte aber nicht nur, die Fahrer zu schulen, sondern die komplette Organisation, also auch die Geschäftsführung, bei einem Riskmanagement-Konzept zur Schadenprävention mitzunehmen und zu überzeugen. „Die wichtigste Motivation ist dabei die Vermeidung von Verletzungen oder Todesfällen der Unfallbeteiligten“, erklärte er. Auch angesichts des Fahrermangels seien Unternehmer gut beraten, ihre Mitarbeiter nicht Gefahren auszusetzen oder sie darin zu verwickeln. „Die wenigsten Fahrer, die einmal einen schweren Unfallschaden erlebt haben, sind danach in der Lage, weiter für das Unternehmen zu fahren“, erläuterte Feldbauer.

Bleibt der dritte Punkt – die Motivation der Unternehmer über den Geldbeutel. Je nach Schadenfall ist der Flottenbetreiber mit 2.500 bis 4.000 Euro an Kosten dabei, die nicht durch den Versicherer gedeckt werden – seien es Ausfallkosten oder Ausgaben für ein Ersatzfahrzeug. „Wer das mit 70 bis 100 Schäden multipliziert, stellt fest, mit welcher Größenordnung an Kosten wir es zu tun haben.“

Allianz-Mann Feldbauer ist daher überzeugt: Schadenprävention ist kein Aufwand, sondern eine intelligente Investition. „Selbst wenn ich den durchschnittlichen Schadenaufwand nur um 10 bis 15 Prozent reduzieren kann, bringt das schon einen deutlich höheren Effekt als etwa ein Spritspartraining.“ Das sei vielen Unternehmen nicht bewusst. Schadenprävention zahlt sich eben mehrfach aus und trägt dazu bei, dass Deutschlands Straßen noch sicherer werden.

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