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Extreme Zustände in Calais Die Angst im Nacken

CALAIS - MIGRANTS Foto: Arnaud Dumontier

Früher kamen sie heimlich, im Schutz der Dunkelheit. Inzwischen ist es Normalität, dass illegale Einwanderer in Calais am helllichten Tag Lkw stürmen, um nach Großbritannien zu gelangen.

Sie kommen in Scharen, sobald der Verkehr auf der Autobahn in Richtung Hafen nicht mehr zügig fließt, sie knacken Schlösser und schlitzen Planen auf. Fahrer weigern sich bereits, die Route zu fahren, sie befürchten Gewalt und Strafen. Lkw und Waren werden beschädigt, die Lieferkette ist in Gefahr. Die nordfranzösische Hafenstadt scheint fest im Griff von Schlepperbanden, die Politik zeigt sich hilflos. Seit Jahren.

Als kürzlich Fährarbeiter in Calais streikten und der Verkehr durch den Tunnel unterbrochen war, kam Horst Kottmeyer, Geschäftsführer der gleichnamigen Spedition aus Bad Oeynhausen, nicht mehr zur Ruhe. Er wurde dauernd nachts geweckt, weil Fahrer Rat brauchten und sich bedroht fühlten. Einer von ihnen musste mit vier blinden Passagieren im Anhänger zur Polizei fahren. Ein zerschnittenes Planendach, elf Flüchtlinge an Bord, Exkremente auf der Ware sind die Bilanz eines anderen. "Die Fahrer sehen im Spiegel, wie ihr Lkw geentert wird, aber sie können nichts dagegen machen", sagt Kottmeyer. Werden sie mit Migranten im Lkw erwischt, gelten sie als Schleuser und müssen hohe Strafen zahlen.

Spediteure in schlechter Position

"Es muss Druck von der Industrie kommen, wir als Spediteure haben keine Machtposition", stellt Kottmeyer fest. Neugeschäft nach England will er derzeit nicht aquirieren. Er steht aber zu den Vereinbarungen mit den Kunden. Und zahlt für die Schäden an der Ware. Dabei ist das Unternehmen vom britischen Innenministerium in puncto Sicherheit zertifiziert. Seine Fahrer sind aufgefordert, ab Antwerpen nicht mehr anzuhalten, es wird generell mit Zollschnur gefahren, nach jedem Anhalten dokumentieren die Fahrer ihre Sicherheitschecks. Aber das nützt alles nichts, wenn sie in ­einen Stau vor dem Tunnel oder an den Fähren kommen.

Die Stimmung wird immer angespannter, eine Lösung des Problems war bislang nicht in Sicht. Im Gegenteil. Angesichts des im Sommer ruhigeren Mittelmeers ist mit weiteren Flüchtlingen zu rechnen. Derzeit kampieren etwa 4.000 Menschen bei Calais, viele haben schon mehrere Versuche, auf die Britischen Inseln zu gelangen, hinter sich. In diesem Jahr wurden laut britischem Innenministerium bis Mitte Mai bereits 19.000 Migranten in Calais von Lkw heruntergeholt, etwa doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum vor zwei Jahren. In England selbst wurden Mitte Juni in Bedfordshire innerhalb von zwei Tagen 36 illegale Immigranten aufgegriffen, berichtet die Zeitung "Telegraph". Im vergangenen Jahr waren es 23 Flüchtlinge pro Monat.

Ware wird vernichtet

Die British International Freight Association (BIFA) sieht den Verkehr nach England bedroht. "Wenn die Behörden in Frankreich und Großbritannien jetzt nicht handeln, besteht die Gefahr, dass Subunternehmer internationaler Speditionen aufgrund personeller und finanzieller Risiken sich künftig weigern, die Strecke über den Kanal zu bedienen", sagt BIFA-Direktor Robert Keen.

Auf der Insel selbst werden inzwischen jeden Monat Obst, Gemüse und Blumen im Wert von zwei Millionen Euro vernichtet. Die Ware gilt als verunreinigt, wenn der Lkw von blinden Passagieren aufgebrochen worden war. "Die Lage wird immer schlimmer", sagte der Verbandschef der Frischwarenindustrie FPC, Nigel Jenney, gegenüber britischen Medien. Einige Transportunternehmen aus Frankreich und Spanien würden die Route Calais–Dover bereits meiden.

Frankreich will Polizei verstärken

Seit der Tunnelsperrung mit ihren chaotischen Folgen kommt offenbar etwas Bewegung in die festgefahrene Situation. Frankreich will ab September die Polizeikräfte verstärken, Großbritannien hat eine 90-köpfige Task Force zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität im Mittelmeer eingesetzt, an der Kriminalpolizei, Grenzschutz, Einwanderungsbehörden und Staatsanwaltschaft beteiligt sind. Sie sollen in Zusammenarbeit mit Europol auch auf Sizilien und in Den Haag Menschenschmuggler verfolgen und ihnen das Handwerk legen.
Auch eine Zusammenarbeit mit afrikanischen Ländern ist vorgesehen. Außerdem sollen fast drei Meter hohe Zäune um das Terminal in Coquelles bei Calais aufgebaut werden, die bereits die Olympischen Spiele und im vergangenen Jahr den NATO-Gipfel in Wales abgesichert haben. Bis Ende Juli sollen sie auf vier Kilometer Länge stehen.

England müsse seine Einwanderungs- und Asylpolitik grundsätzlich neu regeln, ist von vielen Betroffenen zu hören. Manche fordern ein großes abgesichertes Gelände, in das die Lkw von der Autobahn kommend direkt einfahren können. Größere Parkplätze seien nicht notwendig, meint dagegen David Sagnard von der französischen Transportorganisation FNTR aus Calais. Es müsse vielmehr dafür gesorgt werden, dass der Verkehr auf den Autobahnen fließe. "Außerdem wird ein Informationssystem gebraucht, über das die Fahrer sofort erfahren, wenn Wartezeiten drohen", sagte er. Derzeit führen sie ahnungslos in Staus hinein.

Alternative Routen gefragt

Die englische Spedition Maru International aus Dewsbury lässt ihre Lkw inzwischen über Seebrügge und Hull laufen. Alternative Routen werden auch von deutschen Unternehmen genutzt. "Wir haben feste Fährkontingente", sagt der geschäftsführende Gesellschafter der Huettemann Gruppe, Klaus Hüttemann. Man setze auf normale Fährverbindungen, aber auch auf Nachtverbindungen. "Dabei starten wir von den holländischen Häfen Rotterdam und Hoek van Holland aus." Je nach Kunde sei aber auch nach wie vor Calais–Dover eine Option.

Wer könne, sollte den Tunnel meiden, rät der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL), Prof. Dr. Karlheinz Schmidt. Transportunternehmen sollten mit ihren Auftraggebern reden und über deutsche Seehäfen mit der Fähre nach England fahren: "Das wird teurer, ist aber auch ein Weg", sagt er. Verzeichne die Tunnelgesellschaft erst einmal Umsatzeinbrüche, werde sich vermutlich etwas ändern.

Die Strafen

Transportunternehmen und Fahrer müssen ihre Lkw auf dem Weg nach Großbritannien sichern, um illegale Einwanderung zu verhindern. Bei dem Verdacht, dass sich jemand auf dem Fahrzeug versteckt, sollte der Fahrer die Polizei informieren. Wer mit blinden Passagieren an Bord erwischt wird, zahlt bis zu 2.000 Pfund (rund 2.850 Euro) pro Eindringling. Der Besitzer des Fahrzeugs muss zusätzlich mit einer Strafe rechnen.
Weitere Informationen: www.gov.uk/secure-your-vehicle-to-help-stop-illegal-immigration

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