Interview mit Henrik Henriksson "Wir müssen nicht immer Technologieführer sein"

Foto: DONNERKEIL Marielena Jebe

Bei der Entwicklung der neuen Baureihe ging es vor allem darum, den Kunden einen Lkw anzubieten, der ihr Geschäft profitabler macht. Dazu zählen auch Konnektivität-Dienste. Das sagt Scania-Vorstand Henrik Henriksson. Das Gespräch führten Thomas Rosenberger und Oliver Willms.

Herzlichen Glückwunsch zum Gewinn des International Truck of the Year!

Hendriksson: Das ist großartig! Die Auszeichnung ist eine Anerkennung unserer Arbeit, für die Arbeit der Ingenieure, für alle Angestellten – und auch für unsere Kunden, die mit ihren Vorschlägen und ihrem Feedback ebenso einen Anteil an der Entwicklung des neuen Produkts hatten.

Auf den ersten Blick mutet das neue Fahrzeug im Wettbewerbsvergleich verhältnismäßig konservativ an. Es gibt keine revolutionäre Technologie wie sie ein Teil der Wettbewerber bei der Präsentation der neuen Baureihen vorgestellt hat, beispielsweise Einzelradaufhängung, Doppelkupplung.

Henriksson: Der Ausgangspunkt für unsere Überlegungen war, den Kunden einen Lkw zu bieten, der ihr Geschäft profitabler macht. Natürlich sind wir in der Lage, die genannten Technologien darzustellen, aber welchen wirtschaftlichen Vorteil bieten sie den Kunden? Wir wollten nur Technologien einführen, die einen klaren, wirtschaftlichen Vorteil für die Kunden ergeben. Das bedeutet auch, zu manchen Technologien "Nein!" zu sagen. Dagegen müssen wir an niedrigerem Verbrauch und geringeren Wartungs- und Servicekosten arbeiten. Aber es verbergen sich zahlreiche Innovationen in unserem neuen Lkw, die für den Kunden tatsächlich einen Unterschied machen.

Etwa die neuen Möglichkeiten der Konnektivität? Wobei anlässlich der Fahrzeugpräsentation bei Informationen zu den genauen Inhalten der Konnektivität noch viel der Fantasie der Zuhörer überlassen wurde.

Henriksson: Es gab einen Kunden, der erwartete von uns ein Pop-up-Infodisplay im Sichtbereich des Fahrers. Wir haben uns diese Technologie genau angesehen, aber die Kosten für eine wirklich robuste Ausführung waren schlussendlich zu hoch. Und wir stellten uns die Frage, ob Aufwand und Ertrag für den Spediteur im Verhältnis stehen. Das ist unserer Erkenntnis nach noch nicht der Fall. Wir warten also ab, bis die geeignete Technologie preiswerter wird. Wir wollen nämlich führend sein, wenn es um die Wirtschaftlichkeit der Transportlösung geht. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass wir der Technologieführer in jeder Technologiestufe sein müssen.

Sie werden als VW Truck & Bus-Marke wohl auch auf die Rio-Plattform zurückgreifen. Binden Sie hier auch dritte Anbieter ein?

Henriksson: Ja. Wir arbeiten bereits mit zahlreichen unabhängigen Anbietern zusammen. Es gibt von Scania selbst maßgeschneiderte Lösungen für das Flottenmanagement. Aber wir bieten auch Schnittstellen für dritte Anbieter an, worüber sie auf die Fahrzeugdaten zugreifen können. Das gilt für alle Märkte, wobei die Anbieter regional voneinander abweichen können. Noch dazu möchte jeder Flottenbetreiber seine eigenen bevorzugten Lösungen auf unserer Plattform einbringen. Telematik und Konnektivität sind ein sehr kleinteiliges Geschäft. Rio ermöglicht uns also, unsere Daten in das Speditionssystem zu exportieren und umgekehrt die Informationen aus deren System in unser Kundenportal weiterzuleiten. Die Lkw-Industrie wird den Kunden grundsätzlich offene Plattformen zur Verfügung stellen müssen, die den Datenaustausch zwischen den Marken ermöglichen.

Werden alle Informationen aus dem Fahrzeug für jedermann zugänglich sein?

Henriksson: Rio wird im Zusammenspiel mit allen Marken funktionieren. Es  gibt
zudem einen Industriestandard für die Schnittstelle. Der Datenfluss wird auf diesem Standard basieren. Das Datenangebot und die Dienstleistungen, die ­Scania schon heute anbietet, reichen von Informationen aus Track-und-Trace-Diensten über Geo-Daten bis hin zu Daten aus den unterschiedlichsten weiteren Diensten. Aber es ist ein weiter Weg dahin, alle Informationen aus den vernetzten Fahrzeugen und den vernetzten Servicebetrieben zu nutzen. Schon heute sind alle unsere Servicebetriebe vernetzt. Die Daten aus der Vernetzung in Kombination mit den Daten der Straßenbehörden ergeben einen riesigen Datensee. Daraus werden wir die wichtigsten Daten fischen, beispielsweise um unsere Serviceprozesse zu optimieren. Scania Deutschland etwa lädt zwei oder drei Tage vor einem Servicetermin den "Gesundheitsreport" aus dem Fahrzeug. Diese Daten nutzen wir, unter anderem um die richtigen Ersatzteile zu bevorraten, um die entsprechenden Experten in der entsprechenden Schicht vorzuhalten und wir planen die Arbeitsabläufe in der Schicht entsprechend, um eine möglichst ausgewogene Balance zwischen schweren und leichten Aufgaben zu erreichen. Auf diese Weise haben wir die Arbeitszeit für lange dauernde Arbeiten von acht auf sechs Stunden verkürzt. Ein enormer Effizienzfortschritt für den Servicebetrieb und der Kunde freut sich darüber, dass der Lkw zwei Stunden früher wieder auf der Straße ist, um Geld zu verdienen. Noch ein anderes Beispiel: Wenn ein Unternehmer den Kauf eines neuen Lkw plant, können wir die Einsatzdaten aus dem Vorgängerfahrzeug auslesen. Bleibt der Einsatz der gleiche, sind keine Anpassungen nötig. Bei Bedarf können wir aber auch entsprechend die Fahrzeugkonfiguration auf eine neue Route und Ladung hin optimieren. Das ergibt bis ins Detail maßgeschneiderte Transportlösungen und macht viel aus bei Dieselverbrauch und Wartungskosten.

Der Benefit der Konnektivität hängt auch davon ab, wie die Rahmenbedingungen vom Gesetzgeber gestaltet werden. Haben Sie an diesen einen Appell?

Henriksson: Wir brauchen unbedingt die Unterstützung des Gesetzgebers bei der digitalen Transformation. Wir benötigen unter anderem verbindliche Vorgaben, wie mit den Daten umzugehen ist. Zugleich darf der Datenschutz nicht zu restriktiv gehandhabt werden. Sonst können wir den Nutzen von Big Data nicht vollständig ausschöpfen. Zudem brauchen wir schnellstmöglich eine Gesetzgebung, die automatisiertes Fahren erlaubt. Europa sollte hierbei den Standard setzen, wie es das schon bei der Abgasgesetzgebung getan hat.

Anlässlich der Präsentation der neuen Baureihe sprachen Sie davon, dass der neue Schwere der Money­maker ist, also der Geldverdiener. Gibt Scania damit den Claim "King of the Road" auf?

Henriksson: Die Marke Scania verfügt über eine lange Geschichte. Sie steht für den V8, für leistungsstarke Motoren – das macht den King of the Road aus. Dieses Image lebt in einzelnen Regionen und einem Teil der Branche fort, insbesondere bei den kleinen und mittelständischen Transportunternehmen oder solchen, die aus der Forstwirtschaft kommen. Dort ist der King of the Road noch sehr lebendig. Mit der Entwicklung des modernen Transports hat aber die Bedeutung der Gesamtbetriebskosten für den wirtschaftlichen Erfolg eines Transportunternehmens an Bedeutung zugenommen – das gilt selbst für kleine Unternehmen. Sie kaufen zwar noch den King of the Road, aber sie würden das nicht tun, wenn wir ihnen nicht auch besonders wirtschaftliche Zugmaschinen anbieten würden.

Ist Deutschland eine Region des Moneymakers oder des King of the Road?

Henriksson: In Deutschland gibt es beide Kundenkreise und wir brauchen sie gleichermaßen. Mithilfe der kleinen Transportunternehmen bewahren wir das Image des King of the Road. Das sind zugleich auch sehr treue Kunden – Kunden, die uns auch ein sehr wertvolles Feedback zu den Qualitäten unserer Produkte bieten. Beides ist für uns sehr wichtig. Aber sie stehen nur für ein Absatzsegment. Das andere, stark wachsende Segment sind große Flotten, die vor allem auf die Wirtschaftlichkeit eines Fahrzeugs achten. Hier müssen wir heute die Besten sein. Wir müssen die Nummer eins sein, wenn es um die Gesamtbetriebskosten geht. Nur dann können wir unsere Positionierung als Premiumanbieter mit einem Premiumprodukt und einem Premiumservice begründen. Wir wollen unsere Lkw nämlich nicht über den Preis verkaufen, sondern über den Nutzwert, den das Fahrzeug über den gesamten Lebenszyklus hinweg bietet.

Also ist der V8 für Scania immer noch ein wichtiges Produkt?

Henriksson: Auf jeden Fall! Und wir werden weiter in die V8-Plattform investieren, um sie weiterzuentwickeln. Dazu wird es in den kommenden Jahren Neuigkeiten geben. Wir investieren in die Produktionskapazitäten und in die Verbesserung der Wirtschaftlichkeit. Der V8 steht heute für bis zu 14 Prozent des Gesamtabsatzes an Scania-Motoren weltweit. Das bedeutet: In manchen Märkten ist der V8 immer noch die bevorzugte Lösung. Und der Absatz wird in diesem Segment auch weiterhin florieren. Hinzu kommt aber, dass wir auf Basis des 13-Liter-Motors, den wir zeitgleich zur Einführung des neuen Lkw ausbauen, eine leistungsstarke Option mit 500 PS anbieten. Wir werden aber auch die übrigen Motorenplattformen mit sechs und fünf Zylindern weiterentwickeln.

Was genau haben Sie für Pläne für die Motorenplattformen?

Henriksson: Das kann ich Ihnen leider nicht verraten. Nur so viel: In einem Zeitfenster von etwa zwei Jahren transformieren wir unser komplettes Produktionssystem. Das umfasst alle Motorenplattformen. Wir beginnen bei den Volumenprodukten für die Kernmärkte. Das sind die Produkte für den Fernverkehr in Europa. Anschließend folgen die übrigen Segmente und Produkte für weitere Märkte. Das ist eine Herausforderung, weil wir zwei Baureihen gleichzeitig anbieten. Das verursacht auch Kosten, weswegen wir diese Transformation möglichst schnell abschließen wollen.

Sie produzieren also die alten und neuen Lkw-Baureihen gleichermaßen?

Henriksson: Ja, diese Produktprogramme laufen parallel. Erst wenn wir die neue Baureihe auf alle Lkw-Typen übertragen haben, stellen wir die alte Baureihe ein. Neben Europa unterhalten wir eine vergleichbare Fertigung in Lateinamerika. Diese beiden Produktionsschienen sind vollständig austauschbar. Das ist auch der Grund, warum wir nicht so stark unter der Absatzkrise in Brasilien leiden wie andere Hersteller. Wir nutzen die Kapazitäten von Brasilien, um andere Weltmärkte zu bedienen, inklusive Märkte in Europa.

Es wird also auf Dauer keine neue Premiumbaureihe für einzelne Märkte geben und nebenher die Klassik-Serie für andere Märkte, aber mit den neuen Leistungsstufen?

Henriksson: Nein. Die Parallelfertigung ist nicht auf Dauer angelegt. Sie dient momentan allein dazu, noch nicht verfügbare Spezifikationen abzubilden. Auch wenn es natürlich stets Kunden gibt, die mit dem bewährten Modell zufrieden sind und es gern weiter beziehen würden.

Das neue Modell wird sicherlich auch preislich vom alten differenziert werden?

Henriksson: Ja, so wird es sein. Der Preisunterschied wird sich zum einen aus den jeweiligen Gegebenheiten des regionalen Marktes ergeben. Zum anderen orientiert er sich daran, welchen Mehrwert das neue Modell den Kunden bietet, etwa bei Dieselverbrauch und Standzeiten.

Wie ist es um Synergien zwischen den Lkw-Marken von VW Trucks & Bus bestellt? Ist das neue Modell schon daraufhin ausgelegt?

Henriksson: Wir erleben bereits die Vorteile von Synergien im Konzern, etwa bei dem gemeinsamen Einkauf. Dort erzielen wir schon seit eini­ger Zeit deutliche Vorteile. Jetzt untersuchen wir einzelne Produktplattformen und wie wir bei deren Entwicklung und Produktion kooperieren können, um einerseits Kosten zu sparen und anderer­seits technologische Fortschritte zu erzielen, aber immer unter Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse der einzelnen Marken. Aktuell konzentrieren wir uns dabei auf Achsen und Getriebe. Insbesondere wenn es um die Entwicklungsgeschwindigkeit geht, teilen wir unsere Ressourcen auf. 50  bis 60 Prozent der Entwicklungsarbeit lassen sich gemeinsam erbringen. Der Rest geht zulasten der Individualisierung der Komponenten. Der Kunde muss schließlich spüren, ob er in einem ­MAN-, einem VW- oder in einem Scania-Lkw sitzt. Weiterhin untersuchen wir, welche weiteren Bauteile wir gemeinsam entwickeln können, ohne die Individualität der einzelnen Marken aufzugeben. Natürlich gibt es auch Konstruktionen, die unbedingt gleich sein müssen, um Vorteile zu erzielen, und dann andere Innovationen, die wir als Scania auf keinen Fall teilen wollen. Beim neuen Scania-Lkw trifft das auf die veränderte Positionierung der Lenkachse und die Montage der Kabine zu. Schritt für Schritt werden wir so unser Produkt­portfolio durchkämmen.

Und das Design dürfte weiterhin ein Alleinstellungsmerkmal der Marken sein?

Henriksson: Nicht nur das, insbesondere auch die Software beeinflusst stark den Charakter eines Fahrzeugs. Wir tendieren immer noch gern dazu, Unterschiede in der Gestalt des Blechs festzumachen. Aber heute ist die Applikation der Software viel wichtiger als die Hardware. Wie das Getriebe schaltet und waltet, das macht ­Scania aus.

Und wenn es ums Image geht, dann liegen Scania und MAN sicherlich auch auseinander. Wenn nun Scania den Claim des Moneymakers besetzt und den King of the Road parallel betreibt, welcher Platz bleibt dann für MAN?

Henriksson: Das sollten Sie deren Vorstandsvorsitzenden Joachim Drees fragen. Ich bin davon überzeugt, dass er eine gute Strategie für die Positionierung der Marke hat. Der Unterschied liegt auch darin, in welchen Märkten MAN besonders stark ist, etwa Deutschland, Österreich und Polen. Natürlich muss heute jeder Lkw-Hersteller Fahrzeuge bauen, die beste Wirtschaftlichkeit bieten. Sonst wird er nicht mehr erfolgreich am Markt bestehen können. Es ist nicht so wie im Pkw-Segement, dass sich ein Hersteller als Premium und der andere als Budget positionieren kann. Das funktioniert bei Lkw nicht.

Zur Person

Henrik Henriksson (46) ist seit 2016 President und CEO von Scania. Der studierte Betriebswirt ist seit 1997 bei Scania angestellt. Während verschiedener Stationen in Vertrieb und Marketing sammelte er auch Auslandserfahrungen bei Scania Südafrika. 2004 kehrte Henriksson als Vertriebsdirektor für die Bussparte nach Schweden zurück. 2006 wurde er zum Vice President und Leiter der Bussparte ernannt. 2007 wechselte er als Senior Vice President zur Lkw-Sparte von Scania. Ab 2012 zeichnete er als Executive Vice President verantwortlich für die Geschäftseinheit Franchise and Factory Sales, die rund ein Jahr später umbenannt wurde zur Einheit Vertrieb und Marketing.

Die Arbeitsteilung im VW-Konzern

Unter dem Dach von Volkswagen Truck & Bus haben die Marken MAN und Scania nach eigenen Angaben Prinzipien für ihre gemeinsame Entwicklungsarbeit festgelegt. Künftig sollen Teams, die aus Ingenieuren beider Marken bestehen, die Kernkomponenten des Antriebsstrangs gemeinschaftlich entwickeln. Dabei sollen demnach gemeinsame Plattformen für Motoren, Getriebe, Achsen und Abgasnachbehandlungssysteme entstehen, die dann markenspezifisch modifiziert werden. Die Führung der markenübergreifenden Projektgruppen übernimmt jeweils eines der beiden Unternehmen. Dieses Konzept des Lead Engineering stelle sicher, dass den Anforderungen aller Beteiligten Rechnung getragen wird, die Eigenständigkeit der Marken erhalten bleibt und zugleich die Zuständigkeiten klar definiert sind.

So soll Scania die Entwicklungsleitung für die gemeinsame Motorenplattform mit 13 Liter Hubraum übernehmen, MAN soll für Motoren mit einem Hubraum zwischen fünf und neun Liter verantwortlich zeichnen. Scania wiederum übernimmt die Führung bei schweren Getrieben, MAN ist für leichte und mittlere Getriebe zuständig. Scania übernimmt die Führung bei der Motorsteuerung, MAN bei den angetriebenen Achsen.

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
Lao 03 2017 Titel
lastauto omnibus 03 / 2017
13. Februar 2017
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