Fahrer vor Gericht Eingebaute Vorfahrt

Eingebaute Vorfahrt Foto: © Jacek Bilski

Fernfahrer Steffen soll einen rasenden Polizisten ausgebremst haben. Vor Gericht bringt der Taschenrechner den Gegenbeweis.

Steffen verschlägt es die Sprache. So einen Quatsch hat er sein Lebtag noch nicht gehört. Der Polizist hat sich ganz wichtig in Pose gestellt, als er seine Leitsätze verkündet. "Wenn ich mit 200 Sachen hier ankomme, dann habe ich Vorfahrt. Haben Sie das kapiert?", fragt er provokant unseren Mandanten. Der räuspert "Nö" und sagt, er rufe jetzt mal in der Autobahnkanzlei an, um sich zu erkundigen, ob das Vorfahrtsrecht in der Bundesrepublik von der Geschwindigkeit abhänge.

Der Beamte will die Papiere sehen. Während er diese gegen die Sonne hält und inspiziert, als würde Steffen mit gefälschtem Lappen durch die Lande fahren, bricht am anderen Ende der Leitung Rechtsanwältin Knauf in schallendes Gelächter aus. Den Beamten möchte sie gerne selbst sprechen und sich dessen neumodische, bislang unbekannte Fassung der StVO persönlich erklären lassen. Der Beamte winkt ab, klatscht die Papiere auf das Trittbrett und saust mit quietschenden Reifen von dannen.

Lichthupe statt Rücksicht

Zwei Stunden später sitzt Steffen in der Kanzlei in Berg. Er weiß, dass er gewartet hat, bis das Überholverbot aufgehoben war. Etliche Kilometer war er hinter einem Kollegen hergezuckelt. Sein Tempomat blockt bei 80 km/h ab. 50 Meter Abstand hält er auch immer ein und weiß, dass das Ansetzen zum Überholen ein Auffahren unter keinen Umständen rechtfertigt. Als Steffen bereits das hintere Drittel des Kollegen überholt hat, sieht er im Rückspiegel, wie ein grauer BMW angeprescht kommt. Statt zu bremsen, übt sich dessen Fahrer in Hupe und Lichtzeichen.

Steffen denkt: "Der spinnt", und fühlt sich bedrängt. Er lässt sich aber nicht nötigen und setzt den Überholvorgang in Ruhe fort. Nachdem er rechts eingeschert ist, überholt ihn der bayerische PS-Protz und setzt sich knapp vor Steffen. Dann leuchtet eine LED-Schrift in der Heckscheibe auf: "Polizei – bitte folgen" oder so ähnlich. Das tut Steffen. Beim nächsten Parkplatz steigt er aus und vernimmt die neueste Weisheit der Straßenverkehrsordnung. Seinen Dienstausweis hat der Ordnungshüter nicht vorgezeigt, erinnert sich Steffen. Irgendwie verdichtet sich die Ahnung, dass ein Verkehrsrowdy Steffen tüchtig reingelegt hat. Dass ein echter Polizist so einen Quatsch erzählt, wollen Rechtsanwältin Knauf und Steffen nicht so recht glauben.

Anzeige wegen Belästigung - drei Punkte

Ihr Glaube an das Gute wird zwei Monate später einen deutlichen Dämpfer erleiden. Dann wird Steffen nämlich einen Bußgeldbescheid erhalten. Die Belästigung soll 
100 Euro und drei Punkte kosten. Wir entscheiden uns gegen eine Einlassung vor dem Gerichtstermin. Ich bespreche mit Steffen, dass wir uns einen Plan des Autobahnabschnitts besorgen und außerdem anhand seiner Angaben berechnen werden, wie weit der rasende Beamte beim Ausscheren entfernt gewesen sein muss. Gesagt, getan. Nach drei Monaten kommt die Ladung zum Gerichtstermin. Grit Güsewell, die Rechenkünstlerin unserer Kanzlei, und Messstellenüberprüfer Ralf Grunert machen sich an die Arbeit. Das Ergebnis ist beeindruckend. Zum Schluss schießen sie noch ein Foto von einem vergleichbaren Pkw in der berechneten Distanz.

So bewaffnet geht Antje Knauf in den Gerichtssaal und sieht sich kurze Zeit später einem vor Selbstbewusstsein strotzenden Beamten gegenüber. Der erklärt in unveränderter Form seine Weisheit. "Frau Richterin", sagt er, "wissen Sie, was passieren kann, wenn ich mit 200 ankomme und der schert aus? Deswegen habe ich natürlich Vorfahrt." Die Richterin fragt nach dem Grund für die hohe Geschwindigkeit. Der Beamte brummelt etwas von "freier Fahrt für freie Bürger". Im eiligen Einsatz war er nicht.

Ich frage den Beamten, wie weit denn Steffen von dem vorausfahrenden Lkw entfernt gewesen sei. Das wisse er nicht, aber das sei reichlich gewesen, vielleicht 50 Meter. Ob Steffen den vorausfahrenden Lkw bereits erreicht gehabt hätte, als er an ihn herankam? Da sei er schon ein Stück vorbeigewesen. Ob es richtig sei, dass er mit 200 km/h gefahren sei? "Ja, eher schneller", beteuert der Beamte. "Da bin ich ganz ehrlich." Frau Knauf hält dem Beamten den Bußgeldbescheid vor. Unter Bemerkungen heißt es da: Abstand zum Lkw bei Beginn des Ausscherens circa 150 Meter. "Ja, das sei so gewesen." "Das geht doch gar nicht", meint der mittlerweile wütende Steffen. "Doch", meint der Polizist. Wenn er das sagt, dann war das so.

Rechenaufgabe führt zum Ziel

Frau Knauf holt den Taschenrechner und bittet die Richterin, ein Rechenexempel vornehmen zu dürfen. "Wenn mein Mandant mit 80 km/h fährt und schneller kann er gar nicht, dann legt er in der Sekunde rund 22 Meter zurück. Der Überholte fuhr mit 70 km/h und legte 19,44 Meter zurück. Nehmen wir an, der Lkw war 18 Meter lang und er hatte ihn schon zu einem Drittel überholt, dann muss er mit 50 Meter Abstand plus ein Drittel des überholten Lkw ganze 56 Meter zurückgelegt haben, vom Ausscheren bis zur Ankunft des rasenden PS-Wunders", rechnet die Anwältin vor. Und weiter: "In einer Sekunde nähert sich Steffen dem langsameren Fahrzeug drei Meter. Die Distanz ohne die Diagonale beim Ausscheren beträgt 56 Meter, geteilt durch drei sind knappe 19 Sekunden. Bei einer Geschwindigkeit von 200 km/h, legt der flotte Beamte 55 Meter in der Sekunde zurück. Das bedeutet, beim Ausscheren des Lkw war die Zivilstreife 1.045 Meter entfernt. Selbst, wenn die Straße dort einen Kilometer lang kerzengerade gewesen wäre, wäre die rasende Zivilstreife nur ein ameisenkopfgroßer Punkt gewesen."

Das Foto hierzu will die Richterin gar nicht mehr sehen. Sie schaut Anwältin Knauf an, dann Steffen und schlägt vor: "Kompromiss, um dieses Drama nicht auszuweiten – 30 Euro, keine Punkte." In Richtung des Beamten erklärt sie mahnend: "Wer mit 200 auf einer zweispurigen Autobahn fährt, der produziert auch in besonderem Umfang Gefahr. Wer so rast, muss schon besonders aufpassen." Von wegen eingebaute Vorfahrt.

Keine Panik

Zu Beginn dieses Jahres standen bei uns die Telefone kaum still. Bis in den späten Abend erkundigten sich besorgte Fernfahrer nach der vermeintlichen neuen Punkteregelung. Die Antwort war immer dieselbe. Es gibt sie noch nicht. Ganz ruhig bleiben. Da ist noch sehr viel in der Diskussion. Ein Gesetzgebungsverfahren dauert seine Zeit. Der Verkehrsgerichtstag hat gerade erst deutliche Kritik am Entwurf des Verkehrsministers geübt. Auch die Beratungen im Bundesrat schlossen mit einer kritischen Stellungnahme. Wer sich trotzdem schon auf das, von dem noch keiner weiß, ob und wann es kommt, vorbereiten will, der kann zu seiner Fahrschule gehen und sich nach einem Punkteabbauseminar erkundigen. Das soll es nach dem neuen System wohl nicht mehr geben.

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