Fahrer vor Gericht Den Führerscheinentzug verhindern

Fahrer vor Gericht, Enge Kiste Foto: Norbert Böwing

15 Punkte aus einem früheren Fall und nun drei weitere durch einen Auffahrunfall. Diese Verhandlung wird kein Spaziergang.

Für Willy geht es um alles – genauer gesagt um insgesamt 18 Punkte. Der Großteil davon stammt aus einem früheren Fall. Damals wurde Willy mitgeteilt, im Strafbefehl stünden keine Punkte, also gebe es auch keine Punkte. So ein Quatsch. Das Verfahren hätte er gewinnen können – aber es war ihm alles viel zu aufwendig. Also hat er die Geldstrafe geschluckt. Und einige Zeit später erfahren, dass er 15 Punkte in Flensburg hat. Im jetzigen Verfahren geht es um drei. Was passiert, wenn die dazukommen, liegt auf der Hand. Und ausgerechnet heute, kurz vor Beginn der Verhandlung, stehe ich im Stau. Mist! Ich rufe verzweifelt im Gericht an. Es ist Freitagnachmittag. Die Geschäftsstelle ist um 13  Uhr schon nicht mehr besetzt. Der Pförtner meldet sich und verspricht, es dem Richter mitzuteilen. Ich rufe Willy an. Der musste 500 Kilometer weit anreisen und ist schon lange da. Er will auf mich warten. Ich nutze die Zeit und denke über Willys Verfahren nach. Anlass ist ein schwerer Auffahrunfall. Ob Willy überhaupt etwas dafür konnte, dass er einem Kollegen auffuhr, ist bis heute nicht zweifelsfrei nachgewiesen. 50.000 Euro Sachschaden und eine Körperverletzung lautet das Fazit. Die Verletzung betraf Willy selbst. Er hatte mehrere Rippenbrüche. Eigentlich ist mein Mandant damit genug gestraft. Sein Arbeitgeber sah das anders und legte noch einen drauf – fristlose Kündigung: Willy habe den Lkw absichtlich zerstört, weil er einen neuen haben wollte. Was für ein Schwachsinn. Auf so eine Idee können nur frustrierte Arbeitgeber kommen. Die fristlose Kündigung hatte vor dem Arbeitsgericht natürlich keinen Bestand. An ein Zusammenarbeiten zwischen Willy und seinem Ex-Chef war dennoch nicht mehr zu denken. Inzwischen hat Willy einen neuen Arbeitgeber. Der nimmt die Lenk- und Ruhezeiten ernst und macht nicht den Eindruck, als käme er auf so blödsinnige Gedanken wie sein Vorgänger.

Verteidiger parkt im Halteverbot

Ein paar Minuten später parke ich mein Auto im Halteverbot – ist mir völlig wurscht. Ich muss zu Willy. Rasch an der Pforte vorbei, die kennen mich schon. Der Pförtner ruft mir nach: "Saal 16, die haben übrigens schon angefangen." Der Zorn steigt mir ins Gesicht. Vor dem Gerichtssaal schnell noch durchatmen. Ruhig betrete ich den Saal und entschuldige mich höflich. Der Richter blickt kurz hoch: "Wir haben schon angefangen. Ich muss nämlich um 15 Uhr weg." Ich setze mich neben Willy. Der Richter fährt ohne Unterbrechung fort. Dann erläutert ein Sachverständiger, er habe von beiden Lastwagen die Geschwindigkeiten ausgelesen. Der Vorausfahrende habe von 80 km/h auf 38 km/h abgebremst. Willy sei ebenfalls 80 km/h gefahren. Das hält der Sachverständige für eine nicht angepasste Geschwindigkeit. Außerdem habe Willy den Abstand nicht eingehalten. Sonst wäre es ganz sicher nicht zum Unfall gekommen. Das Ganze klingt so, als wolle der Sachverständige dem Gericht schnell 
mal ein paar Auswertungsbrocken hinwerfen, um ebenfalls 
zügig fertig zu werden.

Richter droht mit zusätzlichem Fahrverbot

Der Richter greift die Argumentation auf. Er droht mit zusätzlichem Fahrverbot. Das kann uns ziemlich egal sein. Das würde bei dem drohenden Punktestand auch keine Rolle mehr spielen. Ich will jetzt wissen, ob der Fahrer vor Willy die Warnblinkanlage benutzt hat. Der Sachverständige weiß es nicht. Ich frage ihn, auf welche Weise der Lkw vor Willy gebremst hat. Der Sachverständige weiß es nicht. Ich möchte wissen, ob ein abruptes Abbremsen mit dem Retarder möglich ist. Der Sachverständige bejaht. Ich will wissen, ob die Bremslichter am Lkw vor Willy funktionierten. Der Sachverständige weiß es nicht. Ich frage ihn, woher er wissen will, dass Willy den Abstand nicht richtig eingehalten hat. Er gerät ins Schwimmen. Der Richter hakt sich ins Gespräch ein und entlässt den Sachverständigen.

Ich erkläre dem Richter nun die Situation: gebrochene Rippen, Kündigung, neuer Arbeitgeber als Folge des Unfalls. Ich fordere ihn auf, Willy eine Chance zu geben und dies mit zu berücksichtigen. Die Erziehungsfunktion des Bußgeldverfahrens sei hier nicht mehr notwendig. Außerdem treffe Willy aus Sicht der Verteidigung keine Schuld am Unfall. Der Richter sieht das völlig anders. Typisch. Dabei sprechen die Argumente aus meiner Sicht deutlich und nachvollziehbar für Willy. Ich erkläre, dass ich die drei Unfallzeugen hören will. Die sind bisher nicht geladen worden. Das sei wunderlich. Der Richter fragt, ob ich ihm mit Beweisanträgen drohen wolle. Ich frage ihn, ob er sich durch Beweisanträge bedroht fühle.

Richter verkorkst Prozess

Der Richter wechselt das Thema. Er teilt mir mit, dass er Paragraf 77 Abs. 2 Ordnungswidrigkeitengesetz zur Anwendung bringen wolle. Meine Beweisanträge würde er als verspätet zurückweisen. Ich erkläre ihm, dass er das gerne versuchen könne. Die prozessuale Situation habe er verkorkst. Den Sachverständigen hätte er sich sparen können und stattdessen die Augenzeugen laden sollen. Die Situation spitzt sich zu. Während ich noch referiere, beginnt der Richter zu schreiben. Ich ahne Schlimmes: "Sie verfassen jetzt nicht das Urteil, während ich noch rede, oder?" "Doch", meint er, "dann geht es hinterher schneller. Ich kann zwei Sachen gleichzeitig." Mir reicht es jetzt. Ich bitte um eine Unterbrechung, um einen Befangenheitsantrag zu formulieren. Der Richter sieht seinen Termin um 15 Uhr in Gefahr. Er schaut mich an um meint: "Wenn Sie das jetzt tun, schreibe ich vor die 35, die ich gerade notiert habe, eine Zwei." Ich atme durch. Steine fallen mir vom Herzen. Ich sage leise, etwas devot: "Schreiben Sie bitte weiter. Ich habe nichts gesagt."

Richter am Ende doch milde

Willy neben mir ist völlig verwirrt. Er kann das Ganze noch nicht einordnen. Kurze Zeit später verkündet der Richter das Urteil: keine Punkte. Er sieht auf die Uhr. Eine Viertelstunde hat er noch, jetzt wird er lockerer. Sein Schwager sei auch Lkw-Fahrer. Der fahre seit 25 Jahren, punktefrei. Willy erklärt, dass er das auch getan habe und schildert die Situation, wie er zu den Punkten gekommen sei. Der Richter meint: "Na, dann stimmt mein Urteil ja. Aber seien Sie vorsichtig. Beim nächsten Mal klappt das nicht mehr. Da kann sie auch der beste Verteidiger nicht mehr rausholen." Was ich dann erlebe, ist einmalig. Willy und seine Mutter, die im Zuschauerraum gesessen hat, liegen sich in den Armen und überfluten mit Freudentränen förmlich den Gerichtsflur. Ich gehe hinaus und denke: "Dafür arbeitest du als Verteidiger. Genau dafür."

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