Dekra-Reifenlabor Spürnasen in Sachen Reifen

Unfallanalyse, Dekra Foto: Kühnl

Überhitzung, Durchstich, Minderfülldruck oder Bordsteinkontakt? Das Reifenlabor von Dekra in München kann nahezu jeden Reifenschaden rekonstruieren.

Ein schwerer Lkw-Unfall auf der A 3 bei Würzburg hatte im Januar für Aufsehen gesorgt. Der Fahrer verlor, vermutlich nach einem Reifenplatzer an der Vorderachse, die Kontrolle über den 40-Tonner und durchbrach die Leitplanke. Er erfasste ein Polizeiauto, zwei Polizisten wurden getötet. Doch war es wirklich der Vorderreifen, der den Unfall auslöste?

Gerichtsfähige Untersuchungen

Wenn ja, was sorgte für diesen folgenreichen Ausfall? Fragen, die das Reifenlabor von Dekra Automobil in München zu klären hat. Auf Basis eines Gutachtens der dortigen Sachverständigen wird das Gericht entscheiden, wer haften muss. Kann der Spedition eine mangelnde Wartung, wie zum Beispiel zu wenig Luftdruck, nachgewiesen werden, drohen weitreichende Folgen – und Kosten in Millionenhöhe.

In einem Industriegebiet im Münchner Süden hat die wohl anerkannteste Anlaufstelle für Reifengutachten in Deutschland seit mehr als drei Jahren ihren Sitz. Den Ruf des Reifenlabors hat der scheidende "Reifenpapst" Franz Nowakowski über viele Jahre aufgebaut. Das Labor befindet sich mit einer Ausbildungsstätte für Vulkaniseure in einem nüchternen Gebäude. Jedes Jahr bildet die Stahlgruber-Stiftung dort rund 2.000 Menschen im Vulkaniseurhandwerk aus und weiter. Auch angehende Ingenieure der Hochschule für angewandte Wissenschaften in München werden im Rahmen der Vorlesung Reifentechnik dort praktisch geschult.

Stahlgruber-Stiftung sorgt für Präzision

Für Christian Koch, dem Nachfolger von Experte Nowakowski, ein unbezahlbarer Vorteil: "Ohne die Zusammenarbeit mit der Stahlgruber-Stiftung könnten wir keine so präzisen Gutachten erstellen." Das Know-how der vier Vulkaniseurmeister sei hierfür ebenso hilfreich wie die Möglichkeit, die neuesten Montagemaschinen und Durchleuchtungsgeräte zu nutzen. Nicht umsonst senden Dekra-Sachverständige, Gerichte und Versicherungen aus ganz Deutschland Reifen, die in einen Unfall verwickelt waren, nach München.

Als technischer Sachverständiger der Dekra kommt Koch aus der Unfallanalytik und hat noch zusätzliches Fachwissen – schließlich war er neun Jahre lang als Ingenieur in Entwicklung und Kundendienst bei einem großen deutschen Reifenhersteller tätig.

Die wichtigsten Werkzeuge zum Analysieren von Reifen sind für Koch "das Auge und der menschliche Verstand." Denn den Ausfallgrund eines zerfetzten Reifens kann nicht durch Handauflegen bestimmt werden. "Man muss den Reifen penibel analysieren und sezieren, um dann logisch zu überlegen, woher die festgestellten Spuren kommen."

Der Blick des Fachmanns

Gerade bringt ein Mitarbeiter der Stahlgruber-Stiftung mit einem Hubwagen einen verdreckten und stark beschädigten Reifen herein. Mit einem fachmännischen Blick erkennt Koch trotz der starken Verschmutzungen die Beschriftung: "385/65 R22,5, das müsste die Vorderachse von einem vierachsigen Kipper sein." Weiterhin stellt er fest: "Budget-Reifen, runderneuert, viel im Dreck und auf ruppigen Strecken gefahren." Die Begleitpapiere bestätigen das: Der Kipper war im Baustellenverkehr im Einsatz.

"Das ist ein kritischer Einsatzbereich", sagt Koch. "Diese Reifen sind  aufgrund des groben Geländes und der hohen Lasten stark beansprucht. Auf freien Straßen werden dann mit demselben Reifen normale Geschwindigkeiten  gefahren." So auch hier: Auf einer Autobahn versagte der runderneuerte Vorderreifen, der Lkw durchbrach die Leitplanke. Koch muss nun die Schadensursache ermitteln.

Für die Versicherung geht es um viel Geld. Kann dem Reifenhersteller eine Mitschuld attestiert werden? Wurde etwa bei der Runderneuerung geschlampt? "So etwas kommt eher selten vor", sagt Koch. "Die Hersteller untersuchen ihr Rohmaterial ‚gebrauchter Reifen‘ meist sehr sorgfältig und erneuern nur einwandfreie Reifen." Eine erhöhte Ausfallquote könne er hier nicht feststellen, ebenso wenig wie bei Low-Budget-Reifen.

Herstellungsfehler werden schnell endeckt

Koch gibt aber zu bedenken: "Herstellungsfehler treten in der Regel sehr schnell ans Tageslicht. Das regelt die Spedition meist direkt mit dem Händler, solche Reifen bekommen wir erst, wenn es vor Gericht geht." Schließlich liegt es im Interesse des Herstellers, den Fehler aus der Welt zu schaffen. Ebenso bei Billigreifen – doch auch weil deren Marktanteil nur bei etwa fünf Prozent liegt, kommen diese eher selten ins Reifenlabor.

Versicherungen und Gerichte sind der Hauptauftraggeber für Reifengutachten – wie im Fall des schweren Unfalls auf der A 3 oder des Baustellenfahrzeuges. "Fällt  ein Reifen unspektakulär aus, lässt kaum eine Spedition ein Gutachten erstellen. Dafür sind die Kosten im Verhältnis zum Neureifen einfach zu hoch", erklärt Dekra-Mann Koch.

Gutachten schafft Klarheit über Qualität

Aber nicht nur ausgefallene, sondern auch falsch deklarierte oder fehlerhafte Reifen landen dort. Gerade hat er mehrere Reifen im Labor, mit denen Kunden aufgrund der Fahreigenschaften nicht zufrieden waren. Nun soll das Gutachten Klarheit schaffen, wie es um die Qualität der Reifen bestellt ist. Möglicherweise gibt es auch Argumente an die Hand, um beim Preis nachzuverhandeln.

Drei bis vier Stunden braucht Koch durchschnittlich, um einen Reifen zu untersuchen. Natürlich gibt es auch Ausnahmen: "Wenn sich wirklich nichts finden lässt, muss man den Reifen schon mal aufschneiden oder durchleuchten." Um den Zustand von Gummi und Karkasse beurteilen zu können, steht sogar ein Raster-Elektronenmikroskop bereit. So bewaffnet, wird Christian Koch noch in dem ein oder anderen Rechtsstreit um viel Geld das Zünglein an der Waage spielen.

Wenig Luftdruck wird erkannt

Bei defekten Reifen deuten Spuren im Wulstbereich auf zu wenig Luftdruck hin, ebenso wie saubere Laufstreifenablösungen. Überhitzungen oder blockierte Räder lassen sich durch bläuliche Verfärbungen des Reifens herauslesen. Ferner kann Dekra-Experte Christian Koch schleichende Schäden, etwa von Bordsteinkontakten, durch entsprechende Brüche und Risse erkennen. Tiefer Rost im Stahlgeflecht lässt meist auf einen Durchstich schließen.

Meist ist die Analyse kompliziert. Das Gros hat mit einem Reifen nicht mal mehr die runde Form gemein. "Da muss man nach dem Ausschlussprinzip arbeiten", sagt Koch. "Sehe ich eine charakteristische Spur nicht, kann ich diesen Schaden oder diese Missbehandlung ausschließen." So blieben am Ende meist nur wenige Möglichkeiten übrig. Diese lassen sich durch die Zusammenarbeit mit den Sachverständigen, die den Unfallbericht erstellt haben, weiter eingrenzen. "Ein Reifengutachten, das in Verbindung mit einem Unfall steht, geschieht meist mithilfe der Analyse des Unfallortes." So ergeben sich rasch logische Schlussfolgerungen.

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