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Seitenwind Mautkiller kippen schon bei Windstärke 7

Leichte Gespanne unter zwölf Tonnen Gesamtgewicht werden bei starkem Wind gefährlich instabil. Das hat die Unfallforschung der Versicherer nun untersucht. 

Die Plane ist aufgebläht, die Karosserie schwankt, die Zurrgurte zucken wild in der Luft. Das Rad der dem Wind zugerichteten Seite hebt sich – so scheint es – wiederwillig ein bisschen vom Asphalt. Dennoch steht er. Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV) senkt den Daumen und lässt den Versuch abbrechen. An diesem Dienstag wollte die UDV im Gesamtverband der Versicherer (GDV) demonstrieren, wie leicht Leicht-Lkw-Kombinationen bei entsprechend starkem Wind umkippen. Doch der Anhänger, der auf dem Gelände der Autobahnmeisterei Ulm-Dornstadt steht, bleibt standhaft.

Der Realversuch hat also die Erkenntnis nicht bestätigt, die die UDV zuvor bei umfangreichen Simulationen zur Kippstabilität gewonnen hat. Mit dem Forschungsprojekt will die UDV die Gefahr durch kippende Leicht-Lkw-Gespanne aufzeigen. Solcherlei Unfälle passieren nicht viele – aber wenn sie denn auftreten, sind die Bilder spektakulär: Teils steht das Zugfahrzeug noch, während der Anhänger deutliche Schräglage hat oder schon gekippt ist. Teilweise liegt das ganze Gespann auf der Seite.

Verschiedene Beladungszustände simuliert

Möglich ist das bei entsprechenden Seitenwinden, wie die UDV in ihren Simulationsversuchen unter Beweis stellt: Bei leeren Gespannen kann das Fahrzeug schon ab 55 km/h Windgeschwindigkeit (direkter Wind) kippen. Das entspricht Windstärke 7 oder einem starken Wind, bei dem bereits Bäume schwanken. Bei beladenen Gespannen kippt das Fahrzeug in der Simulation ab 74 km/h (Windstärke 8, entspricht Sturm).
Dafür ließen die Unfallexperten mehr als 350 Computer­simulationen durchführen. Dem Simulationsmodell des Zwölf-Tonnen-Gliederzugs stellten sie zudem ein validiertes Modell eines 40-Tonnen-Gliederzugs zum Vergleich zur Seite. Getestet wurden verschiedene Beladungszustände – leer, voll beladen, nur das Zugfahrzeug beladen, nur der Anhänger beladen. Außerdem Fahrzeuggeschwindigkeiten von 30 bis 85 km/h, verschiedene Windgeschwindigkeiten bis 144 km/h, verschiedene Seitenwindbelastungen und weitere Modellparameter – "im Wesentlichen alle in der Realität aufkommenden Optionen", sagt Brockmann.

Dabei zeigt sich, dass ein leerer Zwölf-Tonnen-Gliederzug, der 85 km/h fährt, bei direktem Wind ab 57,7 km/h Windgeschwindigkeit kippt – und dann bereits schon einen Spurversatz von fast einem Meter erreicht hat. Der voll beladene Zug erreicht da einen kritischen Spurversatz von einem halben Meter, kippt aber erst bei 77,4 km/h. Bei einem aufbauenden Wind liegen die Werte bei 56 km/h (Windstärke 7) beziehungsweise 74 km/h (Windstärke 8).

Außerdem ein interessantes Ergebnis: Ist nur das Zugfahrzeug beladen, reagiert der Hänger ähnlich kritisch wie ein komplett leeres Gespann. Ist nur der Anhänger beladen, kippte das Fahrzeug bereits bei 72 km/h. "Dabei kann es aufgrund des Achslastverlustes zu einem Aufbocken des Zugfahrzeugs kommen, was den Zug noch instabiler werden lässt", kommentiert Dr. Matthias Kühn, Leiter Fahrzeugsicherheit des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), das Simulationsergebnis.

Fahrer muss gegenlenken

Was der Mensch gegen die Naturgewalten ausrichten kann, zeigt die Betrachtung der Rolle des Fahrers: Für die Simulationsreihe hat die UDV laut Brockmann einen Fahrerregler benutzt, "der einen sehr, sehr guten Fahrer simuliert". Denn um die Fahrzeugkombination bei starken Winden auf der Spur zu halten, muss ganz schön und vor allem richtig gegengelenkt werden.

Ohne Fahrerregler – also ohne Gegenlenken – drückt der Wind so stark gegen das Fahrzeug und die ungelenkten Achsen, dass es innerhalb von wenigen Sekunden auf die Gegenfahrbahn gerät, das Fahrzeug instabil wird und sich die Kippgrenze (bei dem unbeladenen Modell) von 16 m/s Windgeschwindigkeit auf 14 m/s verschiebt.
Entsprechend lautet die Forderung von Unfallforscher Brockmann, die Ergebnisse aus dem Simulationsversuch auch in die Fahreraus- und Weiterbildung einfließen zu lassen. "Wir müssen Spediteure und Fahrer mehr sensibilisieren", sagt er. Heißt, nicht nur die Fahrgeschwindigkeit der Wettersituation anpassen, sondern sich auch vor Antritt der Tour über die Wettersituation informieren und gegebenenfalls die Fahrzeugwahl entsprechend treffen. 

Da bei der Frage des Fahrzeugs bei manchem vielleicht die wirtschaftlichen Interessen die Sicherheitsbedenken überwiegen könnten, will Brockmann das Problem gesetzlich normieren lassen. "Damit wird derjenige zur Verantwortung gezogen, der dafür verantwortlich ist, dass das Fahrzeug auf der Straße ist." Das könnte etwa eine Änderung im Paragrafen 2 StVO mit der Vorgabe sein, dass ab einer Windgeschwindigkeit von 75 km/h der Fahrer eines Gespanns mit unter zwölf Tonnen zulässigem Gesamtgewicht dazu verpflichtet wird, den nächsten Rastplatz anzusteuern.

Transportunternehmen von Leistungspflicht befreit

Mit dem Vorschlag kann sich auch Roland Rüdinger, geschäftsführender Gesellschafter der gleichnamigen Spedition aus Krautheim, anfreunden. "Damit wären die Transportunternehmen auch aus der Leistungspflicht und könnten sich auf höhere Gewalt berufen." Rüdinger hat rund zehn sogenannte Mini-Jumbos im Einsatz, die vor allem "XXL-Stückgut" transportieren – Ventilatoren, Konstruktionsteile, Wohnwagenfenster. Seine Fahrer hätten die klare Anweisung, bei Sturmwarnung nicht weiterzufahren.
In der Frage der Kippgefahr der Zwölf-Tonnen-Gespanne sind seiner Ansicht nach die Themen Maße und Beladung entscheidend. "Hochgekuppelte Einheitsanhänger sind generell empfindlicher – wir haben deswegen fast durchweg tiefgekuppelte Anhänger im Einsatz, die fahrstabiler sind", sagt er. Auch die Maximalmaße der Mini-Jumbos werden in der Rüdinger-Flotte nicht ausgereizt. "Je höher und länger der Anhänger, desto größer das Risiko." Wichtig sei auch die Lastverteilung: Eine hecklastige Beladung sei immer gefährlicher, wie auch das Beispiel vieler umstürzender Wohnanhänger auf den Autobahnen zeige.

Zulasssungszahlen rückläufig

Die Fahrer der Nutzfahrzeuggespanne seien dagegen aber erfahren – einen weiterer Akzent in der Ausbildung lehnt Rüdinger daher ab. Zudem, so sagt der Unternehmer aus dem Hohenlohekreis, löst sich das Problem von allein, die Zulassungszahlen seien ja seit der Mautpflicht auf dem Rückmarsch.

Das war bis letzten Oktober anders. Bis dahin war der Einsatz von Zwölf-Tonnen-Gespannen von der Mautpflicht befreit. Das ist zwar nicht mehr der Fall, aber die Tatsache, dass sie mit der alten Führerscheinklasse 3 (neu: C1E) gefahren werden dürfen, macht sie in Zeiten des Fahrermangels weiter attraktiv, sagt Brockmann.

Was schwer wiegt, ist aber die Unfallgefahr. "Die Kombination aus geringem Gewicht und großer seitlicher Windangriffsfläche ist der Grund für zahlreiche Lkw-Unfälle", sagt Brockmann. Anders dagegen der 40-Tonner. Voll beladen kippt da nichts. "Der Fahrer hat zwar bei einer Orkanbö auch seine liebe Mühe beim Lenken, aber es kippt nichts", sagt Brockmann mit Verweis auf die Simulationsversuche mit einem  40-Tonner-Modell.

Wind mit 140 km/h

Währenddessen haben die Feuerwehrleute damit begonnen, die drei Entrauchungsanlagen mit den Namen Big Tempest abzubauen. Die feuerroten Geräte hatten mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 140 km/h ordentlich Luft geblasen und den Seitenwind simuliert, der den schon in die Jahre gekommen Hänger umblasen sollte.

Für Unfallforscher Brockmann ist der Realversuch zwar anders ausgegangen als erwartet. "Aber das beweist, dass die Fahrzeuge ansonsten sehr kippstabil sind." Der Versuch zeige zumindest, "dass ein stehender Anhänger nicht umkippt – jedenfalls nicht bei den Stürmen, die wir in Deutschland haben", diktiert er einer Journalistin in den Block. Dass es, vor allem während der Fahrt, auch anders kommen kann, zeigen die Simulationsversuche und die im Internet zu findenden Bilder von Unfallfahrzeugen.

Interview mit Siegfried Brockmann, Leiter Unfallforschung der Versicherer (UDV):

Bei der Simulationsreihe der UDV sind die Anhänger bereits ab 55km/h zum Kippen gekommen. Bei Ihrem Live-Versuch hielt der Anhänger mindestens 140 km/h Stand. Wie erklären Sie sich das?

Die Simulationen betrachteten den dynamischen Fall, in denen das Gespann aus Lkw und Anhänger mit einer Eigengeschwindigkeit rollt, wenn es vom Seitenwind erfasst wird. Der Effekt, wenn der Anhänger plötzlich aufgrund des Windstoßes seitlich versetzt und ein Kippmoment schon dadurch einsetzt, dass die Zugdeichsel diese seitliche Auslenkung begrenzt, ließ sich im Standversuch nicht nachbilden. Ebenso wenig der Effekt, wenn aufgrund dieser seitlichen Auslenkung das gesamte rollende Gespann ins Schwanken gerät, was sich – wie das reale Unfallgeschehen zeigt – vom Fahrer kaum unter Kontrolle bringen lässt.

Zum anderen ist es uns im Standversuch mit den Gebläsen offenbar nicht gelungen, die seitliche Windlast aufzubringen, ohne dass die Luftmassen beim Anprall auf den Anhängeraufbau nach oben und unten oder nach vorne und hinten abgelenkt wurden. Dadurch ist ein erheblicher Teil seiner Energie und des Luftstromes, den man an der Austrittsöffnung des Gebläses und vor der Anhängerplane messen konnte, durch Luftturbulenzen und –ablenkung verpufft.

In der Realität wäre der Anhänger hingegen einer seitlich angreifenden Windwand ausgesetzt, die sich über mehrere Dutzend oder Hundert Meter erstreckt. Dabei würden die Luftmassen auch vor und hinter, über und unter dem Anhänger vorbeiströmen. Ein Ausweichen und Ablenken der auf den Anhänger treffenden Luftströmung würde dann – anders als im Versuch – behindert. Im aerodynamisch vereinfachten Simulationsmodell wurden eine seitliche Ablenkung des Luftstromes und Turbulenzen im Randbereich um den Anhänger daher nicht berücksichtigt.

Sind die Ergebnisse der Simulationen, die Sie haben erstellen lassen, trotzdem valide?

Unser Simulationsmodell kann Windgeschwindigkeiten, die zum Kippen führen, nicht ganz exakt vorhersagen. Im Fall von Böen sind Windspitzen auch nur kurzzeitig vorhanden. Individuelle Reaktionen des Fahrers auf diese unerwarteten Ereignisse können im Modell nur eingeschränkt berücksichtigt werden, obwohl Sie im ungünstigen Fall das Kippen vermutlich eher begünstigen.

Die grundsätzlichen Effekte – sowohl die deutlich frühere Kippneigung des Leicht-Lkw-Anhängers gegenüber dem Zugfahrzeug als auch die frühere Kippneigung der Leicht-Lkw-Kombination im Vergleich zu herkömmlichen 40-Tonnen-Gliederzügen – haben auf jeden Fall Gültigkeit. Dies wird auch durch unsere Analysen des realen Unfallgeschehens belegt. 

Wie können Fahrer im Fall starker Seitenwinde am besten reagieren – abgesehen vom Stoppen des Fahrzeugs?

Wenn mit starken Winden zu rechnen ist, entweder weil eine entsprechende Wetterlage herrscht oder weil die Leicht-Lkw-Kombinationen naturgemäß windexponierte Bereiche, wie große Brücken, befahren, sollte die Geschwindigkeit zumindest herabgesetzt werden.

Beim Herausfahren aus Waldstücken, aus Geländeeinschnitten oder hinter Lärmschutzwänden sollten Fahrer grundsätzlich mit plötzlich einsetzendem Seitenwind rechnen. Die Gefahr ist groß, dass bei einem plötzlich auftretenden seitlichen Versatz des Anhängers oder Kippmoment durch Gegenlenkmanöver erst recht ein Aufschaukeln und Umstürzen eingeleitet wird.

Fahrer sind daher wohl besser beraten, das Lenkrad festzuhalten, um das Zugfahrzeug weiter geradeaus zu richten, und sanft abzubremsen. Ob sich damit ein Kippen zumindest des Anhängers vermeiden lässt, ist zwar fraglich, aber die Folgen eines Umstürzens lassen sich so eher begrenzen.

Sie fordern, eine Weiterfahrt solcher Gespanne bei entsprechenden Windstärken zu untersagen. Wie könnte das in der Praxis aussehen? Das würde dann aber auch bedeuten, dass bei der Unfallaufnahme die Polizei dies berücksichtigt und gegebenenfalls den Fahrer nach dem Grund des Umkippens befragt, und dann in der Folge den Verstoß gegen die Vorschrift auch dokumentiert?

Derartige Unfälle werden sich nicht unter allen Umständen vermeiden lassen. Wenn jedoch – in der Regel an wenigen Tagen im Jahr – Sturm für Regionen vorhergesagt wird oder anhand der lokalen Wettergegebenheiten rechtzeitig erkennbar ist, halten wir das Unterbrechen der Weiterfahrt beziehungsweise die Verschiebung der Fahrt für eine angemessene Maßnahme, um der erhöhten Gefährdung für Fahrer, Fahrzeug und Ladung wie auch für andere Verkehrsteilnehmer zu begegnen. Offizielle Daten und Warnhinweise des Deutschen Wetterdienstes stehen auch Fahrzeugbetreibern zur Verfügung. Diese können in Kenntnis der geografischen Position ihrer Fahrzeuge solche Informationen rechtzeitig in ihre Disposition einbeziehen oder unterwegs befindliche Fahrer entsprechend anweisen.

Wichtig scheint uns in diesem Zusammenhang, dass nicht allein der Fahrzeugführer die letztendliche Entscheidung über Anhalten oder Weiterfahrt zu treffen hat, sondern diese Verantwortung auch beim Transporteur liegt.

Die Polizei sollte, wenn entsprechende Wetterlagen angekündigt waren und zum Unfallzeitpunkt vorlagen, dies in Verkehrsunfallanzeige oder im Unfallbericht vermerken, damit dieser Umstand bei der Ursachenermittlung und bei der Klärung der Verursacherfrage angemessen berücksichtigt werden kann. Das sollte sie allerdings auch heute schon, da dies, falls andere Verkehrsteilnehmer verletzt oder gar getötet wurden, für die Feststellung einer eventuellen Fahrlässigkeit von Bedeutung ist.

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Jan Bergrath Jan Bergrath Journalist
Carsten Nallinger Carsten Nallinger Lkw-Navigation
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