Juristischer Konstruktionsfehler Wenig Handhabe gegen Sozialdumping

Foto: Jan Bergrath

Beim Kampf gegen Sozialdumping verspricht sich der BGL wenig Hilfe beim Verbot zur Verbringung der regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeit im Lkw, sondern setzt vor allem auf ein rechtskräftiges Urteil des Europäischen Gerichtshofes. Ein Trugschluss.

Die Reden sind gesprochen, die Fotos gemacht, die Pressemitteilungen verschickt - nach der glanzvollen Jahreshauptversammlung des Bundesverbandes Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) am 17. und 18. November in Frankfurt kehrt die Transportbranche in die nüchterne Realität zurück. Für mich bleibt nur noch eine vage Hoffnung, dass sich die Berliner Politik beim brennenden Thema Sozialdumping in Brüssel durchsetzen kann.

Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) verwies in seiner Rede vor den Delegierten aus den BGL-Landesverbänden auf den von ihm initiierten Brief von acht westeuropäischen Verkehrsministern an EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc. Darin fordern die Autoren Bulc auf, gegen den Missbrauch von Grundfreiheiten und die Verletzung von EU-Recht vorzugehen. In dem Brief heißt es unter anderem, die EU müsse mehr sein, als eine Wirtschaftsgemeinschaft, in der freier Wettbewerb und das Streben nach größtmöglichem Profit uneingeschränkte Priorität haben. Doch immer mehr erweist sich ein Konstruktionsfehler der EU als Hindernis: Gerade die osteuropäischen Länder sehen manche Schutzvorschrift für die Fahrer als Protektionismus des Westens. Ohne sie ist aufgrund ihrer Zahl eine Umsetzung von Maßnahmen gegen das Sozialdumping unwahrscheinlich. 

Weiterhin kein ausdrückliches Verbot zur Verbringung der regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeit im Lkw

Der Brief erweitert auch die unendliche Geschichte zum Verbot der Verbringung der regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeit im Lkw um ein Kapitel. Seit geraumer Zeit wollen BGL und Bundesverkehrsminister Dobrindt in einem ermüdenden Hin und Her eine europäische Lösung erwirken. Als Trumpf in der Hinterhand setzt Dobrindt nun auf eine laufende parlamentarische Initiative, die der Verkehrsausschuss unter SPD-Politiker Udo Schiefner ins Spiel gebracht hat. Diese hat zumindest ein national wirksames Verbot in greifbare Nähe gerückt. Es könnte sich also hierzulande in der deutschen Fahrpersonalverordnung niederschlagen. Diese Initiative soll, so hieß es am Rande der BGL-Tagung, Druck auf die osteuropäischen Staaten erzeugen, doch lieber einer europäischen Lösung zuzustimmen. Immerhin würden bei einer nationalen Regelung mit Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Deutschland die für osteuropäischen Flotten attraktivsten Frachtmärkte das Verbot aufnehmen und damit die Transporte durch osteuropäische Transporteure deutlich verteuern. 

Betriebskontrolle bei Waberer‘s in Belgien

Ob sich die EU-Kommission am Ende einen Flickenteppich aus nationalen Regelungen gefallen lässt oder, wie beim deutschen Mindestlohn für Fahrer aus Osteuropa, mit einem Vertragsverletzungsverfahren droht, ist offen. Zumindest hat die EU den flächendeckend einheitlichen Mindestlohn abgebügelt, fürchtet der BGL. Aber eines wird immer wieder deutlich: Fahrer aus Osteuropa, die am Wochenende auf deutschen Parkplätzen stehen, haben großen Respekt vor den saftigen Strafen in Belgien und Frankreich. Selbst vor einer großangelegten Betriebskontrolle schreckte die Polizei am belgischen Standort der ungarischen Spedition Waberer‘s nicht zurück. Das Unternehmen wurde mit einer drastischen Geldbuße belegt, weil ein großer Teil der 110 Fahrer am Wochenende im Lkw geschlafen hatte, statt in einer dafür geeigneten Unterkunft. Kaum verwunderlich, denn am belgischen Standort stehen nur drei Betten in einem Gebäude zur Verfügung. Für die belgische Polizei um Hauptinspektor Raymond Lausberg ist die Betriebskontrolle ein weiter Stich ins dunkle Herz der Sozialdumper. Bei den Verantwortlichen des Bundesamtes für Güterverkehr (BAG) sorgt dieses Vorgehen sicherlich für Schnappatmung. Denn ihnen fehlt immer noch die Handhabe, den Artikel 8/8 aus der VO 561/2006 zu kontrollieren. 

Nur vage Information aus Brüssel

Bislang kommt aus Brüssel auch nur die vage Information, dass die EU-Kommission die Rechtsgrundlagen rund um die Lenk-, Arbeits- und Ruhezeiten im Rahmen der sogenannten Straßeninitiative bis zum Frühjahr 2017 überarbeiten will. Ein Ziel soll dabei sein, deutliche Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Verordnungen und Richtlinien aufzulösen. Außerdem sollen die Vorschriften klarer formuliert werden, um die abweichenden Auslegungen in den EU-Mitgliedstaaten zu verringern. Das kann alles bedeuten – oder auch nichts. Ob damit auch ein eindeutiges Verbot zur Verbringung der regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeit im Lkw kommt, werde ich am 29.11.16 bei der IHK in Stuttgart unter anderem mit Andreas Nägele von der Generaldirektion Mobilität und Verkehr der EU-Kommission beim "Stuttgarter Forum für Fahrpersonalrecht" diskutieren. Das Programm der Veranstaltung finden Sie im Anhang. Es sind noch wenige Plätze frei.

Das EuGH-Urteil zum Fall von Heiko Kölzsch

Auf der Pressekonferenz ließen BGL-Präsident Adalbert Wandt und der scheidende Hauptgeschäftsführer Prof. Karlheinz Schmidt, der nun nach 40 Jahren Tätigkeit für den Spitzenverband in den Ruhestand geht, durchblicken, dass sie an der Wirksamkeit eines solchen Verbotes zweifeln. Es werde den Wettbewerb mit den Flotten aus Osteuropa und damit das Sozialdumping nicht eindämmen, argumentieren sie. Denn es fehle an Kontrollmöglichkeiten. Ich halte es für einen Fehler, dieses Verbot zu zerreden – denn es würde sofort alle Flotten, die ihre osteuropäischen Fahrer in Westeuropa einsetzen, sehr empfindlich treffen.

Doch wie es in einer der Pressemeldungen zu lesen ist, setzt der BGL nun wohl lieber auf das EuGH-Urteil (AZ: C-29/10) vom 13.11.2011. Es trägt den Namen des deutschen Lkw-Fahrers Heiko Kölzsch, über den ich bereits berichtet habe. Es ging in diesem Rechtstreit zunächst um die Frage, welches Gericht für den ehemaligen Fahrer einer Spedition aus Dänemark, die von Luxemburg operierte, zuständig ist. Die Hoffnung auf eine Anwendung des Arbeits- und Sozialrechts lässt sich daher nur ableiten.

Der Unterschied zwischen "beschäftigt" und "erbringt"

Man muss diese BGL-Pressemeldung sehr genau lesen, um die wesentlichen Unterschiede zu erkennen. Zum einen heißt es dort: "Der BGL fordert eine EU-Regelung, die eine Anwendung des Sozial- und Arbeitsrechts desjenigen Landes bestimmt, in dem das Fahrpersonal dauerhaft oder überwiegend Dienstleistungen erbringt." Denn beim Ausflaggen ganzer Fuhrparks in Billiglohnländer werde die innerhalb der EU grundsätzlich erlaubte Dienstleistungsfreiheit für Sozialdumping missbraucht. Der EuGH habe dieses Prinzip schon durch seine Rechtsprechung anerkannt. Weiter heißt es dort: "Mit einem derartigen Meldeverfahren (Anmerkung: zum Mindestlohn) könnte das vom EuGH bestätigte Prinzip zur Anwendung des Arbeits- und Sozialrechts desjenigen Staates, in dem der Fahrer überwiegend beschäftigt ist, wirksam umgesetzt werden." Das sei möglichst auf EU-Ebene zu regeln. Ich halte diesen Vorschlag für ein zweischneidiges Schwert. In der Logik der Rechtsprechung könnte die wettbewerbsverzerrende Beschäftigung mancher osteuropäischen Fahrer durch das Urteil eher noch gefestigt werden.

Der Kernsatz des Urteils

Die Kernaussage des Urteils findet sich in der Pressemeldung des EuGH: "Übt ein Arbeitnehmer seine Tätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten aus, findet in einem Rechtsstreit über den Arbeitsvertrag das Recht des Staates Anwendung, in dem der Arbeitnehmer seine beruflichen Verpflichtungen im Wesentlichen erfüllt."

Man könnte sich in der Bedeutung des Art. 8 (1) Rom-I (VO (EG) 593/2008) ergehen, doch spannend ist vor allem die Begründung des EuGH-Urteils: Demnach muss ein nationales Gericht aufgrund des Wesens der Arbeit im internationalen Transportsektor sämtlichen Gesichtspunkten Rechnung tragen, die die Tätigkeit des Arbeitnehmers kennzeichnen. Es muss insbesondere ermitteln, in welchem Staat sich der Ort befindet, von dem aus der Arbeitnehmer seine Transportfahrten durchführt, Anweisungen zu diesen Fahrten erhält und seine Arbeit organisiert und an dem sich die Arbeitsmittel befinden. Das Gericht muss auch prüfen, an welche Orte die Waren hauptsächlich transportiert werden, wo sie entladen werden und wohin der Arbeitnehmer nach seinen Fahrten zurückkehrt. Und damit ist in einer plausiblen Auslegung des EuGH-Urteils durch Gregor ter Heide, der das Verfahren für Heiko Kölzsch in die Wege geleitet hat, der Ort der Arbeit und des Arbeitsvertrages der ständige Wohnsitz des Berufskraftfahrers, also sein Lebensmittelpunkt.

"Für Berufskraftfahrer gilt, wie die EuGH Urteile Mulox, Rutten, Weber, Pugliese, Kölzsch gezeigt haben, dass keine "Entsendung" vorlag, da deren Tätigkeiten immer von "zu Hause" ab der Wohnung vom familiären Lebensmittelpunkt begonnen haben und dort auch beendet wurden", so ter Heide. "Vor allem hatte der EuGH im Urteil Kölzsch erstmalig und grundsätzlich den eigentlichen tatsächlich beweisbaren Ort zur "Aufnahme und Beendigung" in das Europa-Recht und EU-Recht eingebunden, wobei es automatisch zum dauerhafter Rechts-Bestand wurde."

Flotten wie Waberer‘s sind vom EuGH-Urteil nicht betroffen 

Dabei geht es nicht einmal um die Großflotten aus Osteuropa wie Waberer‘s aus Ungarn, deren Fahrer in der Regel von Ungarn aus drei Wochen oder länger durch Europa fahren und dann mit einer Ladung in die Heimat zurückkehren. Selbst wenn die Fahrer, wie es mir ein Waberer‘s-Fahrer kürzlich erzählte, derzeit nur 40 Euro pro Tag verdienen sollen und sonntags 50 Euro. Sollten die Fahrer aber in Zukunft allesamt in Hotels statt im Lkw übernachten müssen, müsste Waberer‘s sein Konzept überdenken. 

Was der BGL allerdings zu Recht kritisiert: Viele westeuropäische Speditionen und Transportunternehmen, darunter auch immer mehr namhafte deutsche Firmen, lassen etwa in Rumänien über eine eigenständige Niederlassung, im schlechtesten Fall ist es nur eine Briefkastenfirma, Lkw zu. Diese setzt das Unternehmen dann nahezu ausschließlich in Westeuropa ein. Sie kommen allenfalls einmal pro Jahr zur Hauptuntersuchung in die Heimat zurück. Wobei auch das nicht gesichert ist. Doch es ist im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit im internationalen Gütertransport zulässig, solange mit dem Lkw in Europa unterwegs zu sein, wie es der Unternehmer will. Die Kabotage-Regelung beschränkt sich auf drei Fahrten in einem Land.  

Kompletter Unfug ist es, dass die Fahrten im Kombinierten Verkehr, bei denen die Trailer aus dem Ausland kommen, in Deutschland nicht als Kabotage gelten, weil sie als durchgehender internationaler Transport zählen. Daher übernehmen immer öfter osteuropäische Lkw im Auftrag großer Logistikkonzerne solche Touren. Wenn hierbei die Fahrer länger als 183 Tage nur in Deutschland unterwegs sind, so behauptet es der BGL, wären sie deshalb hierzulande steuer- und sozialabgabenpflichtig. Das müsste letzten Endes der Zoll im Einzelfall bei einer Prüfung entscheiden. 

Mitentscheidend ist die Anreise der Fahrer zum Standort des Lkw

Das Tragische an dieser unsäglichen Geschichte: Ausgerechnet die europäischen Sozialvorschriften aus der VO (EG) 561/2006 tragen mit dazu bei, dass das EuGH-Urteil in der brutalen Logik der europäischen Rechtsprechung nicht helfen wird, das Sozialdumping einzudämmen. Mitentscheidend ist die Anreise der Fahrer zum Standort des Lkw. Also genau die Frage, wo der Fahrer seine Arbeit antritt und wohin er nach dem Transport zurückkehrt. Die meisten Fahrer, die auf osteuropäischen Lkw unterwegs sind, wohnen auch in einem osteuropäischen Land, sie haben dort einen Arbeitsvertrag nach geltendem nationalen Recht, der ihnen den jeweils dort gültigen Mindestlohn garantiert. Und die meisten Fahrer setzen sich irgendwann in einen Bus, um dann beispielsweise nach Deutschland zu fahren, wo der Lkw steht. Diese Anreise ist laut VO (EG) 561/2006 als „andere Arbeit“ im Tacho zu dokumentieren, also nachzutragen. Und damit beginnen diese rumänischen Fahrer ihre Arbeit als Dienstreisende in ihrem Heimatland. Ob sie sechs Wochen lang quer durch Europa fahren, spielt keine Rolle. Danach fahren sie mit dem Bus zurück und haben zwei Wochen frei. Meine jüngsten Gespräche mit Fahrern aus Rumänien zeigen, dass sie dort dann für diese beiden Wochen den anteiligen rumänischen Mindestlohn bekommen.

Bestehende Rechtslage perfekt ausgenutzt

Viele der Beschäftigungsmodelle osteuropäischer Fahrer sind auf den zweiten Blick also gar nicht so illegal, wie sie erscheinen. Sie nutzen einfach die bestehende Rechtslage perfekt aus. Auch einige westeuropäische Arbeits- und Sozialminister haben in diesem Jahr einen Brief an die EU-Sozialkommissarin Marianne Thyssen – und gegen ein anderslautendes Schreiben der osteuropäischen Amtskollegen – eine Änderung der Entsenderichtlinie gefordert. Auch wenn das EU-Parlament nun Druck macht – die meisten Lkw-Fahrer aus Osteuropa fallen nach dem bestehenden EuGH-Urteil leider nicht unter die Entsenderichtlinie. Das ist traurig, aber wohl wahr. Die Kommission und mit ihr die Länder der Europäischen Union müssten sich also schon auf eine neue Form des sozial verträglichen Wirtschaftens und Handels einigen. Oder ein neues konkretes Urteil vor dem EuGH erwirken. Doch leider sind sie in ihrem eigenen Konstrukt der absoluten Dienstleistungsfreiheit auf Dauer gefangen. 

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