Ablenkung am Lenkrad Zwei Todsünden im Verkehr

Foto: Norbert Böwing, Büro Häger 9 Bilder

Ungebremst raste der Fahrer eines Sattelzugs in eine Absicherung der Straßenmeisterei. Zwei Tote waren der Preis für Film und Joint am Steuer.

Ablenkung hinter dem Lenkrad kann fatale Folgen haben. Egal, ob es sich um das Bedienen des Navigationsgeräts, ein Telefonat mit der Spedition oder um einen Griff zur Getränkeflasche handelt. Ein besonders krasser Fall aus Niedersachsen zeigt auf, wie verheerend sich die Nutzung eines Laptops während der Fahrt auswirken kann. Ein 42-jähriger Lkw-Fahrer ist wegen fahrlässiger Tötung und Straßenverkehrsgefährdung zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt worden, weil er in einen Absperr-Lkw der Autobahnmeisterei Wildeshausen gerast ist. Zwei Straßenwärter kamen bei dem Unfall im November 2011 ums Leben. Alles spricht dafür, dass der Lkw-Fahrer während seiner nächtlichen Fahrt einen Film auf dem Laptop angeschaut hat.

Unfallstelle gleicht einem Schlachtfeld

Die Unfallstelle gleicht in der Tatnacht einem Schlachtfeld, das sich auf über 150 Meter Länge erstreckt. Der Warnleitanhänger ist nur noch ein Metallklumpen. Im total zerstörten Kleinlaster davor sitzen, deformiert und blutüberströmt, zwei Männer in orangefarbener Kleidung. Beide sind tot. Ein Streuwagen, der zusätzlich eingesetzt war, liegt seitlich umgestürzt auf der A 1. Der Sattelzug  des Unfallverursachers steht quer auf der Fahrbahn. Mit Tempo 85 und eingeschaltetem Tempomaten ist er in die ordnungs­gemäß abgesicherte Gefahrenstelle bei Groß Mackenstedt unweit von Bremen gekracht. Bereits drei Kilometer davor hatte eine Verkehrsbeeinflussungsanlage darauf hingewiesen, dass die rechte Spur gesperrt ist. Ein Schwertransporter war liegen geblieben und die Mitarbeiter der Autobahnmeisterei Wildeshausen hatten die Gefahrenstelle absichern wollen.

"Auf dem Bildschirm flatterten Bilder"

Es gibt zunächst keine Erklärung dafür, weshalb der Fahrer des Kühl-Lkw von den Absicherungsmaßnahmen nichts mitbekommen hat. Dem damals 40-Jährigen wird eine Blutprobe entnommen, er kommt ins Krankenhaus nach Bremen. Zwei Tage nach dem grauenvollen Unfall liest Holger Kola aus Niedersachsen zufällig davon in einem Newsportal. Der 47-Jährige ist Berufskraftfahrer und im Nahverkehr unterwegs. Er ist entsetzt: "Als ich die Bilder gesehen habe, wusste ich sofort: Das ist der Lkw, der mir in der Unglücksnacht auf der Autobahn aufgefallen war. Immer wieder geriet er auf den Standstreifen. Dann habe ich ihn überholt und gesehen, dass die Gardinen der Fahrerkabine ziemlich zugezogen waren. Und ich habe einen Computer gesehen. Auf dem Bildschirm flimmerten Bilder."

Drogenkonsum zweifelsfrei belegt

Kola ist sich sicher, dass der später verunglückte Fahrer unterwegs einen Film geschaut hat: "Ich habe auf dem Laptop eindeutig Menschen gesehen, die sich bewegt haben." Ihm war die Situation schon in der Nacht komisch vorgekommen. Erschüttert greift Kola zum Telefon und wählt die 110. Noch am gleichen Tag schildert er seine Beobachtungen der Autobahnpolizei in Ahlhorn. Experten der Polizei finden in der zerstörten Kabine tatsächlich einen Computer. Der ist allerdings so beschädigt, dass ein eingeschalteter Gutachter später nicht mehr ­zweifelsfrei sagen kann, ob darauf ein Film gesehen wurde. Die Aussage von Holger Kola hat also eine gewaltige Bedeutung. Doch es kommt noch schlimmer. Eine Auswertung der Blutprobe des Unfallverursachers ergibt, dass dieser vor oder während der Fahrt mindestens einen Joint geraucht haben muss. Der Anwalt des Unfallverursachers argumentiert später vor Gericht, dass die Blutprobe vertauscht worden sein könnte. Ein Gutachter nimmt daraufhin eine Haarprobe des Fahrers, mit deren Hilfe sich der Drogenkonsum aber zweifelsfrei belegen lässt.

Doch der Unfallverursacher bleibt bei seiner Darstellung. Er erklärt, im Transporter des niederländischen BF3-Fahrers, der ebenfalls an der Unfallstelle stand, fremde Zigaretten geraucht zu haben. Das Gericht ist um eine Klärung der Angelegenheit bemüht. Der vorgeladene BF3-Fahrer  sagt allerdings aus, nicht einmal Raucher zu sein. Und was ist mit dem Film? Der Verteidiger bezweifelt die Beobachtungen von Holger Kola. Doch der erinnert sich so gut, dass er sogar noch Fragmente des Kennzeichens des unfallbeteiligten Lkw nennen kann.

Bereits zweimal der Führerschein entzogen

Die Richterin fragt, ob der Fahrer des Kühl-Lkw schon mal Probleme mit dem Straßenverkehr gehabt habe. Dieser verneint. Bei der Bekanntgabe des Auszugs aus dem Flensburger Zentralregister erfahren die Zuhörer im Gerichtssaal aber, dass dem Unfallverursacher bereits zweimal der Führerschein entzogen wurde. Es wird immer deutlicher, wie wichtig der Anruf von Holger Kola bei der Polizei war. "Der couragierte Anruf des Zeugen hat wesentlich zur ­Aufklärung dieses schweren Unfalls beigetragen", bestätigt Unfallgutachter Frank Häger aus Oldenburg. "Denn er erklärt auch, weshalb es weder Bremsspuren noch Anzeichen für die Einleitung eines Ausweichmanövers gab. Der Fahrer muss in hohem Maße abgelenkt gewesen sein. Die Darstellung des Zeugen ist absolut glaubhaft und realistisch."

"Dieser Unfall zeigt, wozu Ablenkung führen kann".

Dass die Mitarbeiter der Autobahnmeisterei "absolut keinerlei Verschulden" trifft, hat Häger ebenfalls ermitteln können: "Sie hatten überhaupt keine Chance, den Lkw kommen zu sehen. Dabei haben sie alles beachtet, was man bei der Absicherung einer Gefahrenstelle beachten muss." Auch Horst Behrmann, Leiter der Autobahnmeisterei in Wildeshausen, ist Monate nach dem schweren Unfall auf der A 1 noch erschüttert: "Dieser Unfall hat gezeigt, wozu Ablenkungen in der Kabine eines Lkw führen können und wie gefährlich unsere Arbeit auf der Straße Tag für Tag ist." Kein Verständnis haben Behrmann und seine Mitarbeiter dafür, dass der Unfallverursacher sich bis zum heutigen Tag nicht einmal bei den Angehörigen für sein Fehlverhalten entschuldigt hat.

Auch hier hatte sich der Unfallverursacher in Ausreden verstrickt. Vor Gericht erklärt er, dass ihm sein Betriebsrat dringend davon abgeraten habe, Kontakt zu den betroffenen Familien aufzunehmen. Bernd Bindt, Anwalt der Nebenkläger aus Wildeshausen, hat diese Aussage allerdings überprüft und beim Betriebsrat der Spedition nachgefragt: "Dort weiß man von einem ­solchen Gespräch überhaupt nichts."

Kein Ausdruck des Bedauerns

Autobahnmeisterei-Leiter Behrmann und seine Kollegen haben alle Verhandlungstage vor Gericht begleitet und sogar das spätere Revisionsverfahren vor dem Landgericht in Verden/Aller. In Gedenken an ihre getöteten Freunde wollten sie damit ein Zeichen setzen. Vergeblich: "Es gibt überhaupt keinen Ausdruck des Bedauerns. Er hat uns nicht einmal angeschaut und wir alle hatten das Gefühl, dass sich der Lkw-Fahrer selbst als Opfer sieht", sagt er.

Zwei Todesünden im Straßenverkehr

Holger Kola ärgert sich, dass durch den Unfall das Image der gesamten Branche leidet: "Ein Fahrer begeht so einen krassen Fehler und wir alle müssen in der öffent­lichen Meinung dafür büßen." Über 17 Jahre ist er schon Lkw-Fahrer, aber so ein extremes Fehlverhalten hat er noch nie erlebt. Er macht sich Vorwürfe, dass er seine Beobachtungen in der Unglücksnacht nicht sofort gemeldet hat. "Vielleicht hätte ich den Unfall verhindern können", bohrt es ständig in ihm. Die Kombination von Drogen und Film macht selbst das Gericht fassungslos. Es spricht vom "verhängnisvollen Zusammentreffen von zwei Todsünden im Straßenverkehr".

Lkw-Fahrer sind empört über das Verhalten des Kollegen. Sie sind zudem der Meinung, dass der Lkw-Fahrer, der bei der Polizei anrief, völlig richtig handelte. Lesen Sie hier die  Meinungen der Kollegen nach.

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