Autobahnkanzlei: Fahrer vor Gericht Ohrensausen

Stimmen die Ohren überein? Foto: Autobahnkanzlei

Wer einem Bekannten sein Fahrzeug leiht, sollte aufpassen, dass er ihm nicht zu ähnlich sieht. Sonst könnte es eine böse Überraschung geben – wie im vorliegenden Fall von Uwe.

Uwe* ist ein Lkw-Fahrer aus Weimar. Der 54-Jährige will es noch einmal wissen. Er macht sich selbstständig. In zwei Wochen kommt sein funkelnagelneuer Actros. Er hat für seinen zukünftigen Arbeitsplatz tief in die Tasche gegriffen. Sein Chef hört auf. Uwe kann einen Teil der Kunden übernehmen. Die kennen ihn und wollen ihn – beste Voraussetzungen. Ein Riesenloch gibt es gleich zu Beginn, Uwe muss die Groschen zusammenhalten. Am Anfang, das weiß er, bleibt eigentlich nichts übrig. Einen Fahrer kann er sich nicht leisten, daran ist nicht zu denken. Aber es sieht so aus, als müsste er jetzt doch einen einstellen.

Uwe hat einen gelben Brief bekommen, einen Bußgeldbescheid. Der ist für Uwe ein Horrorpamphlet: einen Monat Fahrverbot und drei Punkte. Das geht gar nicht. Den Anhörungsbogen hat Uwe auch erhalten. Den hat Freundin Susanne aus dem Briefkasten gefischt und gleich darauf geantwortet. Sie hat einen Bekannten als Fahrer angegeben. War sich sicher, dass der zur fraglichen Zeit mit dem Auto gefahren ist. Es geht hier nämlich nicht um einen Verstoß mit dem Laster, sondern mit dem Pkw.

Verwirrung um den ähnlichen Bekannten

Wir sitzen zu dritt am Tisch. Die Verhandlung soll in 14 Tagen stattfinden – einen Tag vor der Firmeneröffnung. Die Bilder liegen auf dem Tisch. Von Uwe brauchen wir keines, der sitzt am Tisch. Ich streife mit meinen Augen von einem Foto zum anderen. Ja, der Bekannte hat schon eine Ähnlichkeit. Ja, der kann es sein. Uwe sieht dem Fahrer auf dem Bild wirklich verdammt ähnlich. Ich schlucke die Erkenntnis runter. Uwe ist mit seinen Nerven ohnehin am Ende. Ich will ihm den Mut nicht nehmen. Und schließlich weiß ich: Es gibt immer eine Chance. Bußgeldverfahren sind nichts Statisches. Es kommt nicht zwingend auf die Rechtslage an. Es kommt darauf an, so auf den Richter einzuwirken, dass er "eine Ahndung nicht für geboten hält". Dieses "nicht für geboten halten", das ist ein Teich voller Gefühlsschmalz. Den muss man füllen. Der Richter muss rein emotional auf unsere Seite gebracht werden.

Aber das ist nicht so einfach. Das Verfahren läuft schon seit einem Jahr. Der Richter hat einen uralten Registerausdruck und weiß, dass Uwe kein unbescholtenes Blatt ist. Er weiß, dass Uwes Punkte in der Überliegefrist sind. Er weiß, dass die nicht mehr verwertbar sind. Aber emotional spielen sie trotzdem eine Rolle. Ein Verzicht auf das Fahrverbot wird unter diesen Voraussetzungen schwierig. Fahrverbotsverzichte gibt es regelmäßig nur für weiße Westen. Wer schwarze Punkte auf dem Konto hat, für den wird es eher schwierig. Wir kommen vom Hundertsten ins Tausendste. Wir reden über diese unsägliche Ungerechtigkeit, dass Sonntagsfahrer genauso wie Berufsfahrer behandelt werden. Das Risiko eines Berufsfahrers ist ungleich größer. Das gilt insbesondere zu Zeiten, in denen blöde Machtspielchen wie "Tage des Blitzers" zur Verniedlichung einer mittlerweile zum Geldgeschäft mutierten Verkehrssicherheitsmaßnahme dienen.

Vorbereitendes Gespräch mit dem Richter

Doch genug. Wir müssen den Termin vorbereiten. Uwe wäre froh, er hätte ihn schon hinter sich. Er muss noch so viel vorbereiten für die Selbstständigkeit. Die Uhr tickt und er kann sich nicht richtig konzentrieren mit diesem Bußgeldverfahren im Rücken. Ich schlage vor, dass ich mit dem Richter ein vorbereitendes Gespräch führe. Ich will zu ihm hinfahren und die Chancen ausloten. Ich möchte den Richter schon ein bisschen impfen für den Termin. Gesagt, getan. Von Uwes Hof aus rufe ich Richter L. an. Er meint, es wäre günstig, gleich vorbeizukommen. Ab morgen sei er für drei Tage nicht im Dienst. Also nichts wie hin.

Richter L. raucht Pfeife. Er ist ein gemütlicher Typ. Wir plaudern über den Fall. Die Stimmung ist locker. Er versteht, wie wichtig der Ausgang für Uwe ist. Mehr will ich gar nicht erreichen. Er soll uns gegenüber nur positiv gestimmt sein. Alles andere muss die Verhandlung klären. Ich erzähle, dass Uwe noch nie vor Gericht gestanden habe und sehr aufgeregt sei. Richter L. regt an, die Sache dann doch ganz schnell hinter sich zu bringen. Nächste Woche sei ich doch auch bei ihm. Danach habe er eine Verhandlungs­lücke, da könnte er das einschieben. Ich bedanke mich für das Angebot. Das würde Uwe eine Woche vor der Eröffnung einen klaren Kopf geben.

Ist das der richtige Termin?

Ich fahre wieder zu Uwe. Wir sitzen wieder zu dritt zusammen. Uwe will es hinter sich bringen. Ich möchte Richter L. gerade anrufen und ihm sagen, dass wir gerne in der folgenden Woche verhandeln würden. Da packen mich Zweifel. In zwei Wochen verhandle ich eigentlich den Fall von Uwe und keinen anderen. In einer Woche habe ich Hendrik zu verhandeln. Das Verfahren von Hendrik ist uralt. Fast zwei Jahre, kurz vor der Verjährung. Die Chancen in Hendriks Verfahren stehen gut. Wenn der Richter dieses Verfahren gut für uns beendet, wird er ein zweites direkt im Anschluss nicht noch mal positiv schließen lassen.

Ich denke drüber nach. Ich bin unsicher. Nein, das Risiko will ich nicht eingehen. Ich rufe den Richter an, teile ihm mit, dass alles so bleiben soll. Nächste Woche Hendrik, übernächste Woche Uwe. Ich erkläre Uwe und Susanne, warum ich das so mache. Die wundern sich etwas, begreifen aber: Psychologie ist genauso wichtig und bedeutend für den Ausgang eines Verfahrens wie die Rechtslage.

Richter analysiert Foto und Angeklagten

Hendriks Fall wird dann auch positiv beendet. Eine Woche später ist Uwe dran. Der hat sich in seinen feinen Zwirn geworfen. Richter lieben es, wenn man ihnen Respekt zollt. Uwe sitzt respektvoll gerade. Über all das haben wir gesprochen. Das gehört mit zum Schauspiel. Der Richter bittet uns, zur Sache auszusagen: "Nun, Herr Richter, da gibt es nicht viel. Mein Mandant hat Probleme damit, zu etwas auszusagen, was er nicht kennt. Die Fahrt war an einem Samstag. Uwe war morgens in Hamburg. Er fuhr nachmittags zurück. Er war nicht am Tatort. Unmöglich. Deswegen kann er auch nichts sagen." "Aber, wie bitte?", meint der Richter. "Ich erkenne Sie doch." "Das kann nicht sein", erwidere ich, "unmöglich". Ich habe Fotos von Uwe gemacht.

Uwe trägt seit Jahren keine Brille. Uwe ist Kontaktlinsenträger. Ich reiche die drei Jahre alte Rechnung von Fielmann zur Akte. Der Richter ist skeptisch. Ich weise darauf hin, dass es verteufelt schwer ist, zu beweisen, dass man etwas nicht getan hat. Der Richter möchte bitte das rechte Ohr meines Mandanten anschauen und mit dem rechten Ohr des Fahrers auf dem Aktenfoto vergleichen. Das rechte Ohr des Fahrers steht ab. Bei Uwe liegt das rechte Ohr glatt an. Ohren seien stark individuelle Merkmale. Der Unterschied am Ohr würde eine Identität ausschließen. Die Nase meines Mandanten sei normal gewachsen. Der Fahrer hingegen habe einen Riesenzinken im Gesicht. Die Nase sei also ganz anders. Das Kinn des Fahrers weise eine Einbuchtung auf, das Kinn von Uwe sei gerade. Nein, meint der Richter, Kinn und Nase seien identisch. Die Ohren machten ihm Bauchschmerzen. Ich erkläre, davon würden wir ihn gerne befreien. "Ein Freispruch oder eine Einstellung seien das gerechte Ergebnis und gut gegen die Bauchschmerzen."

Das Ohr entscheidet

Der Richter schaut zunächst fragend seine Schreibkraft an. Er bittet Uwe, nochmals in Position zu rücken. Er vergleicht das Ohr. Der Blick geht vom Foto zu Uwe, von Uwe zum Foto, vom Foto zu Uwe – hin und her. Er schaut seine Gerichtsschreiberin an, er nickt ihr zu. Sie weiß, was er will. Sie sind ein eingespieltes Team. Sie greift in den Leitzordner und fischt ein Formular in der Mitte heraus. Er schreibt wenig. Ich weiß, was das heißt. Ich nicke Uwe zu. Der Richter schaut uns an. "Ich hoffe, ich mache hier keinen Fehler. Aber ich habe Zweifel. Das Ohr eben. Ich stelle ein."

Wir feiern am Abend bei Uwe noch ein wenig die Firmeneröffnung. Am Samstagmorgen werde ich etwas verkatert wach. In meinen Träumen ging es permanent hin und her. Foto – Ohr, Foto – Freispruch, Verurteilung – Freispruch. Eine Woche vorher, glaube ich, hätte das Ganze nicht geklappt.

*Name geändert

Gesicht vor Gericht

In vielen Verfahren, in denen es um die Fahreridentität geht, werden durch die Gerichte sogenannte anthropologische Gutachten eingeholt. Die Gutachten vergleichen eine Vielzahl einzelner Gesichtsmerkmale und kommen am Ende – abhängig von Häufigkeit oder Seltenheit der übereinstimmenden und nicht übereinstimmenden Merkmale – zu einer Einstufung. Die lautet dann: "Identität sehr wahrscheinlich, wahrscheinlich oder unwahrscheinlich."

Manche Richter, so wie im beschriebenen Fall, vertrauen der Aussage dieser Sachverständigen nicht. Sie machen sich ein eigenes Bild. Tatsächlich soll es auch schon Fälle gegeben haben, in denen Sachverständige auf diesem Gebiet nachweislich danebengelegen haben. In Deutschland existieren nur ein paar Hände voll Sachverständiger, die sich mit dieser Art vergleichender Humanbiologie befassen. Für Lkw-Fahrer spielt dieses Thema eigentlich nur im privaten Bereich eine Rolle. Ihre Identifizierung erfolgt nämlich regelmäßig mittels der Fahrerkarte. Das ist ärgerlich. Die Fotos sind oft schlecht. Die Fahrerkarte ist auch kein Beweis dafür, dass eine Person wirklich gefahren ist. Aber tagein, tagaus reicht das den deutschen Gerichten aus. Dabei beweist sie nur, wessen Karte steckte.

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