Autobahnkanzlei - "Fahrer vor Gericht" Überholt und eingebremst

Autobahnkanzlei - Fahrer vor Gericht Foto: Johannes Hauck

Ein Pkw-Fahrer beschert Michael ein Abstandsvergehen, das eigentlich keines war. Nach anderthalb ­Jahren und drei Gerichtsverhandlungen bekommt er endlich recht.

Im November 2011 fährt Michael gelassen auf der A 71 auf einen Tunnel zu. Er lenkt einen Silozug. Seine Ladung: Tomatenpampe. Prallwände hat das Silo nicht. Michael fährt vorsichtig. Im Radio wird wieder mal über Ramsauers neue Punkteideen diskutiert. Michael wechselt den Sender. Punkte sind nicht sein Thema. Er ist sich sicher: Wer aufpasst, bekommt auch keine. Noch 500 Meter ist Michael von der berühmt berüchtigten Abstandsmessstelle Gräfenroda entfernt.

Kein Problem – die kennt er. Er hält den Abstand stets genau ein. Jetzt passiert Michael das Radarfallenschild. Er fährt genau 80 km/h. Es sind noch 400 Meter bis zur Messbrücke. Plötzlich saust ein weißer Pkw an ihm vorbei. Michael denkt: "Der Idiot wird sicher gleich geblitzt." Noch 350 Meter bis zur Messstelle. Der Idiot setzt sich vor ihn, ganz knapp, und steigt auch noch in die Bremsen. "Hey, mein Abstand!", ruft Michael stinksauer. Noch 300 Meter bis zur Messstelle.

Jetzt hat er vielleicht zehn Meter Abstand bis zum vorausfahrenden Pkw. Beide passieren die Rechtskurve, bevor es in die videoüberwachte Strecke geht. Michael betätigt verärgert die Lichthupe und geht vom Gas. Vorsichtig reduziert er das Tempo. Hilft aber nichts. Der Autofahrer macht dasselbe, er will auf Nummer sicher gehen. Noch 200 Meter bis zur Messstelle. Michael ist sauer. Die Beobachtungskamera läuft. Jetzt kann der Staat sogar erkennen, welchen Belag Michaels Butterstulle hat. Die Geschwindigkeit von beiden pendelt sich bei 77 km/h ein. Michael geht schließlich auf 75 runter.

Sekunden später ist der Pkw auf und davon

Er hat kein schlechtes Gewissen. Er weiß, dass er nichts dafür kann, und er weiß auch, was in 100 Metern direkt nach der Messstelle passieren wird. Der Pkw wird beschleunigen und ihn aus der Zwangslage befreien. Genau so kommt es Sekunden später. Nur ein paar Meter hinter der Messbrücke gibt der Pkw-Fahrer Gas und saust mit Karacho in den Tunnel. So ist das eben: gutes Benehmen, solange man beobachtet wird – und wenn die Polizei nicht mehr schaut, die Sau rauslassen. So etwas hasst Michael. Er dreht am Radio und erwischt wieder Ramsauers Diskussion. Ihm wird ein bisschen flau im Magen, weil er merkt, dass das mit den Punkten jetzt sein Thema sein könnte.

Ein paar Wochen später in der Behördenzentrale: Eine Auswerteeinheit hat das Video begutachtet und das Übliche festgestellt. Zwei Fahrzeuge nähern sich der Messanlage. Das hintere – Michaels Sattelzug – fährt viel zu dicht auf. Klarer Fall, mehr interessiert nicht. Um Michaels verletzten Stolz und sein jahrzehntelanges, akkurates Fahren schert sich in der Behörde niemand. Maschinell ergeht der Bußgeldbescheid. Wer sich beschweren will, kann ja Einspruch einlegen. Und genau das tun wir für Michael.

Wochen später kommt die Gerichtsladung ins Haus

Fast drei Monate sind vergangen. Wenn Michael am Autohof mit Freunden zusammensitzt, dann ist er etwas kleinlaut geworden, speziell wenn es um Punkte geht. Michael möchte gerne wissen, was denn wäre, wenn er die Punkte einfährt. Ist das dann schon ein 3/8-Berufsverbot? Es ist Februar 2012. Ein konkreter Gesetzesentwurf zur 8-Punkte­Regel liegt noch nicht vor. Ich kann Michael die Frage nicht beantworten. Die Diskussion um die Punktereform sorgt für Magenschmerzen, nicht nur bei Michael.

Mittlerweile liegt die Ladung zum Gericht vor. Ich erkläre dem Richter die Abstandsfalle. Die Mehrheit (Pkw) wird geschützt, die Minderheit (Lkw) lässt man ins offene Messer laufen. Ein blödes Spiel. Der Richter will es nicht glauben. Wir schauen uns das Tatvideo an. Das beginnt hinter der Kurve. Ich erkläre, man könne noch sehen, dass der Pkw in der Rechtsbewegung am Ende des Überholvorganges sei. Der Richter sieht nichts. Also muss eine Fotoanalyse her. Ich beantrage ein entsprechendes Gutachten durch die Uni Berlin zum Beweis der Tatsache, dass der Pkw kurz vor der Messstelle rechts eingeschert ist. Der Richter folgt dem Antrag. Zeit gewonnen. Wir können die Verteidigung noch einmal überdenken.

Gutachten ohne großen Sinn

Acht Monate später flattert ein Gutachten ins Haus. Das hat nichts mit Fotoanalyse zu tun. Das ist ein messtechnisches Gutachten, das an der Kernfrage voll vorbeisegelt. Im Gutachten heißt es: "Es steht außer Frage, dass der betroffene Lkw-Fahrer auf der Wegstrecke von 300 Metern den Abstand hätte aufbauen können." Begründet wird diese Parole nicht. Das ist kein Gutachten.

Im zweiten Verhandlungstermin sitzt mir der Gutachter gegenüber. Michael ist lieber zu Hause geblieben. Er hat Urlaub, den will er sich nicht versauen lassen. Ich bitte den Sachverständigen, seine kühne Aussage zu begründen. "Na, das weiß doch jeder. Verzögerung um ein Meter pro Sekunde im Quadrat", erklärt er von oben herab. Ich frage die Richterin, ob sie weiß, was ein Meter pro Sekunde im Quadrat bedeutet. Sie schüttelt den Kopf. Ich schaue den Sachverständigen an. "Die Richterin und ich, wir wissen es nicht. Bitte erklären Sie."

Physikstunde vom Gutachter

Eine gefühlte Ewigkeit lang kommt nichts Konkretes. Ich werde bald wahnsinnig. Schließlich haut er einen Klopfer raus: Ein Lkw mit normaler Ladung würde bei Tempo 80 in 20 Sekunden stehen, wenn der Fahrer nur vom Gas ginge. Auf Nachfrage räumt er ein, dass die maximale denkbare Geschwindigkeit nach 20 Sekunden bei 8 km/h liegen könne. Ich bitte die Richterin um Unterbrechung, springe die Stufen runter und bitte meinen Mitarbeiter Ralf Grunert, der im Auto sitzt, mir schnell die Telefonnummer von Mike Martini zu geben (siehe FERNFAHRER 9/2013, S. 55).

Mike startet einen Fahrer-Rundruf. Nach eine paar Minuten trudeln die ersten Ergebnisse von spontanen Tests ein: Die Lkw verlangsamten ihre Geschwindigkeit auf maximal 60 km/h. Ich diktiere schnell einen Antrag auf Einholung eines weiteren Gutachtens. Die Richterin weist darauf hin, dass der Sachverständige nicht gegen Denkgesetze verstoßen habe. Ich tobe innerlich und will das Video noch einmal sehen. Mürrisch stimmt das Gericht zu. Ich erkläre, dass hinter meinem Mandanten ein anderes Fahrzeug ganz dicht aufgefahren sei. Das könne man nicht sehen. Der Lkw würde die Sicht verdecken. Jetzt gilt es, die Verhandlung ohne Urteil in die nächste Sitzung zu retten. Ich muss bluffen und behaupte, ein Heckvideo laufe im Lkw meines Mandanten mit. Die Richterin ist völlig genervt, beendet die Sitzung für heute und setzt einen neuen Termin in drei Wochen an.

Verhandlung fürs Erste vertagt

Ich kündige an, das Heckvideo beizubringen – was mir natürlich nicht gelingen wird. Aber neuer Termin, neue Chance. Mittlerweile liegt übrigens nicht nur ein Gesetzesentwurf zum neuen Punktesystem vor. Er hat auch den Weg zum Vermittlungsausschuss gefunden. Michael kann jetzt beruhigt werden. Gäbe es drei Punkte, würden sie in einen Punkt umgerechnet. Aber endgültig ist noch nichts.

Drei Wochen später: Das Verfahren lässt mir keine Ruhe. Jeden Tag denke ich an diese linke Messstelle. Der Termin ist morgens um neun. Nachts bastele ich noch an einem Schriftsatz. Ich beantrage dreierlei: 1. Ich will die vorherige Bußgeldrichterin im Zeugenstand haben. Die kann nämlich bestätigen, dass zu ihrer Zeit so gut wie keine Lkw-gegen-Pkw-Abstandsverfahren verhandelt wurden. Die gibt es nämlich erst seit dem Radarfallen-Hinweisschild und das wurde nach ihrer Amtszeit aufgestellt. 2. Ich beantrage eine Analyse der Bußgeldakten bei der zentralen Bußgeldstelle in Artern zum Beweis der Tatsache, dass erst seit dem Zeitpunkt des Aufstellens des Hinweisschildes Delikte solcher Art vorkommen. 3. Ich beantrage einen Ortstermin auf der Böschung neben der Autobahn vor dem Tunnel, damit das Gericht selbst sieht, wie diese Abstandsvergehen durch Pkw-Fahrer entstehen. Außerdem lege ich ein Video vor. Das Video ist von der Böschung aus gedreht. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem Vox-Film aus der Sendung "Automobile". Die Richterin ist zum ersten Mal in diesem Prozess beeindruckt. Der Film zeigt, wie sich abbremsende Pkw vor Lkw setzen.

Geldbuße als Kompromiss

Nach ungefähr einer Stunde heftiger Diskussion lenkt die Richterin ein. Vielleicht müsse man dieser Messstelle wirklich tiefer auf den Grund gehen. Aber nicht in diesem Fall. Hier nämlich könne sie nicht ausschließen, dass ein Fahrzeug direkt hinter meinem Mandanten fuhr und er deswegen nicht bremsen konnte. Die Richterin schlägt als Kompromisslösung 35 Euro vor. Gesagt getan. Groggy rufe ich Michael an. Sieben Verhandlungsstunden, unendlich viele Anträge, viel Streit, aber am Ende das, was Michael wollte. Er bleibt punktefrei. Aber bitte, Michael, merk dir: Es gibt sie wirklich, die Punktefallen. Gräfenroda gehört dazu – noch. Wir kämpfen dagegen und ich glaube, wir schaffen das.

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