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Autobahnkanzlei Rückwärts aus dem Tunnel

Foto: Leuze electronic

Weil die Höhenmessanlage eines Tunnels Alarm schlug, fuhr Helmut* wieder rückwärts aus dem Autobahntunnel hinaus. Dafür gab’s eine Anzeige.

Es ist 8:10 Uhr. Um 9 Uhr findet das Gerichtsverfahren wegen der Bußgeldsache von Helmut* statt. Ich habe nur noch 20 km zu fahren, stehe aber im Stau. Die Situation ist skurril, um nicht zu sagen, pervers: Ich stehe im Stau vor dem Tunnel, in dem Helmut angeblich eine Vollsperrung verursacht haben soll. Es dauert eine Dreiviertelstunde, bis diesmal die Vollsperrung um 09:00 Uhr aufgehoben wird – eigentlich müsste ich jetzt schon mit Helmut im Gerichtssaal sitzen. Ich habe natürlich versucht, den Richter telefonisch zu informieren. An den war aber kein Rankommen und in den Gerichtssaal verbinden wollte auch keiner. An der Stimme der Geschäftsstellenbeamtin habe ich gemerkt, dass Zuspätkommen bei diesem Richter kein gutes Omen ist.

Um 9:20 Uhr stehe ich schließlich vor dem Saal. Helmut ist völlig aufgelöst. Ich erzähle ihm, dass wir jetzt zumindest eine Erfahrung gemeinsam haben: Wir haben beide eine Vollsperrung des Tunnels erlebt. Der einzige Unterschied ist, dass Helmut diese Vollsperrung durch Auslösung der Höhensensorik selbst verursacht haben soll.

Automatische Vollsperrung durch Rausfahren aufgehoben

Da die Polizei nach geraumer Zeit immer noch nicht auftauchte, ist er – wie die anderen auch – ganz vorsichtig rückwärts aus dem Tunnel rausgefahren. Das führte dazu, dass die automatische Vollsperrung wieder aufgehoben wurde. Die unangenehme Folge der ganzen Angelegenheit: 500 Euro, zwei Punkte und ein Monat Fahrverbot. Dass Helmut das absolut nicht brauchen kann, versteht sich von selbst. Welcher Lkw-Fahrer kommt schon mit einem Monat Fahrverbot klar? Der größte Mist allerdings sind die zwei Punkte, denn Helmut hat leider schon ein paar. Die Nähe zum Führerscheinentzug wird immer kleiner, eine bedrückende Situation. Deswegen ist auch verständlich, dass Helmut richtig Angst vor diesem Termin hat.

Bußgeldverfahren werden öffentlich verhandelt. Ein Gerichtssaal, in dem eine öffentliche Verhandlung stattfindet, darf auch zu jeder Zeit betreten werden. Ich gehe also in den Saal und bin überrascht – keine Verhandlung. Der Richter sitzt und schreibt. Ich stelle mich vor und erkläre ihm, dass ich es ausgesprochen bedaure, wegen einer Vollsperrung auf der Autobahn erst jetzt gekommen zu sein. Der Richter guckt nur kurz hoch und sagt: "Kommen Sie um 14 Uhr wieder." Die nächste Verhandlung ruft er erst um 9:45 Uhr auf, 25 Minuten später. Wenn man bedenkt, dass wir am Nachmittag nur von 14 Uhr bis 14:15 Uhr verhandelt haben, war das im Nachhinein nur Schikane.

Den Polizeibeamten, der in Helmuts Angelegenheit als Zeuge geladen ist, informiere ich darüber, dass die Verhandlung auf 14 Uhr angesetzt ist. Er entschließt sich genauso wie ich zu warten. Helmut kennt in der Nähe des Gerichts ein Café, dort setzen wir uns rein. Der Polizeibeamte, ein sehr höflicher Mensch, fragt, ob er uns begleiten kann. Ich halte das für nicht schädlich. Möglicherweise kommt ja die eine oder andere interessante Information heraus. So ist es dann auch tatsächlich. Der Polizeibeamte erzählt von völlig veralteten Höhensensoren in Tunneln. So sei es auch hier gewesen. Er sei leider erst sehr spät gekommen, den Vorfall selbst habe er nicht mitgekriegt. Er habe eigentlich auch fast gar keine Erinnerung mehr daran. Ich hüte mich davor, den netten und gesprächigen Beamten nach irgendetwas zu fragen, das verbietet sich. Wenn er allerdings freimütig erzählt, dann lass ich ihn gerne reden.

Am Ende der fünfstündigen Zwangspause weiß ich auf jeden Fall, dass er der Meinung ist, Helmut treffe kein Verschulden. Wer die Anzeige gemacht hat, weiß er auch nicht. Es hätte eigentlich über ihn laufen müssen, aber er hätte die Sache gar nicht zur Anzeige gebracht. Irgendein Teil oben am Bagger, den Helmut geladen hatte, soll sich gelöst haben und dadurch etwas zu hoch gewesen sein. Das kann einfach nur irgendein Band gewesen sein, dass durch den Fahrtwind nach oben getragen wurde, aber das weiß er nicht. Helmuts Nerven beruhigen sich auf jeden Fall in diesen fünf Stunden sichtlich. Pünktlich um 14 Uhr sind wir wieder bei Gericht und warten auf den Aufruf.

Rückwärts auf der Autobahn ist die Todsünde jeden Fahrers

Um 14:01 Uhr knarzen die hoffnungslos veralteten Lautsprecher im Gerichtsflur. Auch die Sitzbank vor dem Gerichtssaal macht den Eindruck, als sei sie schon ziemlich aus dem Leim gegangen. Aber das nur am Rande, jetzt heißt es: Auf in den Kampf. Der Richter ist mürrisch. Sein erster Satz: "Ich habe nur zwei Minuten für diesen Termin angesetzt." Das reicht, um eine Einspruchsrücknahme zu erklären. Außerdem weist er gleich mal Helmut zurecht, weil er rückwärts auf der Autobahn gefahren sei. Das sei lebensgefährlich, Todsünde eines Autofahrers!

Ich erkläre, dass Helmut gar keine andere Möglichkeit hatte. Er habe die Autobahn frei machen müssen. Alle anderen Autos seien auch rückwärts rausgefahren, die Polizei sei leider nicht da gewesen. Ich bitte darum, den Polizeibeamten zu hören. Das Gericht ruft den Beamten auf und der erklärt wenige Momente später, dass er auch nichts anderes hätte veranlassen können als das, was Helmut getan hat, nämlich rückwärts rausfahren. Im Übrigen seien die Sensoren völlig veraltet und würden öfter mal spinnen. Es könnte durchaus sein, dass sich irgendwas am Lkw von Helmut gelöst hatte. Was, wisse er allerdings auch nicht. Er wiederholt es noch mal, die Sensoren würden öfter mal spinnen.

Verfahren wird eingestellt

Der Richter guckt mürrisch und fragt, warum der Beamte dies überhaupt zur Anzeige gebracht hätte. Er sagt, er wisse nicht, wer das war, er jedenfalls nicht. Das lässt sich auch der Akte entnehmen, unter der Anzeige steht ein anderes Namenskürzel. Es ist 14:14 Uhr. Ruppig beendet der Richter die Beweisaufnahme. Er erhebt sich, wir stehen ebenfalls auf. Was er verkündet ist kein Urteil, sondern ein Beschluss.

Das Verfahren wird eingestellt. Eigentlich hätte hier ein Freispruch erfolgen müssen. Macht nix, Helmut ging es um die Punkte. Jetzt kann er durchatmen, Mitte nächsten Jahres werden seine Punkte getilgt sein und ein Fahrverbot hat er auch nicht. Helmut ruft sofort seine Frau an, die ausrichten lässt, dass diese Nachricht das schönste Weihnachtsgeschenk sei. Ein Freispruch wäre mir zwar lieber gewesen, aber immerhin: Ziel erreicht.

Kleine Fälle

Verfahrenseinstellung wegen miserablem Tatfoto

Eigentlich ist alles ganz klar: Jens* soll innerorts 18 km/h zu schnell gefahren sein. Sein Chef gibt ihn als Fahrer an. Das Messverfahren ist standardisiert, die Messstelle schon 100 Mal begutachtet worden. Eichscheine sind einwandfrei und nicht zu beanstanden – was auch vorkommt. Also eigentlich alles in Ordnung. Tatsächlich aber stimmt hier für Rechtsanwalt Peter Möller gar nichts. Das Fahrerhaus auf dem Tatfoto ist nämlich so leer wie das von einem Lkw, der auf einem Autohof abgestellt wurde, weil der Fahrer gerade duschen ist – in dem Fahrerhaus ist schlichtweg kein Fahrer zu erkennen. Die Richterin will sich mit Lichtreflexion und Ähnlichem retten. Rechtsanwalt Möller argumentiert, dass die Information darüber, wer gefahren sei, von einer Praktikantin ausgefüllt wurde, die von der Disposition gar keine Ahnung hatte.

Auf jeden Fall ist Jens am fraglichen Tag nicht mit dem Lkw gefahren. Die Polizeibeamtin, die als Zeugin gehört wird, will auf die Fahrpersonaldaten hinweisen. Rechtsanwalt Möller stellt klar, dass diese nach einem Jahr in der Firma nicht mehr existent seien. Außerdem: Dafür, dass dieses Verfahren eineinhalb Jahre gedauert hat, könnte der Betroffene schließlich nichts. Wenn die Behörde und das Gericht schneller gearbeitet hätten, dann wäre der eine Punkte schon fast gelöscht. Die Richterin meckert noch ein bisschen über das miserable Tatfoto und folgt dann Möllers Antrag auf Einstellung des Verfahrens.

AG Dessau-Roßlau Az.: 13 OWi 181/16

Geschwindigkeitsüberschreitung zum Discounterpreis

Wunder gibt es immer wieder! Rechtsanwalt Möller hat sich auf Rolfs* Fall detailliert vorbereitet. Er weiß, die junge Richterin lässt juristisch nichts anbrennen. Rolf soll 17 km/h zu schnell gefahren sein. Das soll ausnahmsweise 100 Euro kosten, weil Rolf schon eine Voreintragung hat. Zusammen mit Messstellenprüfer Ralf Grunert checkt Möller die Lage vor Ort und schaut, ob der Messplatz der Piezorichtlinie entspricht. Es werden Hochglanzprints angefertigt, um nachzuweisen, dass die Messanlage Schwachstellen hat. Formell gibt es auch noch ein paar Argumente, die in den Ring geworfen werden. Nach zehn Minuten engagierten Vortrags von Möller guckt die junge Richterin nach oben und meint, dass sie das alles gar nicht aufklären möchte.

Immerhin ging es doch nur um 30 Euro. Die Voreintragung sei doch mittlerweile getilgt und deswegen gäbe es doch keine Erhöhung des Bußgeldes mehr. Möller blättert im Ergebnis, kommt zu einem anderen Schluss. Aber was soll’s, er wäre ein Narr, wenn er da nicht einschlagen würde. 30 Euro für 17 km/h zu schnell mit dem Lkw! Das ist Geschwindigkeitsüberschreitung zum Discounterpreis. Möller stimmt zu, das Urteil wird verkündet. Ganz schnell Rechtsmittelverzicht erklären – wie gesagt, Wunder gibt es immer wieder.

AG Sondershausen Az.: 1 285 Js 4353/16 4 OWi

Fernfahrertelefon

Rechtsanwalt Peter Möller sitzt am Fernfahrertelefon und steht euch mit Rat und Tat zur Seite. Hier ein Auszug von individuellen Fragen der Kollegen – und die Antworten des Juristen.

Rolf*: Wie lange bleiben meine Punkte jetzt eigentlich im Fahreignungsregister stehen?

Möller: "Da muss man unterscheiden. Punkte, die infolge eines verhängten Regelfahrverbotes ausgesprochen werden, bleiben fünf Jahre. Die normale Tilgungsfrist beträgt 2,5 Jahre. Neueintragungen ziehen Alteintragungen übrigens nicht mehr mit. Trotzdem ist das Eis dünner geworden. Bei acht Punkten ist der Lappen weg."

Romy*: In meinem Bußgeldverfahren soll ein anthropologisches Gutachten gemacht werden. Wird da jetzt mein Kopf vermessen?!

Möller: "Nein Romy, so laufen diese Begutachtungen nicht ab. Der Gutachter wird nur ein paar Fotos von dir fertigen, die von der Kopfhaltung her möglichst derjenigen auf dem Tatfoto ähneln. Danach wird er diverse Einzelmerkmale auf Übereinstimmung untersuchen. Manche Gutachter machen dies im Gerichtssaal, andere Gutachter an ihrem Schreibtisch."

Klaus*: Ich soll zu schnell gefahren sein, es gibt aber kein Tatfoto von mir. Kann ich trotzdem verurteilt werden?

Möller: "Ja, leider. Die Arbeitgeber werden üblicherweise zu Beginn des Bußgeldverfahrens mit einem Zeugenfragebogen befragt, wer der Fahrer war. Die Arbeitgeber geben also den Fahrer und dessen Daten an. Das reicht den meisten Richtern. Wenn man die Fahrereigenschaft des Mandanten dann im Prozess bestreitet, werden die Datenblätter beim Arbeitgeber angefordert. Das soll für die Fahreridentität ausreichen. Ich habe diesbezüglich rechtliche Bedenken. Der Auszug aus der Fahrerkarte belegt ja im Zweifel nur, dass die Fahrerkarte steckte."

*Allen Namen von der Redaktion geändert.

Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
FF 02 2017 Titel
FERNFAHRER 02 / 2017
9. Januar 2017
Dieser Artikel stammt aus diesem Heft
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FERNFAHRER 02 / 2017
9. Januar 2017
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