Fahrer vor Gericht Schleichfahrt

Fahrer vor Gericht, Schleichfahrt Foto: Autobahnkanzlei

Ein Kleinwagen mit Tempo 35 im Tunnel. Ja, geht‘s noch? Trotzdem keine gute Idee, mit dem Lkw zu drängeln.

Die Luft ist schwer. Es ist, als würden die Container der Autobahnkanzlei die Sonne aufsaugen. Im Sommer sind sie manchmal unerträglich. Aber irgendwie sind sie zu unserem Markenzeichen geworden. Wir lieben sie.

Fred ist eigentlich sehr besonnen

Fred* und ich sitzen uns seit zwei Stunden gegenüber. Er ist ein ruhiger, besonnener Zeitgenosse. Wenn es um die eigene Haut oder um seine Familie geht, dann kann er aber auch mal bissig werden. Dieses Strafverfahren empfindet Fred als Frontalangriff auf beides: 1.050 Euro sollen von seiner Familien- in die Staatskasse fließen. Dabei herrscht Ebbe im Portemonnaie: zwei Kinder, ein kleines Haus. Seine Frau hat einen 400-Euro-Job. Bei Fred bleiben im Monat vom Gehalt knapp 1.000 Euro netto übrig. Es reicht so gerade. 1.050 Euro sind da kein Pappenstiel. Aber das ist noch nicht alles. Die Verfahrenskosten kommen dazu und Zeugengeld. Am Ende kostet der Spaß sicher 2.000 Euro. Und das alles für geschätzte zwei Minuten im Rennsteigtunnel.

Es ist der 18. Januar 2013. Fred will nach Hause, freut sich, die Straßen sind frei. Der Winter lässt auf sich warten, aus Fahrersicht ist das gut. Der Verkehr rollt. Fred fährt in den Rennsteigtunnel. Tempo 80 ist erlaubt. Er liegt leicht darunter. Der Verkehr stockt ein bisschen. Sein Lkw brummt jetzt mit 
70 km/h durch den Tunnel. Vor ihm ein Kleinwagen, gut und gerne 500 Meter entfernt. Fred nähert sich. "Steht der oder bewegt er sich?" Jetzt sind es nur noch hundert Meter. Wenn der steht, sollte er eigentlich die Warnblinker anmachen, denkt Fred. Noch 
50 Meter. Fred kann nicht nach links raus, da ist Überholverbot. Er fährt Tempo 50. Nur noch Momente trennen ihn von dem Kleinwagen. Was ihm durch den Kopf schießt, ist eine Mischung von "Der schläft wohl. Hat der noch alle Tassen im Schrank? Gib Gas, Kleiner!" Fred hupt laut mit allen Hörnern. Er schaltet zweimal kurz seine Fernscheinwerfer an, was im gedämpften Licht des Tunnels nicht ohne Wirkung bleibt. Er ist jetzt direkt hinter dem Auto. "Mensch, jetzt fahr!" Doch den Vordermann kann nichts aus der Ruhe bringen. Er tuckert mit einer Geschwindigkeit zwischen 30 und 40 km/h. Fred hupt noch mal. Null Reaktion wie bei einer Mumie. Endlich ist der Tunnel zu Ende. Fred kann auf die linke Spur. Er überholt und denkt die nächsten Monate nicht mehr an die Mumie auf Rädern, sondern fährt und fährt, tausende von Kilometern.

Im Hochsommer kommt der Strafbefehl

Im Hochsommer zieht Fred dann einen gelben Umschlag aus dem Kasten. Die Mumie hat ihn angezeigt und die Behörden schicken gleich einen Strafbefehl. In der Autobahnkanzlei Berg erzählt er, dass sein Hupen das Letzte war, was er von der Sache gehört hat. Eine Beschuldigtenanhörung gab es nicht. Kein Besuch der Polizei. Nicht, dass er danach Sehnsucht hätte. Aber einfach so einen Strafbefehl ohne Vorwarnung, das finden wir beide völlig uncool: 30 Tagessätze à 35 Euro soll Fred zahlen plus fünf Punkte obendrauf. Die Rechtsschutzversicherung springt hier nicht ein. Wir sind uns sofort einig: Einspruch einlegen.

Akteneinsicht ist angesagt und Fred kriegt eine Hausaufgabe: per Digi-Tacho die genauen Geschwindigkeiten ermitteln. Fred meint, sein Chef kann das. Er will das gleich am Wochenende probieren. Das Tempo ist wichtig. Damit kann man beweisen, dass der langsame Kleinwagen eine Gefahr auf der Autobahn darstellte, dass das Wecken der Mumie sozusagen ein Job im öffentlichen Interesse war. Am selben Abend kommt die SMS: "Geschwindigkeiten können nicht ausgelesen werden. Geht nicht. Zwei Stunden mit dem Chef probiert." Ich antworte kurz: "Versuch es bitte mit Dekra, BAG oder Polizei, egal, aber bitte mach’s. Wir brauchen die Geschwindigkeiten." Eine Woche später ruft mich Fred an. Er hat alles probiert – umsonst. So müssen wir wohl ohne die Daten auskommen. Mist, Mist, Mist.

Im Winter beginnt der Prozess

Der Anzeigeerstatter, die Mumie, wird sicher im Prozess nicht sagen, dass er mit 35 gefahren ist. Und genauso kommt es. Es ist mittlerweile wieder Winter, zumindest dem Kalender nach. Wir sitzen im Gerichtssaal. Der Anzeigeerstatter macht einen auf wichtig: Er berate beruflich Behörden, hält Vorträge vor Polizisten, er sei eben Spezialist. Diese "Bescheidenheit" macht ihn nicht gerade beliebt bei den Verfahrensbeteiligten. Man kann seiner Aussage aber nicht absprechen, dass sie ruhig und glaubhaft rüberkommt. Ganz gelassen, aber konzentriert erklärt er auf Fragen des Gerichts: "Ja, ich fühlte mich bedroht. Der Lkw war sehr nah hinter mir, zwei oder drei Minuten Dauerhupen mit Lichteinlagen. Da habe ich schon Angst bekommen." Auf die Frage, wie schnell er denn gefahren sei, antwortet er: "70, 80, vielleicht."

Der Richter hat keine Fragen mehr. Der Staatsanwalt will auch nichts wissen. Es folgt ein kurzes Rechtsgespräch während der Vernehmung. "Nötigung" steht im Raum. Fred und ich wussten vorher, dass das kein Spaziergang wird. Wir haben deshalb verschiedene Prozesssituationen durchgespielt. Mal schauen, vielleicht klappt ja was. Wir wollen wenigstens eine Einstellung des Verfahrens.

Tunnel wird zum Albtraum

Jetzt bin ich dran. Der Zeuge gehört mir. Ob er die Strecke oft fahren würde, frage ich. Ob er sich noch erinnern könnte, als er das erste Mal in dem Tunnel fuhr, will ich wissen. Das kann er. Wie er sich dabei gefühlt habe, hake ich nach, ganz ruhig mit besonnener Stimme. Furchtbar, meint er. Die Befragung wird zum netten Gespräch zwischen Verteidigung und Anzeigeerstatter. So soll es sein. Richter und Staatsanwalt hören zu. Zuschauer gibt es nicht. Wir sind uns schnell einig, dass solche Tunnel etwas Gruseliges haben. Ich schildere, dass ich mich am Lenkrad festhalte und verzweifelt auf das nächste Schild warte, das zeigt, wie lange die Qual noch bis zum Ende des Tunnels dauert. Der Zeuge stimmt zu und erzählt, dass er nur durch den Tunnel fährt, wenn er unbedingt muss, dass das für ihn ein Albtraum sei. Ich frage ihn, ob ihm das auch immer wie Stunden vorkomme. Ja meint er, ewig. Dabei sei es eigentlich nur eine Viertelstunde. "15 Minuten?", wiederhole ich ruhig. Ich mache mir Notizen, schaue hoch und frage noch einmal: "Wie lange brauchen Sie für die Durchfahrt durch den Tunnel?" Der Zeuge wird konkreter: "15 oder 16 Minuten." Ich bedanke mich. Keine weiteren Fragen. Die anderen auch nicht. Der Zeuge wird entlassen. Ich sehe, wie Richter und Staatsanwalt zum Taschenrechner greifen. Gewonnen. Die 
Mauer ist eingerissen. "Darf ich das vorrechnen", frage ich. "Ja, gerne", meinen Staatsanwalt und Richter im Einklang. "Wenn der Zeuge für eine Strecke von ziemlich genau acht Kilometern eine Viertelstunde braucht, dann ist das Vierfache seine Geschwindigkeit pro Stunde: 32 Kilometer also. Wer nötigt hier wen?"

Diplomatie im Gerichtssaal

"Ich will einen Freispruch", presche ich vor. Richter und Staatsanwalt gehen da nicht mit. Selbst bei einem Fehlverhalten des Antragstellers wäre es nicht in Ordnung, mit dem Lkw zwei Minuten lang am Kleinwagen zu kleben und Lärm zu machen. Plötzlich meldet sich Fred ganz ruhig zu Wort und fragt, ob es denn keinen Kompromiss gäbe. Super Fred, genauso! Eine Einstellung oder so was, davon habe er schon mal gehört. Der Staatsanwalt ist angetan. Da gehe er mit, meint er, der Richter auch. Und ich, ich habe dann ja wohl nichts mehr zu sagen. Ich spiele den Gekränkten. Man einigt sich auf sechs mal 100 Euro als Auflage zur Einstellung. Das heißt: keine Punkte und die Rechtsschutzversicherung zahlt.

Fred und ich gehen raus, klatschen uns ab und freuen uns. Das lief exakt nach einem der Szenarien  unserer Planspiele vor dem Termin. Noch mal gut gegangen. Aber Fred weiß ganz sicher, dass die Aktion, die er im Tunnel abgezogen hat, totaler Schrott war. So ein Verhalten kann richtig gefährlich sein, egal wie sehr andere Verkehrsteilnehmer auch nerven.

*Namen von der Redaktion geändert

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Harry Binhammer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Harry Binhammer Fachanwalt für Arbeitsrecht
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