Interview Dr. Christian Scheier Es geht immer darum, Kundenziele zu erfüllen

Foto: Christian Scheier

Das Gehirn bildet sich in Sekunden ein Urteil. Das hält auch an, wenn die Nutzer später intensiver über den Kauf nachdenken. Der Neuropsychologe Dr. Christian Scheier ist Experte auf diesem Gebiet und erläutert im Gespräch, warum der Autopilot im Gehirn so wichtig ist und wie Unternehmen ihn beeinflussen können.

Bei der Preisverleihung der „Besten Marken“ in der Nutzfahrzeugbranche gibt es in den 23 Kategorien mehrere Sieger, die seit 2005 auf dem Treppchen stehen. Wie erklären Sie sich solch eine Dominanz?

Scheier: Betrachtet man den Markt, so gibt es fast immer einen „The Winner takes it all“-Mechanismus. Es gibt sehr starke Marken, die oft mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte lang Erfolg haben. Es liegt daran, dass starke Marken unser Gehirn entlasten. Das zeigt die Neuro­ökonomie sehr deutlich. Unser Gehirn muss nicht überlegen, sondern kann intuitiv handeln und verbraucht so signifikant weniger Energie.

Können Sie das näher erläutern?

Scheier: Der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann hat es so formuliert: „Nachdenken ist für Menschen wie schwimmen für Katzen. Sie können es, machen es aber äußerst ungern.“ Besonders beim Einkaufen verlässt sich unser Gehirn daher gern auf die Intuition. Es schaltet auf Autopilot und wir greifen nach be­kannten Marken.

Und das führt zur Dominanz der Marken?

Scheier: Genau. Im B2B-Bereich kommen noch weitere Faktoren hinzu. Hier greift auch das Thema Entscheidungsrisiko. Daher setzen die Verantwortlichen gern auf Stabilität und Zuverlässigkeit. Jeder Wechsel eines Produkts erhöht das Risiko, weil sie das Neue nicht kennen. Zudem ist die Unternehmensseite wichtig. Hinter erfolgreichen Marken stehen oft Konzerne oder Firmen, die Marktführung ernst nehmen und den Kern der Marke klar definiert haben. Sie bleiben konsequent dabei und das über Jahre hinweg. Damit sind sie im Markt vertrauensbildend. Oft wird viel zu viel und zu schnell hintereinander geändert. Anders verhält es sich bei Machern starker Marken: Sie verstehen es, nur so viel zu ändern, dass sie auch weiterhin als innovativ und führend gelten.

Würde das bedeuten, dass kürzere Lebenszyklen, schnellere Produktwechsel und eine größere Produktvielfalt eher kontraproduktiv sind?

Scheier: Nicht ganz. Unter einem stabilen Markendach kann sich ein Unternehmen das leisten. Die Kunden sind eher bereit, mit einer Innova­tion mitzugehen, wenn sie die Marke schon kennen. Wenn ich auf der Markenebene den Namen öfter ändere, dann wird es hingegen schwierig. Führen Unternehmen auf der Produktebene neue Varianten ein und erhöhen die Vielfalt, dann brauchen sie ein Dach, das Vertrauen impliziert und Stabilität mit sich bringt. Aus diesem Grund haben sich große B2B-Marken im Kern nicht verändert.

Welche Rolle spielen denn die Kunden dabei?

Scheier: Hier gilt es, die Grundmechanik einer Kaufentscheidung zu beachten. Es ist immer die erwartete Belohnung minus der erwartete Schmerz, der durch den Preis, Unsicherheit und Risiko entsteht. Es sind also immer zwei Hebel, an denen Unternehmen ansetzen können. Starke Marken helfen, die Ziele des ­Kunden zu erfüllen – in diesem Fall wird ­Stabilität bereits als Belohnung angesehen.

Sind denn die Entscheidungsmechanismen zwischen B2B- und B2C-Kunden gleich oder gibt es doch ein paar signifikante Unterschiede?

Scheier: Es gibt ein paar, doch auch diese sind nicht mehr so stark ausgeprägt wie früher. Es besteht ja die Annahme, dass es sich bei Geschäftsprozessen um rationale Entscheidungen handelt. Dann stellen einige die These auf, dass Endkunden rein emotionale Entscheidungen treffen. Das ist Quatsch. Das Gehirn kann so etwas gar nicht leisten. Das ist reine Fiktion, die sich im Markt immer noch hält, von wissenschaftlicher Seite jedoch schon längst als falsch bewiesen wurde. Grundsätzlich ist die vorhin erwähnte Entscheidungsmechanik dieselbe. Nur kommen im Geschäftsbereich noch ein paar Faktoren hinzu. Dazu gehört das Entscheidungsrisiko. Daher zählt hier ein großer Vertrauensvorschuss. Zudem gibt es häufig eine ganze Gruppe, die über einen Kauf entscheidet. Hinzu kommt, dass das Risiko für Geschäftskunden steigt – zum einen wegen des Preises und zum anderen hängt der Job eventuell an der Entscheidung.

Lässt sich das im B2B-Bereich näher betrachten?

Scheier: Wir machen viele Analysen. Dabei fragen wir immer: Wer entscheidet was, wann und warum? Wenn man das sauber auflöst und eine wissenschaftliche Analyse anwendet, dann kann man sehr schön ökonomische und neuroökonomische Prinzipien anlegen. Doch letztendlich bleibt es immer in der Analyse des Systems 1 – des Autopiloten.

Was bedeutet das?

Scheier: Wir nutzen die Theorie des Nobelpreisträgers Kahnemann, der zwischen zwei Systemen im Gehirn unterscheidet, die uns prägen. System 1 ist der Autopilot im Kopf. Er ist schnell, intuitiv und Entscheidungen laufen automatisiert ab. Hier spielt die Marke stark mit rein. System 2 ist zum Nachdenken da. Es reagiert auf die expliziten Botschaften. Doch ist es fast immer nachgelagert und nicht der Treiber der Entscheidung. Es spielt keine herausragende Rolle.

Wie untersuchen Sie das Kauf­verhalten? 

Scheier: Wir konzentrieren uns hauptsächlich auf den Autopiloten und wenden hier eine rein konsti­tutionelle Analyse an, bei der wir die bereits ­erwähnten Zusammenhänge von Belohnung und Schmerz untersuchen.

Was haben Sie dabei festgestellt? 

Scheier: Es geht immer darum, Kundenziele zu definieren und zu erfüllen. Daher muss jedes Unternehmen die Frage des Kunden beantworten: Wie hilft mir das Produkt oder die Marke etwas zu tun, etwas zu haben, etwas zu sein oder zu werden? Dabei sollte man wissen, dass Faktoren wie Sympathie, Ehrlichkeit, Offenheit keine Kundenziele sind, das sind Markenwerte. Es besteht die Theorie, dass Menschen mit Marken eine Beziehung eingehen. Ich beurteile das als Unsinn. Neuroökonomisch gesehen geht es immer um die Frage: Wie hilft mir die Marke, ein Ziel zu erreichen? Die Ziele können dabei unterschiedlich sein. Zum Beispiel gibt es die übergeordneten Ziele Sicherheit, das Beste zu haben, Anerkennung. Dann gibt es herkömmliche, tangible Ziele, die das Produkt betreffen: beispielsweise, dass eine Maschine funktionieren und sehr effizient arbeiten muss. Bei Menschen kommen psychologische Ziele hinzu. Diese führen dann zum Kipp-Punkt, dem Tipping Point, der dazu führt, dass sich ein Kunde für die eine und gegen die andere Marke entscheidet. Diese Ziele kann man ansprechen.

Wie regiert denn das Gehirn beim B2B-Kunden. Tickt es anders als das des Endverbrauchers?

Scheier: In gewisser Weise ja. Denn beim schon erwähnten Verhältnis Belohnung minus Schmerz muss man wissen, dass es den Menschen doppelt so stark motiviert, Schmerz zu vermeiden, als eine Belohnung zu erhalten. Wenn wir Preis mit Schmerz gleichsetzen, was neuropsychologisch der Fall ist, dann wird es nicht rational verarbeitet, sondern der Preis bestimmt die Reaktionen des Gehirns. Hinzu kommt der Faktor Unsicherheit. Das menschliche Gehirn versucht in erster Linie, Unsicherheiten zu vermeiden und das Risiko zu minimieren. Bevor wir Neues anstreben oder Trends suchen, wollen wir sicher sein, dass wir keine Fehler machen. Das ist im B2B-Bereich deutlich ausgeprägter als im B2C-Bereich. Dar­über hinaus existieren soziale Prozesse. Menschen suchen Anerkennung und möchten nicht das Gesicht verlieren. Das ist im Geschäfts­bereich immer der Fall. 

Wie lässt sich das für Unternehmen nutzen?

Scheier: Unternehmen müssen nach den Zielen ihrer Kunden fragen, die sie mit ihren Produkten und der Marke erfüllen wollen. Dafür ist eine ausführliche Zielanalyse nötig. Mit ihr lässt sich feststellen, was mit meinen Produkten und meiner Marke möglich ist. Das lässt sich mit unterschiedlichen Messmethoden analysieren. Anschließend weiß das Unternehmen, für welche Produkteigenschaften es steht und welche psychologischen Ziele die Kunden mit ihm verbinden. Danach macht sich das Unternehmen auf die Suche nach Wachstumsmöglichkeiten. Zum Beispiel: Gibt es Ziele, die noch von niemandem besetzt werden? Wenn man diese hat, kann das Unternehmen einen Key Performance Indicator (KPI) entwickeln. Daraus folgt dann ein klassisches Vorgehen. Das Unternehmen kann daraus die Markenarchitektur bauen, es intern kom­munizieren und mit allen üblichen Instrumenten im Marketing-Mix zum Leben erwecken.

Lässt sich das wissenschaftlich begleiten?

Scheier: Ja. Wir nutzen dafür in erster Linie verhaltensbasierte Tests. Hierbei wird getestet, wie lange der Autopilot im Kopf dominiert. Das lässt sich prüfen, indem wir Fragen stellen, die schnell beantwortet werden müssen. Benötigt der Proband länger als vier Sekunden, wissen wir, dass sein Gehirn spätestens dann mit dem Nachdenken beginnt. Er beginnt seine Antwort zu reflek­tieren und zu modulieren. Die Antwort wird ­damit nicht mehr so glaubwürdig sein. 

Warum ist das so wichtig? 

Scheier: Es ist im Prinzip relativ einfach. Das Gehirn trifft fast immer innerhalb einer Sekunde ein Vorurteil. Öffnet beispielsweise ein Kunde die Internetseite eines B2B-Anbieters, dann trifft er innerhalb dieser Sekunde ein Urteil. Schnell steht fest, ob die Seite vertrauenerweckend ist oder ob sie ansprechend ist. Dieses Urteil ändert sich meist nur noch wenig, wenn wir diese Probanden eine Minute später befragen. Das bedeutet aber nicht, dass eine solche Entscheidung irrational oder impulsiv ist. Eine ähnliche Situation haben wir auch auf der persönlichen Ebene. Kommt jemand in einen Raum, in dem mehrere Menschen sitzen, dann fallen auch hier innerhalb einer Sekunde erste Entscheidungen über die Anwesenden im Raum. Doch bleiben wir beim Beispiel Internetseite. Man sollte berücksichtigen, dass sich die Nutzer auch schon zuvor mit dem Thema oder der Firma auseinandergesetzt haben. In der Wissenschaft spricht man deshalb von Top-Down-Prozessen. Das sind Prozesse, die vom Gehirn auf die Sinne übertragen werden. Das sollte jedes Unter­nehmen berücksichtigen.

Was folgt daraus für Unternehmen?

Scheier: Sie sollten alles auf die Kundenziele hin ausrichten. Wenn ich weiß, welche Ziele meine Kunden verfolgen, kann ich wirklich alles – jeden Text, jede Bildkomposition, jede Broschüre – auf diese Ziele hin prüfen. Ein gutes Prüfinstrument im Marketing ist es beispielsweise, Texte einfach mal wegzulassen, um zu sehen, was das Bild eigentlich kommuniziert. Eine weitere Möglich­keit ist, Milchglas darüber zu legen. Damit kann man simulieren, was das Gehirn über das Auge wirklich wahrnimmt. Denn wir sehen nicht ­alles scharf. Es ist immer nur ein Daumennagel-­großer Bereich, den wir scharf sehen. Alles andere ist erst einmal verschwommen. So sieht es auch der Autopilot. Wenn wir die expliziten Botschaften wegnehmen, dann haben wir auf einmal austauschbare Bilder von Menschen, die sich die Hände schütteln. Oder Sie legen mal das Logo des Wettbewerbers drauf. Wenn das auch funktioniert, sind Sie auch hier austauschbar beziehungsweise Sie kommunizieren die gleichen Ziele wie die Mitbewerber.

Gibt es besondere Merkmale, die ein Unternehmen berücksichtigen sollte, wenn es eine Marke etablieren will?   

Scheier: Es ist sehr wichtig, die Ziele zu definieren, die es adressieren möchte. Hier sollte sich jeder Unternehmer fragen, ob sie relevant genug sind und ob Sie wirklich etwas Neues schaffen. Bei der Umsetzung folgen dann empirische Tests, um festzustellen, ob Sie Vertrauen erwecken. Denn Vertrauen gewinnen Sie in erster Linie, wenn Sie relevant und glaubwürdig sind. Zudem muss sich das Unternehmen von anderen unterscheiden, andere Kundenziele ansprechen. Betrachtet man den Nutzfahrzeugmarkt, dann wird es für neue Unternehmen schwer, eine Marke zu etablieren. Denn wie schon zu Beginn erwähnt: „The winner takes it all.“

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Harry Binhammer, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Harry Binhammer Fachanwalt für Arbeitsrecht
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