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Cargo sous Terrain Schwerverkehr tiefergelegt

Foto: Cargo Sous Terrain

Der Güterverkehr soll in Schweizer Ballungsräumen in den Untergrund wandern. Die Idee für das Konzept stammt aus Deutschland.

Ab in den Tunnel − Cargo sous Terrain (CST) soll automatisiert und flexibel den unterirdischen Transport von Paletten und Behältern ermöglichen. Produktions- und Logistikstandorte werden so mit Ballungsräumen verbunden. Zunächst einmal geht es um einen 70 Kilometer langen Abschnitt im Schweizer Mittelland zwischen Härkingen-Niederbipp und Zürich, der bis 2030 fertig sein soll. Später kann das neue Güterverkehrsnetz weiter ausgebaut werden, in den Innenstädten von umweltschonenden Fahrzeugen ergänzt. Die Kosten für die erste Etappe werden auf umgerechnet 3,2 Milliarden Euro geschätzt.

Die unterirdische Güterröhre ist kein Entwurf aus dem Wolkenkuckucksheim. Eine Studie habe gezeigt, dass CST wirtschaftlich attraktiv sei und somit privatwirtschaftlich finanziert werden könne, sagt Peter Suterlütti, Präsident des CST-Fördervereins. Namhafte Wirtschaftsbosse stehen hinter dem Konzept: Nicolas Perrin von SBB Cargo, Peter Widmer von Rhenus Alpina, Urs Schaeppi von Swisscom, den Einzelhandel vertritt Coop-Chef Joos Sutter. Mit im Förderverein dabei ist auch die Post, die Stadt Zürich und das Schweizer Verkehrsministerium. SBB Cargo suche Innovationen für die Mobilität der Zukunft, sagte Perrin. Der Handel wolle heute die Weichen für gute Lösungen in 15 bis 20 Jahren stellen, sagte Sutter. 

Menschen oberirdisch − Güter unterirdisch

Staus kosten die Schweizer Volkswirtschaft bereits jetzt jedes Jahr umgerechnet weit über eine Milliarde Euro. Der kleine Alpenstaat mit seiner verkehrstechnisch schwierigen Geografie ist eigentlich ein einziger Ballungsraum. CST soll eine Antwort auf das Verkehrswachstum sein, das zwischen 2010 und 2030 bis zu 45 Prozent erreichen könnte. Den Initiatoren schwebt "eine umfassende Veränderung der heutigen Logistikprozesse hin zu mehr Effizienz" vor, unter dem Motto: "Menschen oberirdisch − Güter unterirdisch".

Dietrich Stein, emeritierter Professor für Leitungsbau an der Ruhr-Universität Bochum, eifert diesem Ziel schon seit etwa 20 Jahren nach. Er hat mit einer Forschungsgruppe das CO2-freie Konzept Cargo Cap entwickelt, bei dem Waren mit etwa 36 Stundenkilometern automatisch, computergesteuert unablässig durch unterirdische Fahrrohrleitungen vorwärtsrollen. Der Unternehmer freut sich, dass ein ähnliches Projekt  nun Realität werden könnte − auch wenn er es bedauert, dass er selbst einer Umsetzung der Cargo-Röhre in langen Jahren in Deutschland so gar nicht näher gekommen ist. "Jetzt wird unseren Zauderern und Verhinderern vorgeführt, dass so eine Lösung möglich ist", sagt er. "Ich habe bis heute nicht aufgehört, darum zu kämpfen." 

Das Bochumer System wurde auf einer Modellstrecke jahrelang erprobt, 2015 konnte Stein es bei den Vereinten Nationen in Genf vorstellen. Es kommt mit einer Röhre, eben der Fahrrohrleitung, von nur maximal 2,80 Meter Durchmesser aus − die Schweizer brauchen sechs Meter − und würde in geringer Tiefe beispielsweise Unterhalb der Versorgungsleitungen einer Stadt realisiert. In eine seiner Transportkabinen ("Cap") passen, genau wie bei CST, zwei Paletten. Dank seiner geringen Größe sei Cargo Cap aber wesentlich flexibler und kostengünstiger, erläutert der Ingenieur.

Minimalinvasiv in den Untergrund

Stein ist im Nachbarland kein Unbekannter, aber dort hätten sich die Tunnelbauer durchgesetzt, sagt er. Was Stein vorhat, entspricht dem gängigen Verlegen eines dicken Abwasserrohrs ohne zu graben, im Rohrvortrieb. Eine minimalinvasive Operation sozusagen. "Wie so etwas geht, erleben wird gerade im Ruhrgebiet beim Bau des großen Abwasserkanals Emscher", sagt er. Auch hier werde − über 51 Kilometer − im gleichen Durchmesserbereich gearbeitet. Die Anwohner merkten davon in der Regel nichts. 

"Die Preise haben wir dabei auch im Griff", beton Stein. "Wir wissen, was ein Rohr und was das Verlegen kostet, Stuttgart 21 kann uns nicht passieren." Im Vergleich zu einem Kilometer Autobahnerweiterung im Ballungsraum kostet ein Kilometer Rohrleitung etwa ein Zehntel, schätzt er. Und mit Cargo Cap könnte man zudem Gewerbegebiete abseits von Verkehrsknotenpunkten erschließen.

Im Ruhrgebiet ließe sich laut Stein die erste große Strecke von Dortmund nach Duisburg innerhalb von sechs Jahren fertigstellen. Von dort aus würde dann die weitere Vernetzung aller angrenzenden Städte erfolgen. "Wir können morgen anfangen und weltweit neue Maßstäbe setzen", sagt er. Auch für den wachsenden E-Commerce könnte Cargo Cap die Lösung sein. Denn grundsätzlich wäre auch die Verteilung direkt ins Haus über entsprechende Rohrpostanlagen möglich. Mit kleineren Durchmessern lasse sich praktisch die Küche erreichen. "Die Technik dazu ist da."

Politik beißt nicht an

Dem stünden aber der fehlende Mut der deutschen Politik zur Veränderung und Interessen von Lobbyisten in der Wirtschaft entgegen, kritisiert der Professor. Aus dem nordrhein-westfälischen Verkehrsministerium heißt es jedenfalls leicht genervt: "Dann sollen die Schweizer mal machen." Cargo Cap sei wirtschaftlich unrealistisch und keine adäquate Alternative zum Güterverkehr auf der Straße. "Dabei sagen Vertreter aus der mittleren Etage von Logistikunternehmen hinter vorgehaltener Hand ganz klar, dass sich die Zukunft ohne Cargo Cap oder ein vergleichbares System nicht meistern lässt", hält Stein dagegen. 

Investoren hat er bislang nicht gefunden, aber Rückhalt in der Geschichte. Auch die Eisenbahn habe sich durchgesetzt und die Industrialisierung ermöglicht, und Rudolf Virchow habe im 19. Jahrhundert gegen ungeheure Widerstände doch noch den Bau der Kanalisation in Berlin erreicht. Rückhalt gibt ihm auch eine Studie der Deutschen Post zur "Logistik 2050". Denn sie hat bereits 2012 festgestellt, dass alternative Gütertransportwege gebraucht werden: "Der Einsatz einer unterirdischen Transport-Infrastruktur in Kombination mit Konsolidierungszentren an Stadträndern beziehungsweise -umgebungen könnte hier als Lösungsansatz fungieren, der für den Warenfluss von und in die einzelnen Stadtteile der Ballungsräume sorgt", heißt es darin. 

Die Chancen für eine Umsetzung von Cargo Cap könnten steigen, wenn die Digitalisierung der Wirtschaft voranschreitet. Dann wird zunehmend deutlich werden, dass bei der Automatisierung eine Lücke zwischen Produktion und Vertrieb klafft. Aber Industrie 4.0 ist in der Logistik noch längst nicht überall angekommen. Die Bochumer haben zwar das Patent auf diese Art des dezentral gesteuerten Gütertransports. Für eine deutsche Vorreiterrolle ist es aber über kurz oder lang zu spät. Stein geht es um Nachhaltigkeit und die künftigen Generationen. Da ist ihm jeder Investor recht.

Das Konzept Cargo sous Terrain

In einem Tunnel mit einem Durchmesser von sechs Metern verkehren in 50 Meter Tiefe rund um die Uhr unbemannte Transportfahrzeuge. Auf drei Spuren erreichen sie mit elektrischem Antrieb ein Tempo von 30 Stundenkilometern und können an Rampen oder Lifts automatisch Ladung aufnehmen oder abgeben. An der Decke des Tunnels ist eine dreispurige Paket-Hängebahn vorgesehen, mit der kleinere Güter doppelt so schnell transportiert werden sollen. Die Hubs entlang der Strecke dienen als Schnittstellen zu anderen Verkehrsträgern, dabei soll eine nahtlose IT-Integration in die Geschäftsprozesse der Logistikfirmen erfolgen. Eine Studie habe klare Vorteile gegenüber anderen Transportsystemen in Bezug auf Luftqualität, Lärm, Raumnutzung sowie Gesundheitskosten ergeben.

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
Titel ta 04 2016
trans aktuell 04 / 2016
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